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Als sich im Mai/Juni dieses Jahres in Frankreich und den Niederlanden eine
Mehrheit der Bevölkerung gegen die EU-Verfassung aussprach, war der Katzenjammer groß. Um der
Krise Herr zu werden, rief die EU-Kommission eine Phase D aus. «D» steht offiziell für
Dialog, tatsächlich aber für Durchdrücken, wie die aktuelle Entwicklung bei der
Dienstleistungsrichtlinie zeigt.
Die Dienstleistungsrichtlinie für den europäischen Binnenmarkt, genannt
Bolkesteinrichtlinie, ist eines der am stärksten umstrittenen Brüsseler Projekte, sie spielte
für den Ausgang der Volksabstimmungen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wie in einem Brennglas
konzentriert sie alles, was am Verfassungsentwurf als neoliberal kritisiert wird. Statt Arbeits-, Umwelt-
und Verbraucherschutz auf möglichst hohem Niveau zu harmonisieren, soll der gesamte
Dienstleistungssektor mit einer einzigen Rahmenrichtlinie dereguliert werden. Eine Richtlinie ist ein
europäisches Gesetz. Ist sie erst einmal verabschiedet, muss sie von alle Mitgliedstaaten umgesetzt
werden.
Der Dienstleistungssektor umfasst in vielen
EU-Staaten 70% der Beschäftigung und 70% der Wirtschaftstätigkeit. Zu ihm gehören so
unterschiedliche Branchen wie Pflegedienste, Bau, Handel, Gastronomie, Wasserversorgung oder
Müllabfuhr. In all diesen Bereichen soll die wirtschaftliche Tätigkeit einem ungehinderten
Wettbewerbsdruck ausgesetzt werden.
Das bedeutet, dass Anforderungen
hinsichtlich Preisen oder Qualität der Dienstleistungen oder Qualifikation der Anbieter abgebaut
werden, bzw. ganz entfallen. Durch verstärkten Wettbewerb in diesen Bereichen kommt die
öffentliche Daseinsvorsorge unter zusätzlichen Privatisierungsdruck.
Die Anforderungen an Unternehmen beim
Eröffnen einer Niederlassung in einem anderen EU-Staat werden stark abgesenkt. Gleichzeitig wird das
Herkunftslandprinzip eingeführt. Das bedeutet, Unternehmen werden in anderen EU-Staaten unter den
Bedingungen aktiv, die im Staat ihrer Niederlassung gelten. Die Folge davon wäre, dass mehr
Unternehmen ihren Sitz in Staaten mit niedrigeren Standards verlegen, und der Wettlauf um die niedrigsten
Löhne, Steuern und sozialen Absicherungen zwischen den Mitgliedstaaten weiter angeheizt wird.
Es beschleunigt sich auch der
Demokratieabbau, denn in den Mitgliedstaaten leben Menschen dann unter unterschiedlichen Gesetzen leben,
die der Zuständigkeit der von ihnen gewählten Repräsentanten entzogen sind.
Während des Bundestagswahlkampfs
hieß es immer wieder, die Dienstleistungsrichtlinie sei vom Tisch. In aller Stille hat die EU-
Kommission das Gesetzgebungsverfahren jedoch konsequent weiter betrieben. Im Februar steht jetzt die erste
Lesung auf der Tagesordnung des Plenums des Europäischen Parlaments. Vorausgegangen waren Beratungen
in mehr als zehn Ausschüssen. Ende November legte der federführende Binnenmarktausschuss seinen
Abschlussbericht vor, der die Beschlussempfehlungen der Ausschussberatungen für die Plenarabstimmung
zusammenfasst.
Dank der Proteste konnten zwar einige
kleine Änderungen erreicht werden, die neoliberale Mehrheit aus konservativen und liberalen
Abgeordneten hat wichtige Kernbereiche jedoch bestätigt.
Erreicht werden konnte immerhin, dass in
der Beschlussempfehlung Gesundheitsdienste und audiovisuelle Dienstleistungen vom Geltungsbereich der
Richtlinie ausgeschlossen werden und die Zuständigkeit für Kontrollen bei den Behörden vor
Ort bleiben soll. Der Kern der Richtlinie, das Herkunftslandprinzip, wurde aber nicht angetastet. Bei der
Endabstimmung über den Abschlussbericht konnte sich die sozialdemokratische Berichterstatterin
trotzdem nicht zu mehr als einer Enthaltung durchringen. Lediglich grüne und linke Abgeordnete lehnten
das Herkunftslandprinzip konsequent ab und stimmten dementsprechend gegen den gesamten Bericht.
Allerdings ist die Beschlussempfehlung
für das Parlament nicht bindend und die Fraktionsdisziplin im EP viel weniger ausgeprägt als in
nationalen Parlamenten. Die bisherigen Abstimmungen in den Ausschüssen zeigen, dass noch viel
Mobilisierung notwendig ist, soll der Richtlinienentwurf, wenigstens das Herkunftslandprinzip, noch
aufgehalten werden.
Am 14.Februar geht der Entwurf in die erste
Lesung des Parlaments. Danach müssen ihn die Wirtschaftsminister der Mitgliedstaaten abstimmen, die im
Rat für Wettbewerbsfähigkeit zusammentreffen. Darauf folgt eine zweite Lesung im Parlament und im
Rat. Sollte es danach noch abweichende Meinungen zwischen Rat und Parlament geben, folgt ein
Vermittlungsverfahren.
Die Dienstleistungsrichtlinie ist nur ein Pfad, auf dem die Deregulierung des Dienstleistungssektors
vorangetrieben wird. Einschlägige Bestimmungen im EG-Vertrag schreiben sie längst fest.
Allerdings ähneln diese Artikel eher einem politischen Programm, das eine schrittweise Liberalisierung
vorschreibt. Dem Europäischen Gerichtshof scheint das alles viel zu langsam zu gehen, er fällt
immer wieder Urteile, die eine viel weitreichendere Liberalisierung vorschreiben. Deshalb herrscht in der
EU tatsächlich eine große Rechtsunsicherheit. Es gibt nicht einmal klare Kriterien, wann eine
Niederlassung eröffnet wurde, was wichtig wäre um festzustellen, ob es sich lediglich um eine
Briefkastenfirma handelt. Solche Probleme gibt es auch bei allen Fragen rund um die
Scheinselbstständigkeit.
Man sollte eigentlich erwarten, dass sich
EU-Institutionen mit solchen Fragen beschäftigen, wenn sie an einer Dienstleistungsrichtlinie
arbeiten. Leider ist das naiv. Der derzeit diskutierte Richtlinienentwurf tut alles, die bereits
bestehenden Regulierungsdefizite auszuweiten. Alle Mitgliedstaaten sollen darauf verpflichtet werden, ihre
nationalen Regelwerke daraufhin zu überprüfen, ob sie den häufig wenig präzisen
Vorgaben des EuGH entsprechen. Über das Ergebnis sollen sie einen Bericht verfassen, in dem sie sich
auch in einigen Bereichen für beibehaltene Regelungen rechtfertigen sollen. Anschließend sollen
die Mitgliedstaaten diese Berichte gegenseitig evaluieren und, abhängig vom Ergebnis, weitere
Regelungen abschaffen.
Wohin eine solche Politik der
Wettbewerbsmaximierung führt, kann man in einigen Branchen bereits sehen. Rumänische
Wanderarbeiter, die zu menschenunwürdigen Bedingungen in Schlachthöfen zu Hungerlöhnen
arbeiten, Gammelfleisch in Supermärkten und immer mehr schlecht entlohnte scheinselbstständige
Fliesenleger ohne Sozialversicherung auf Baustellen dürften dann nur der Anfang sein.
Häufig wird auf Kritik an der
Dienstleistungsrichtlinie so reagiert, als gehe es dabei nur um die Bewahrung von Pfründen. Das ist
nicht der Fall. Durch die Dienstleistungsrichtlinie würde systematisch ein System geschaffen, dass
überall zu weniger Wohlstand führt. Gleichzeitig würden zivilgesellschaftliche Strukturen
wie Gewerkschaften oder Handwerksverbände, die heute schon große Probleme haben, denjenigen, die
durch ihre Arbeitskraft am meisten zum gesellschaftlichen Wohlstand beitragen, eine angemessene Teilhabe zu
sichern, weiter geschwächt.
Aufgrund der großen Lohnunterschiede
zwischen den Ländern der EU würde Europa immer tiefer an ethnischen Grenzen gespalten. Bereits
heute arbeiten in vielen Betrieben mittel- und osteuropäische Beschäftigte zu wesentlich
niedrigeren Löhnen als ihre deutschen Kollegen. Ein solches System ist nicht nur rassistisch, es
führt unweigerlich dazu, dass deutsche und ausländische Beschäftigte immer mehr
gegeneinander ausgespielt werden. Dabei trifft es in der Regel auf beiden Seiten diejenigen, die ohnehin
bereits zu relativ niedrigen Löhnen arbeiten.
Die Dienstleistungsrichtlinie muss verhindert werden. Das allein wird allerdings nicht reichen. Die
Mechanismen, die mit der Dienstleistungsrichtlinie eingeführt werden sollen, sind zu großen
Teilen bereits tief in den EG-Vertrag eingeschrieben.
Kapitalkräftige, nicht nur national,
sondern auch transnational organisierte Interessengruppen konnten dies vor vielen schon Jahren erreichen.
Nun arbeiten sie daran, sie auch im wirklichen Leben immer mehr durchzusetzen. Soll der Widerstand von
Gewerkschaften und sozialen Bewegungen dagegen erfolgreich sein, werden sie sich, neben der nationalen
Ebene, noch viel stärker auf transnationaler Ebene organisieren müssen. Auf der Tagesordnung
steht die Forderung nach der Einführung von Mindestlöhnen und gleichem Lohn für gleiche
Arbeit am gleichen Ort.
Wichtigstes Ziel auf europäischer
Ebene muss die Angleichung der Lebensverhältnisse in ganz Europa als erster Schritt für eine
weltweite Angleichung sein. Der Markt schafft das nicht. Dazu bedarf es einer schrittweisen Angleichung von
Standards auf möglichst hohem Niveau und einer aktiven europäischen Umverteilungspolitik, welche
die zu schulternden Lasten gerecht verteilt. Dazu bedarf es allerdings auch einer gänzlich neuen
Verfassung.
Stephan Lindner
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