Liebe Freundinnen und Freunde,

auch wenn es unangenehm ist: Ich muss mit dem Eingeständnis eines Fehlers beginnen. "Die Verwirklichung des Menschenrechts auf Gesundheit steht noch aus" hatten wir in der Einladung für die heutige Konferenz als Thema meines Beitrages formuliert.

Nun kann es kein Recht auf Gesundheit geben. Krankheit ist Teil des Menschseins und eine Gesellschaft, die Krankheit völlig ausmerzen wollte, müsste bald beginnen, die Kranken selbst zu beseitigen — wie es einige Zungenschläge zum Umgang mit Menschen am Beginn und am Ende ihres Lebens schon heute nahe legen.

Wer — wie vor einigen Monaten ein führender Mitarbeiter von Bayer im Fernsehinterview — behauptet, in einer oder zwei Generationen sei Krankheit generell besiegt und Menschen würden an allem Möglichen sterben, aber nicht mehr an Krankheiten, zeigt vor allem eines: dass er nicht die Menschlichkeit der Menschen im Kopf hat sondern die Allmacht von Forschung und Firmen. Solche Phantasien machen mir Angst.

Uns geht es also nicht um ein Idealbild unendlicher Gesundheit, gentechnisch produziert und pharmakologisch garantiert, uns geht es um Hilfe und Zuwendung bei Krankheit. Uns geht es um gesunde Lebensbedingungen. Uns geht es um gute Lebensmöglichkeiten überhaupt, für alle und weltweit.

Und da muss man — auch und gerade wenn dies hier eine Gesundheitskonferenz ist — zuallererst feststellen: Was nützte ein noch so umfassendes Gesundheitswesen, wenn das Leben selbst nicht garantiert ist? Was nützten gutgemeinte Projekte und Pläne, wenn wir in einer Welt leben, in der die Mächtigen ihre Interessen mit Gewalt, Terror und Krieg durchsetzen?

Was ist das für eine Lüge, die vom schlanken Staat redet und Milliarden und Abermilliarden für Repression und Kontrolle, für Militär und Vernichtung ausgibt? Was das betrifft, was Krieg und Gewalt angeht, da wünschen wir uns wirklich einen schlanken, einen extrem zurückhaltenden Staat!

Damit nicht nur Geld, sondern vor allem auch Phantasie und Kraft, Intelligenz und Mut frei werden, um die wirklich wichtigen Dinge zu regeln, eben z.B. den Zugang aller zu einer umfassenden Gesundheitsversorgung.

Um auch das von vorneherein klar zu stellen: Wenn ich alle sage, meine ich alle: Es ist ein menschenrechtlicher und politischer Skandal ohnegleichen, dass es in diesem Land Bevölkerungsgruppen gibt, deren Recht auf medizinische Versorgung nur extrem eingeschränkt gilt.

Die Berliner Flüchtlingshilfe wird gleich im Anschluss an diesen Beitrag darüber berichten.

Es kann und darf keine Bedeutung haben, welchen Rechtsstatus ein Mensch in diesem Land hat: Wer ärztliche Beratung und Hilfe braucht, muss sie erhalten, umfassend und ohne Nachteile befürchten zu müssen!

Das ist in der Tat ein Menschenrecht. Das wird kaum jemand bestreiten; aber wie das mit Rechten so ist, sie sind nicht viel wert, wenn man keinen Gebrauch davon machen kann. So haben wir alle das Recht zu fliegen, aber kaum jemand nützt es, außer vielleicht der eine oder andere Politiker, wenn er von Dingen redet, von denen er nichts versteht und dann abhebt.

Zwischen das Menschenrecht auf medizinische Versorgung und die Wahrnehmung desselben hat die Politik weltweit meistens einen Preis gesetzt, einen Preis im wortwörtlichen Sinne, den viele Menschen nicht bezahlen können, auch wenn er manchmal nur ein paar Dollar beträgt.

Und das soll die Regel werden. Im Rahmen der letzten Versammlung der Welthandelsorganisation einigte man sich auf eine neue Verhandlungsrunde, in deren Verlauf weitere Dienstleistungen den WTO-Regeln unterworfen werden sollen. Das betrifft — neben Bildung und Trinkwasserversorgung - vor allem auch die Gesundheit.

Hier wird der weltweite Markt auf jährlich bis zu 3,5 Billionen Dollar geschätzt. Darauf richten sich die Begehrlichkeiten. Riesige Summen suchen weltweit profitable Anlage. Mit jedem Privatisierungsschritt verstärkt sich dieses Problem.

Eine Öffnung der nationalen Märkte für private Investoren stellte die öffentlichen Versorgungssysteme in Frage. Unter dem Zwang der kapitalistischen Globalisierung, unter dem Druck der internationalen Konkurrenz wären selbst kommunal oder freisozial getragene Krankenhäuser zu einem marktkonformen Verhalten gezwungen, d.h. Spezialisierung, Lohndrückerei, Abbau unwirtschaftlicher Angebote.

In Chile etwa, dem ersten Land, in dem neoliberale Ökonomen Renten- und Gesundheitssystem 1981 unter der Militärdiktatur nach ihren Vorstellungen umbauten, können nur weniger als die Hälfte der Beschäftigten sich einen privaten Krankenversicherungsvertrag leisten — dafür können sie aber zwischen mehreren hundert verschiedener Policen wählen, so dass sie meist nicht wissen, was sie unterschrieben haben.

Kann es ein Zufall sein, dass die CDU, die damals schon das Stadion von Santiago, in dem die Diktatur ihre Gefangenen einsperrte, einen angenehmen Platz zum Leben fand — zumindest bei Sonne — heute wieder von Chile lernen will und den Versicherten hier demnächst eine umfassende Wahlfreiheit von Tarifen verspricht?

Ganz im Ernst: Junge Frauen sind praktisch nicht versicherbar (weil sie schwanger und damit teuer werden könnten), alte Menschen schon gar nicht — nur 4% der Rentner in Chile sind privat versichert. Bei den Ärmsten — immerhin über 50% - soll ohnehin der Staat helfen, wie der Vorsitzende des Privatversichererverbandes, ein Herr Merino, freimütig erklärte.

Dass diese Leute sich einen Dreck um ihre eigenen lauthals verkündeten Ideologien zum Thema schlanker Staat, Konkurrenz, etc. scheren, konnten wir vor zwei Wochen ja auch hier in beispielhafter Klarheit bewundern. Die Pharmaindustrie machte sich zur Wortführerin der Kritik an der aut-idem-Regelung.

Diese besagt, dass Apotheken billigere Präparate mit dem gleichen Wirkstoff abgeben sollen, wenn Arzt/Ärztin nicht ausdrücklich anders bestimmt haben. Es wird also lediglich getan, was sonst seitens Industrie und Politik immer gefordert wird: Es wird Konkurrenz geschaffen unter den verschiedenen Anbietern.

Und schon verteidigen sie laut feixend ihre Monopolprofite! Wirklich ein erbauliches Schauspiel, wüsste man nicht, dass sich hier die Pharma-Haie auf der Jagd nach den Patienten-Opfern verbünden.

Ich will nicht missverstanden werden: So schädlich private Monopole sind, Konkurrenz ist das falsche Steuerungsprinzip in der Daseinsvorsorge. Menschen haben qua ihrer Existenz ein Recht auf Teilhabe an den gesellschaftlichen Möglichkeiten, auf Ernährung, Gesundheitsversorgung, Alterssicherung.

Im Gesundheitssystem hat Konkurrenz fatale Folgen. Es konkurrieren die Leistungsanbieter, etwa Ärzte oder Krankenhäuser, und es kaufen die Kunden — das sind nicht die Versicherten, sondern die Versicherungen. Die Versicherten sind das Material, um das konkurriert wird.

Nebenbei, wäre es anders, wäre es auch nicht besser: Versicherte, Kranke befinden sich gegenüber Arzt oder Krankenhaus in einer strukturell ungleichen Situation; sie können nicht souverän kaufen oder es bleiben lassen wie bei einem Pfund Kaffee, sondern sind auf Rat und Hilfe angewiesen.

Eben deshalb sagen wir ja auch, dass Gesundheit, Gesundheitsversorgung keine Ware sein kann und PatientInnen keine Kunden.

Nun sind die Kunden aber die Versicherungen. Sie kaufen die Gesundheitsdienstleistungen. Und da sie knapp bei Kasse sind, sind sie immer versucht, möglichst billig zu kaufen. Und gegenüber den Versicherten gilt das Gleiche, auch da haben die Kassen lieber billige, also junge, gesunde, gut verdienende als teure.

Da helfen auch Risikostrukturausgleiche und alle anderen halbherzigen Kontrollmechanismen nicht, das ganze System ist falsch.

Generell setzt Konkurrenz unsinnige Spiralen in Gang: Innerhalb des Krankenhauses werden die Beschäftigten über Kostenvergleiche gegeneinander gehetzt. Scheint es nach Ausgliederung von Wäscherei, Küche, Putzdienst — auch in öffentlichen Kliniken längst die Regel — noch so, als könne die Kostenentlastung den verbliebenen Beschäftigten nützen, so wirkt der Druck schon bald auf die nächstungünstigsten Kostenstellen.

Wer den Klinikbetrieb vorrangig unter dem Kostengesichtspunkt betrachtet, verliert den Blick für die endliche Belastbarkeit der Beschäftigten ebenso wie für die bestmögliche Versorgung der PatientInnen.

Es soll gar nicht geleugnet werden, dass es im Krankenhausbetrieb, im Gesundheitswesen generell, falsche und ärgerliche Abläufe gibt. Es ist nicht einzusehen, dass Gelder von Versicherten unsinnig ausgegeben werden.

PatientInnen wollen nicht unnötig behandelt werden, bloß weil Chefärzte daran verdienen oder Pharmafirmen ihre Medikamente testen wollen. Aber gesundheitlicher Nutzen, menschliche Würde, medizinischer Bedarf lassen sich nicht mit ökonomischen Kriterien wie Effizienz, Kostenbewusstsein, Wirtschaftlichkeit erfassen oder gar steuern.

Auffälligerweise wird aus der Kostendiskussion ein Bereich immer ausgespart, der tatsächlich problematisch ist: Die Bevölkerungsgruppen mit den höchsten Einkommen lassen sich ihre Gesundheit nicht nur mit Abstand am meisten kosten, sie haben auch ihr eigenes privates Versicherungssystem.

Sie tragen nichts zur solidarischen Gesundheitsversorgung bei, obwohl es ihnen am leichtesten fiele. Kapitaleinkünfte, Unternehmensgewinne, aber auch hohe Arbeitseinkommen werden zur Finanzierung des gesetzlichen Systems bisher nicht herangezogen.

Man muss sich das mal vorstellen: Alle müssten bis zu einem Betrag von sagen wir mal 4500 Euro monatlich Steuern bezahlen, und zwar vom ersten Cent an, und darüber hinaus dürfte man zwar noch was spenden, wäre aber steuerfrei. Was für ein Irrsinn!

Die Beitragsbemessungsgrenze muss weg!
Die Pflichtversicherungsgrenze muss weg!
Wir brauchen keine privaten Krankenkassen!

Liebe Freundinnen und Freunde,

nicht nur lassen sich wohlhabende Haushalte ihre Gesundheit viel, arme dagegen wenig kosten; Arme sind — auch deshalb weil sie arm sind — auch viel häufiger krank. Alle diesbezüglichen Studien zeigen: Armut ist ein Gesundheitsrisiko! Ebenso übrigens wie Arbeit: Schlechte, unbefriedigende Arbeitsbedingungen sind ein Gesundheitsrisiko.

Wenn Ministerin Schmidt davon redet, dass "Prävention ein Leitbild (ihrer) Gesundheitspolitik werden" soll, so ist zwar wenig gegen einen Anti-Raucher-Kurs einzuwenden — auch wenn zu befürchten steht, dass hier der Einstieg in weitere Risikoauslagerungen und Selbstbeteiligungen vorbereitet wird — aber wer wirklich Krankheit vorbeugen will, soll vernünftige, stressfreie Arbeitsbedingungen schaffen und Armut beseitigen. Das wäre wahrlich eine Aufgabe!

Überhaupt, Frau Schmidt! Ich war gestern vor einer Woche im Gesundheitsministerium zu einem Gespräch; die hatten darum gebeten. Es kam die Leiterin des Leitungsstabes und zwei Abteilungsleiter aus demselben. Also, man nimmt uns ernst.

Die Dame und die Herren erklärten mir sozialdemokratische Gesundheitspolitik. Ja wollten sie Wettbewerb, Konkurrenz, aber "solidarischen Wettbewerb", einen um Qualität. Wie man Geld einsetzt, damit um Qualität konkurriert wird, sagten sie nicht.

Wohl wollten sie Eigenverantwortung, aber für die eigene Gesundheitsprävention, nicht mit finanzieller Eigenbeteiligung. Aber was ist mit dem Satz, der da beginnt: "Du bist für deine Gesundheit selbst verantwortlich..." wenn‘s damit nicht klappt? Könnte er dann komplett nicht so lauten: "Du bist für deine Gesundheit selbst verantwortlich...also musst du auch selbst die Konsequenzen tragen!"

Wohl wollten sie den Erhalt der paritätischen Finanzierung, aber weder sagten sie, wie schon vorhandene Disparitäten beseitigt werden sollten, noch, wie dem Druck der Arbeitgeber zu wiederstehen sei, die eine Begrenzung ihres Anteils auf 6% fordern: "Die machen nicht die Gesetze." Mit Verlaub, da habe ich meine Zweifel!

Ich könnte das fortsetzen, aber ich will euch nicht langweilen. Nein, sozialdemokratische Gesundheitspolitik, grüne Gesundheitspolitik haben in den vergangenen vier Jahren keinen Anlass zur Freude geboten. Und aktuelle Diskussionen bieten keinen Anlass zum Vertrauen:

Führt das — wohl so gut wie beschlossene — Hausarztsystem zu mehr Zuwendung oder nicht lediglich zum kontrollierten und eingeschränkten Durchschleusen durchs System?

Dient die allüberall geplante Elektronifizierung und Speicherung von Daten der Kontrolle der Behandlung oder eher der Kontrolle der PatientInnen?

Sollen die schon im Krankenhaus unsinnigen und schädlichen Fallpauschalen wirklich ins Facharztsystem übertragen werden?

Es gäbe einen Weg, Frau Ministerin, Vertrauen in Ihre Politik aufzubauen:
Beenden Sie die Privatisierungen im Gesundheitssystem,
drängen Sie schon vorhandene private Elemente zurück,
stärken Sie eine umfassende, solidarische, paritätisch finanzierte Gesundheitsversorgung für alle!

Solange dies nicht geschieht, geben wir keine Ruhe!