SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2006, Seite 9

Hochschulpolitik

Bitte, schließt die Universitäten!

Seit langem ist es im Gange. Nun endlich wird deutlich, wie unter den alten Häuten einer Anstalt mit dem anspruchsvollen Namen «Universität» eine Gestalt gewachsen ist, wenngleich kaum Gestalt zu nennen, die geeignet ist, das Omen, den «Geist der Universität», restlos auszutreiben. Das, was sich bildungspolitisch allgemein und universitätspolitisch speziell tut, kann nur angemessen bezeichnet werden, wenn man das nazistische Unwort «Gleichschaltung» entbräunt und totalisiert in einem.

Was in den unionseuropäischen Ländern seit Anfang des 21.Jahrhunderts unter dem Stichwort «Bologna-Prozess» geschieht, anderwärts jedoch ähnlich zu beobachten ist, ist durch folgende, dynamisch wirksame Um- und Aufrüstungen freilich seit längerem ruinöser «höherer» Bildungs- und formell freier Forschungsanstalten ausgezeichnet:
Statt Wissenschaft primär am unverstellten Erkenntnis- und Wahrheitsziel auszurichten, wird ökonomisch profitable technologische Innovation in der Konkurrenz zu gleichgerichteten Forschungswettrennen weltweit zum zentralen Bezug. Die längst weithin eingeebnete Differenz zwischen «Grundlagen»- und «angewandter Forschung» wird zugunsten angewandter Forschung als Grundlage aufgehoben. Wissenschaften, von früh an zu einem Teil militärisch, staatlich und seit dem Beginn des Maschinenzeitalters kapitalistisch funktionalisiert, werden insgesamt ein Teil der Durchkapitalisierung sozialen Daseins.
Wissenschaften und ihre Adepten — als Einbahnstraßen und verkümmerte Habitus geformt — bauen am modernen Turm der allgemeinen Erkenntnis- und Praxisblockade im Fortschrittspathos ökonomisch-technologischer Machbarkeit.
Lehr- und Lernprozesse, längst forschungsentkoppelt, werden zum gespaltenen Trimm-Dich fachbornierter Fertigkeiten und ungleicher Fähigkeiten. In der Bundesrepublik Deutschland wird eine der wenigen Merkmale, die es erweiternd zu bewahren gilt, die Einheit der Fachstudien, geteilt in sechssemestrige Bachelorstudiengänge und ein ca. zehnsemestriges Studium, das durch eines Master-Grad gekrönt wird. Die Mehrheit der Studierenden, etwa 60—70% soll geschwind durch das Bachelor-Studium geschleust werden. Nur eine neu gebildete Funktionselite soll ein seither als normal geltendes Studium absolvieren;
Um die neue Formierung von Bildungsklassen zu bewältigen und qualitativ für beide Klassenteile zu verändern, sollen Lehre und Studium «modularisiert» werden. «Module», prinzipiell vorgefertigte und standardisierte Ausbildungshappen zur lernenden Ernährung der Bildungsbeflissenen, sollen die in zwei Typen der Studierenden geteilte Einübung in fachlich vorgegebenen Gehorsam zu einer Kette von Prüfungen und weiteren Disziplinierungen werden lassen, die die ansonsten nach wie vor je nach Fach lehrbeliebigen Schaschlikteile im durchgehenden Akkreditierungsspieß zusammenhält.
Diese vier mit vielen feinen Unterschieden versehenen Veränderungsstöße haben nicht nur zur Folge, dass im Zeichen der Innovation(en) Forschung und Bildung vollends getrennt und Forschung emphatisch gegen alles Kreativitäts- und Erfindungs-/Entdeckungsgerede auf eine Innovations-Form und -Funktion reduziert wird — entgegen allen Notwendigkeiten institutionalisierter Reflexion und interdisziplinärer Zusammensicht (die wissenschaftlich-technologisch produzierten normalen Katastrophen harren jeweils morgen und übermorgen). Diese vier Veränderungen bedingen inmitten sog. demokratischer Wissensgesellschaften eine geradezu systematische Verdummung der Studierenden. Unter diesen kann sich die Master-Elite noch einbilden, «leistungsgerecht» auf die positions- und geldmächtigere Seite gewechselt zu sein.
Die Verdummung im kantschen Sinne, dass der Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, sowohl in Sachen «Mut» wie in Sachen «eigener Verstand» zurückgebildet, frühzeitig verkürzt und wahrhaft enteignet werden, begleiten eine Reihe weiterer Maßnahmen, die das wenigstens innerhalb der Universität noch verhältnismäßig freie Studium disziplinierend vertäuen. Zuerst wird das Studium verpreist. Dann wird die Studienwahl verfassungswidrig versperrt. Das dann gewollte oder nicht gewollte Studium wird mit Hilfe dessen, was sich z.B. an der Freien Universität Berlin «Campus Management» nennt, in eins mit der Studienspaltung und seiner durchgehenden Modularisierung und Verprüfung bestenfalls zu einer ungleich gehandhabten und von der Prüfungsmaschinerie aufgeherrschten, bei knappen Berufschancen im Durchschnitt ängstlich eingehaltenen Trimm-dich-Strecke.
Nicht so heiß gegessen würde all dieser Bologna-Blödsinn, sagte mir ein befreundeter linker Kollege, den ich vor drei Jahren sachzornig zum Mitprotest überreden wollte. Ja, zuweilen wird das bürokratisch gemanschte Essen negativ noch nachhaltiger gegessen, als es erhitzt wird, orientiert an stolz verkündeter europäischer Mobilität und Flexibilität. Diese gehorcht ihrerseits dem neoliberalen Globalisierungspostulat, dem starken Hintergrundmotor insgesamt.
Immerhin werden die Spaghetti Bolognese in den einzelnen Unionsländern mit diversen Traditionen sehr verschieden verspeist. Immerhin sperren sich in der BRD just eher konservative Fächer wie Jurisprudenz und Medizin dagegen. Sie müssten beide den hohen Preis bisheriger Professionalität zahlen — so sehr diese, freilich nahezu radikal anders als bachelorisiert und gemastert erforderlich wäre. Erfreulich ist jedoch vor allem, dass sich an allen möglichen deutschen Uniecken und Unienden Studierende zu wehren beginnen. Sie tun dies als eine Minderheit unter der verängstigten Mehrheit der Studierenden, die sich schon vor-geschult gar kein anderes Studium denn den bornierten Fächerkanon mit dauerndem Notendressing denken kann.
Auf die Proteste derjenigen freilich harrt man vergebens, die Wissenschaft als Beruf betreiben, die von Wissenschaft in Forschung und Lehre, wenn schon häufig nicht für sie leben. Lebten sie nämlich für ihre beruflichen Inhalte und deren nicht willkürlich abzumagernden Ziele, dann müsste geradezu ein einziger Proteststurm seit Jahren diese Republik wenigstens zum publizistischen Rauschen und politischen Schwingen bringen. Von raren, meist allzu nostalgisch orientierten Ausnahmen abgesehen — nostalgisch, weil sie so tun, als sei es mit den Universitäten vordem, wenn nicht bequem, so doch prinzipiell in Sachen Forschung, Lehre, Lernen und ihren Freiheiten und Gleichheiten in Ordnung gewesen —, von wenigen Ausnahmen abgesehen, sage ich, haben sich die berühmt-berüchtigten professoral gewordenen «68er» auf Tauchstation und rasch in «emeritierte» Pension begeben. Sie belegen ihrerseits, dass nicht sie durch die Institutionen, sondern die Institutionen und hier die negativen Privilegien der Universitäten und ihre habituellen Effekte durch sie «marschiert» sind. Die jüngeren Profs aber essen begeistert die universitär arme Spaghettikost. Sie forschen lieber zum Reputationsgewinn und sie lehren, offenkundig, lieber stiefelstramm bei gesteigertem elitärem Leistungsgefühl. Das steigt, je hohler es röhrt.
Um der Studierenden willen und zwar aller, auch derjenigen, die nicht rebellieren, was ich politisch-soziologisch gut verstehen kann, will ich wenigstens noch andeuten, dass und wie wichtig es ist, dass sich die Proteste an der Idee einer Universität ausrichten, die den demokratisch menschenrechtlichen Anforderungen des 21.Jahrhunderts entspricht. Ungenügend wäre es, die Protestierenden orientierten sich am Zustand der Universitäten der letzten 30 Jahre vor Bologna. Die Kritik der herkömmlichen, in fast keiner Hinsicht mehr zureichenden Universität ist vielmehr die Voraussetzung einer im Ziel gründlichen, im Verfahren allmählichen Neuerung, die dringend anstünde (eine kleine Publikation wird 2006 differenzierender darüber informieren).
Da der Bedarf aller Menschen zunimmt, die komplexe und eher noch komplexer werdende Wirklichkeit zu verstehen und sich in ihr verhalten zu können, sind folgende Minima unabdingbar, deren Organisierbarkeit ich hier nur noch behaupten kann. Ich konzentriere mich nur aufs Studium, obgleich Forschung nicht weniger wichtig ist.
1. Universitäten sind prinzipiell allen, vor allem allen heranwachsenden Menschen zu öffnen. Darum ist die Zahl der Universitäten drastisch zu vermehren. Um sie als differenzierte soziale und kognitive Einheiten zu ermöglichen, sind sie auf eine Größe von ca. 3000 Studierende zu begrenzen.
2. Sollen Universitäten demokratisch funktional sein und sollen sie rudimentären wissenschaftlichen Forderungen sokratischer Qualität entsprechen — diese besteht in der Begriffs- und Methodenkritik —, dann müssen sie selbst radikaldemokratisch organisiert sein. Erst dann können kritisch offene Lehr-, Lern- und Forschungsprozesse stattfinden. Erst dann können unvermeidliche Gefällstrecken verschiedener Erfahrung und Kompetenz balanciert und kontrolliert werden. Nur eine demokratische Universität ermöglicht Studienabgänger, die sich selbst und anderen gegenüber die Grundrechte einhalten.
3. Die Fachstudiengänge — bei veränderter Schulbildung sieben Studienjahre lang —, die grundrechtsgemäß keine Zugangsschranken besitzen, sind so anzulegen, dass sie über Kerncurricula in allmählicher Ausweitung interdisziplinäre Kompetenzen vermitteln. Nur wenn solche Kompetenzen allen erreichbar sind, tragen die fachlichen und überfachlichen Lehr- und Lernprozesse dazu bei, das alles entscheidende personale und kollektive Lernziel zu erreichen: die Fähigkeit zur Urteilskraft. Sie schließt die Kritik der eigenen Urteilsbildung und ihrer Grenzen ein.
4. Damit Lehr-, Lernprozesse solcherart stattfinden können, sind neue Formen des Lehrens und Lernens erforderlich, die endlich die besten Funde jahrtausendelanger pädagogischer Tradition nutzen: à la exemplarisches Lernen; à la learning by doing; à la Blockkurse und Team-teaching u.v.a.
Allein Institutionen, die in dieser Richtung angelegt sind und werden, verdienen den Namen Universitäten. Will man stattdessen pseudoeuropäisch, allein dem Herrschaftsmamon Weltmarkt konkurrenzblöde untertan, klassenteilende Fitnesscenters, dann schreite man katastrophenmutig und heute schon schuldig an der Enteignung vor allem jugendlicher Menschen ihr Leben lang borniert stark voran.

Wolf-Dieter Narr

Wolf-Dieter Narr lehrte etwa 35 Jahre am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.



Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang