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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2006, Seite 8

Merkels Regierungserklärung

Welche Freiheit? Wessen Freiheit?

von Eckart Spoo

«Mehr Freiheit wagen» — beglückt uns die Parole, die Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung ausgegeben hat? Was bedeutet sie? Mehr Freiheit für wen? Mehr Freiheit wovon? Mehr Freiheit wozu?
Wenn ich Angela Merkel richtig verstanden habe, verheißt sie mehr Freiheit den Konzernen und den Reichen, die ihr Geld möglichst profitabel anlegen wollen: möglichst viel Freiheit, Beschäftigte freizusetzen (weniger Kündigungsschutz), möglichst viel Freiheit von Verantwortung für die soziale Sicherheit der Beschäftigten (weniger Lohnnebenkosten), mehr Freiheit von Verantwortung für die Umwelt, mehr Freiheit von Verantwortung für die Jugend, mehr Freiheit von Verantwortung für die Alten, Kranken, Schwachen, mehr Freiheit von Steuerpflichten, mehr Freiheit zur Bereicherung, Wildwestfreiheit zur Aneignung dessen, was irgendwelchen Eingeborenen gehört. «Ich bin so frei», sagt Nobelmann und nimmt, was er nur kriegen kann.
Der Staat soll sich aus der Wirtschaft heraushalten — was freilich nicht heißt, dass sich die Wirtschaft aus dem Staat heraushält, im Gegenteil. Aber wir, das Volk, sollen glauben, die regierenden Politiker hätten die Absicht, uns von staatlichem Druck zu befreien. Das suggeriert die Kanzlerin mit ihrer Parole «Mehr Freiheit wagen»: Mehr Freiheit, weniger Staat. Ist das wünschenswert?
Mag ja sein, dass einst im Urwald jeder Einzelne seines Glückes Schmied war. Aber empfahl es sich nicht schon damals, Schweres und Schwieriges zu zweien oder zu mehreren anzupacken? Der Einzelne hätte es nicht geschafft, ein fruchtbares Ufergebiet einzudeichen. So war es vernünftig, den Deichbau und die Instandhaltung der Deiche als Gemeinschaftsaufgabe — mit gleichen Rechten und Pflichten — zu vereinbaren. Was herauskommt, wenn solche Gemeinschaftsaufgaben vernachlässigt werden, haben dieses Jahr die armen Menschen in New Orleans erlebt (und viele haben es nicht überlebt).
Es ist gefährlich, Gemeinschaftsaufgaben privaten Unternehmern zu überlassen — vor allem, wenn sie darum konkurrieren sollen, ihre Leistungen zu möglichst niedrigen Preisen anzubieten und möglichst hohe Profite zu erwirtschaften. Umso strenger müssten sie vom Staat kontrolliert werden. Aber das missfällt ihnen. Sie wünschen weniger Aufsicht, weniger Auflagen, mehr Freiheit. Und sparen sich gern die Kosten für die Instandhaltung des Stromnetzes, das dann beim ersten Schnee zusammenbricht wie kürzlich im Münsterland.
Die neue Regierung will Bundesvermögen (Gemeinschaftseinrichtungen) im Wert von rund 50 Millionen Euro — von uns und unseren Vorfahren geschaffen — privatisieren, also gemeinschaftlicher, demokratischer Verfügung entziehen. Mehr Freiheit — weniger Demokratie. Der Merkel-Satz, der an Willy Brandts Verheißung «Mehr Demokratie wagen» anzuknüpfen scheint, widerspricht ihr.
Die Vorsitzenden der beiden Koalitionsfraktionen, Kauder und Struck, haben inzwischen auch schon den ersten kräftigen Schritt und Tritt in Richtung weniger Demokratie gewagt: Sie einigten sich darauf, dass wir, das Volk, künftig nur noch alle fünf Jahre wählen dürfen. Werden wir es still und brav hinnehmen?
Wenn ich bei Amtsantritt der Regierung Merkel, die zur ausdrücklichen Genugtuung Gerhard Schröders seine Politik fortsetzt, die Ergebnisse der Regierung Schröder zu resümieren versuche, muss ich nicht lange forschen und grübeln, um festzustellen: Es ist durchweg das Gegenteil dessen herausgekommen, was uns verheißen war, also kein Aufschwung, sondern Stagnation (jedenfalls auf dem Binnenmarkt), kein Schuldenabbau, sondern weitere Verschuldung (sogar in solchem Maße, dass die Bundesrepublik nun Jahr für Jahr gegen die EU-Verpflichtungen verstößt), keine Halbierung der Arbeitslosenzahl, sondern Vergrößerung und Verstetigung der Massenarbeitslosigkeit und drastische Verschlechterung der Lebensverhältnisse der Arbeitslosen.
Erinnern Sie sich noch, dass Gesundheitsministerin Schmidt (nach wie vor im Amt) uns versprach, ihre Gesundheitsreform werde dazu führen, dass unsere Krankenkassenbeiträge sinken? Jetzt kündigen die Kassen Beitragserhöhungen an — trotz aller Einschränkungen der Kassenleistungen. Ein Beispiel von vielen. Wenn sich eine Politik als grundfalsch erwiesen hat, sollten vernünftige Menschen sich für eine andere entscheiden. Ganz und gar töricht ist es, die verkehrte, schädliche Politik, statt sie zu beenden, noch zu forcieren — was jetzt geschieht.
Eckart Spoo ist Herausgeber der Zweiwochenzeitschrift Ossietzky.

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