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Die erste Station unserer kleinen, selbst organisierten dreiwöchigen
Delegation ist Maturín, eine Stadt mit einer Bevölkerung von etwa 250000 im Bundesstaat Monagas
im Nordosten des Landes. Zu Gast sind wir hier bei Luis, dem resoluten Vorsitzenden des lokalen
bolivarianischen Zirkels. Er wohnt mit seiner Familie in einem Stadtteil am Rande von Maturín und ist
dort für die Koordination der verschiedenen Komitees ehrenamtlich gewählt.
Mit seinem Bart und seiner grünen
Uniform sieht er Fidel Castro zum Verwechseln ähnlich. Wir erfahren sehr viel über die
Arbeitsweise für die Verbesserung der Lebensbedingungen im Stadtteil durch die Basisorganisation vor
Ort: Zunächst werden die auftretenden Probleme und Missstände in Befragungen der Bevölkerung
von Tür zu Tür gesammelt: Dann werden sie an die kommunale Verwaltung weitergegeben, damit dort
die finanziellen Mittel für die erforderlichen Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden. Die
praktische Umsetzung erfolgt dann wiederum mit den Leuten vor Ort. Natürlich geht das nicht immer
reibungslos, aber es geht voran.
Luis begleitet uns zu verschiedenen Gesundheitseinrichtungen, die im Rahmen der Misión Barrio
Adentro aufgebaut wurden. In der laufenden ersten Phase dieses Programms sind über 20000 kubanische
Ärzte im ganzen Land tätig, um eine kostenlose flächendeckende, dezentrale
Basisgesundheitsversorgung auch in abgelegenen Regionen oder in den Barrios (Elendsviertels) der
großen Städte zu gewährleisten. Sie wohnen und arbeiten jeweils mindestens zwei Jahre direkt
vor Ort.
Die zweite Phase der Misión sieht die
Errichtung von Integrierten Diagnostischen Zentren vor, in denen sich alle (egal ob arm oder reich, egal ob
Venezolaner oder Ausländer) unbürokratisch medizinisch untersuchen lassen können.
Dementsprechend lang sind auch die Warteschlangen im Zentrum, das wir mit Luis besuchten. In diesem
kleinen, modern ausgestatteten Hospital werden gesundheitliche Untersuchungen aller Art ebenso
durchgeführt wie kleinere ambulante Operationen. Es gibt außerdem einen physiotherapeutischen
Bereich und eine Zahnarztpraxis. Allein in Maturín gibt es bereits vier solcher Zentren.
Für die dritte Phase der Misión
sei die Errichtung von kostenlosen Krankenhäusern vorgesehen, erzählt uns Luis auf dem Weg zum
Hospital Simón Bolívar. Dort ist die dritte Phase schon verwirklicht. Das zweistöckige
Krankenhaus mit 30 Betten ist vor fünf Jahren von der aufgebrachten Bevölkerung besetzt worden
und wird seit dem selbstverwaltet geführt. Zuvor waren unter privatwirtschaftlicher Leitung immer
wieder Patienten gestorben, die nicht genügend Geld für ihre notwendige Behandlung aufbringen
konnten. Als eine weitere Frau bei der Entbindung starb, wurde die Klinik besetzt und die alten Betreiber
davongejagt. Das ehemalige Verwaltungsgebäude nebenan heißt jetzt Casa Rosada (rosa Haus) und
wird seitdem für Treffen, Veranstaltung und Lehrgänge benutzt.
Gisel, die Laborverantwortliche,
erzählt uns von den mühseligen Anfängen nach der Besetzung, doch heute funktioniere das
Hospital ebenso wie drei weitere selbstverwaltete Kliniken im Land zum Wohl der Menschen und
gewährleiste eine kostenlose, unbürokratische Behandlung, wie sie uns stolz berichtet.
Unsere nächste Station ist La Salina,
ein kleiner Badeort an der Küste unterhalb von Caracas im Bundesstaat Vargas. Rafael und Ivón,
unsere herzlichen Gasteltern, arbeiten hier beide ehrenamtlich seit 13 Jahren als Lehrer und kommen
ursprünglich aus Caracas, wo sie als Dozenten an der Uni gearbeitet hatten. Zusammen mit anderen haben
sie hier verschiedene Bildungs- und Kultureinrichtungen aufgebaut, u.a. auch eine Bibliothek mit
Büchern und Videos.
Herausgegeben wird auch eine kleine
zweimonatlich erscheinende Zeitung, El salitre (Salpeter), die über die politischen und kulturellen
Ereignisse in der Region informiert. Sie zeigen uns die verschiedenen hier arbeitenden Misiónes
für Bildung, den Kern des überall im Land aufgebauten bolivarianischen kostenlosen
Bildungssystems: Den Menschen in Venezuela wird, egal welchen Alters und welchen gesellschaftlichen
Standes, kostenlos und unbürokratisch das Lernen von Lesen und Schreiben ermöglicht (Misión
Robinson), so dann eine Schulbildung angeboten bis zum Abiturabschluss (Misión Ribás) bzw. zur
Vorbereitung für die Universität (Misión Sucre).
Alle diese Kurse basieren
hauptsächlich auf audiovisueller Didaktik (Lernvideos) und werden mittels Facilitadores
(Vereinfachern) und praktischen Übungen vertieft. Sie finden jeweils nachmittags für drei Stunden
statt, damit sie auch nach der Arbeit besucht werden können. An den bolivarianischen
Universitäten gibt es inzwischen ein breites Angebot von Studienfächern, das übrigens auch
von interessierten Nichtvenezolanern belegt werden kann.
Aus dem nach wie vor bestehenden
traditionellen Bildungssystem waren viele Menschen aufgrund ihrer ökonomischen Situation
ausgeschlossen gewesen. Dieses könne nicht von heute auf morgen grundlegend umgestaltet werden, da die
dort auf Lebenszeit angestellten Beamten oft der Opposition angehören und noch aus der Vierten
Republik kommen (mit der neuen bolivarianischen Verfassung wurde nach der Wahl des jetzt amtierenden
Präsidenten Chávez 1998 die Fünfte Republik gegründet), erzählen uns die meist
ehrenamtlich aktiven Lehrer der kleinen Schule des Ortes. Stattdessen werde parallel ein alternatives
bolivarianisches Bildungssystem aufgebaut, um das alte nach und nach zu ersetzen.
Dieser Prozess werde auf freiwilliger Basis
mittels Überzeugungsarbeit vorangetrieben und die ersten Erfolge können sich sehen lassen: So
wurden innerhalb von wenigen Jahren nicht nur Hunderte von bolivarianischen Ganztagesschulen mit
Essensverpflegung für Kinder eingeweiht, sondern auch über 2 Millionen erwachsene Menschen
alphabetisiert, und Venezuela konnte vor kurzem von der UNESCO zur analphabetismusfreien Zone erklärt
werden.
In der Misión cultura bringen sich
darüber hinaus die verschiedenen Leute aus dem Ort die ihnen jeweils bekannten kulturellen Traditionen
und Kunstfertigkeiten bei. Auf den wöchentlich stattfindenden Treffen entstehen immer wieder einzelne
Projekte wie z.B. Theaterstücke, Musik oder Keramik, in die alle Teilnehmenden einbezogen werden. Nach
dem egalitären Modell des bekannten brasilianischen Pädagogen Paolo Freire wird so überall
im Land die eindimensionale Schulbildung überwunden.
In Caracas, der pulsierenden 2-Millionen-Hauptstadt, wohnen wir in El Atlantico, einem der vielen
höher gelegenen Barrios und erleben begeistert, wie weit die revolutionäre Stadtteilorganisation
hier schon verankert ist.
Neben den bereits beschriebenen Misiones
beeindruckt uns hier besonders die Lebensmittelversorgung der Armen im Rahmen der Misión Mercal.
Hierzu gehören nicht nur die gleichnamigen Märkte, in denen Grundversorgungsmittel (für
Essen und Haushalt) verbilligt abgegeben werden. Die bolivarianische Verfassung garantiert auch das Recht
für die Armen, kostenlos mit Lebensmitteln versorgt zu werden. So erhalten alle in sog. Casas de la
Alimentación eine Lebensmittelration für drei Monate, wobei eine Ärztin darüber wacht,
dass die Ration auch ausreichend ist, je nach dem unterschiedlichen persönlichen Bedarf. Darüber
hinaus besuchen wir auch Comedores, in denen täglich mittags von Ehrenamtlichen Essen in riesigen
Töpfen für über 100 Menschen gekocht wird. Dieses flächendeckende Versorgungssystem,
das weltweit einmalig ist, baut auf dem unermüdlichen ehrenamtlichen Einsatz von vielen Freiwilligen
auf.
Die Leute, die wir in Caracas treffen oder
besuchen, sind alle ausgesprochen freundlich, und fast alle wollen wissen, wie wir ihren Präsidenten
finden und den Prozess hier. Es gibt wohl keinen Staat auf der Erde, in dem das einfache Volk seinen
Präsidenten so verehrt wie hier. Wenn er im Fernsehen zu sehen ist, starren alle gebannt auf den
Bildschirm und lauschen seinen Worten, weil er ihnen aus dem Herzen spricht.
Ich beginne die Begeisterung der Menschen
für diesen Präsidenten zu verstehen, weil sie zum ersten Mal eine Regierung haben, die ihnen
ermöglicht, ihre eigene Situation spürbar zu verbessern, nach dem Prinzip: Die Regierung stellt
die Mittel, die Bevölkerung setzt die notwendigen Maßnahmen in eigener Regie um. In den Barrios
hatte diese Selbstorganisierung bereits in den 80er Jahren, begonnen, lange vor der Wahl von Chávez
zum Präsidenten 1998.
Mit der Annahme der bolivarianischen
Verfassung 1999 in einem Volksentscheid wurde diese Praxis legalisiert und über die finanziellen
Mittel aus dem Erdölverkauf subventioniert und ausgebaut. Seitdem haben sich in den Stadtteilen die
Bewohner in Komitees zusammengeschlossen: Komitee für Gesundheit, für Wasser, für kostenlose
Verteilung von Lebensmitteln, für Bildung, für die kostenlose Ausgabe von Personalausweisen
für die vielen Unregistrierten, die schon lange hier leben, damit sie u.a. wählen dürfen und
gleiche Rechte bekommen.
Unsere nächste Station ist die Papierfabrik INVEPAL in der Nähe von Morón. INVEPAL
(früher VENEPAL) ist einer von zwei erfolgreich enteigneten Großbetrieben und nahm vor drei
Monaten für ein Jahr auf Probe nach längerem Tauziehen die Produktion wieder auf, diesmal in
Arbeitermitverwaltung (Cogestión).
Die Fabrik ist jetzt zu 49% Eigentum der
gegründeten Belegschaftskooperative Covimba. Dies schlägt sich auch im Arbeitsklima nieder. Ohne
Chefs und Hierarchie arbeiten die etwa bis zu 500 Beschäftigten hier an fünf Tagen und in drei
Schichten für einen Einheitslohn. Auf dem Gelände gibt es nicht nur eine eigene
Energieversorgung, sondern auch einen kleinen Laden, eine Schule und einen Kindergarten. Viele haben sich
hier kleine Reihenhäuser gekauft und wohnen auf dem Gelände. Sie arbeiten nicht nur lieber,
sondern auch mehr, wie uns die Beschäftigten erklären, weil sie jetzt wissen wofür. Auf zwei
langen Produktionsstraßen mit deutschen Maschinen aus den 50er Jahren wird neben braunen
Papiertüten für Lebensmittel auch das bekannte INVEPAL-Kopierpapier produziert.
Am nächsten Tag besuchen wir die
ebenfalls INVEPAL angegliederte Schulheftfabrik in Maracay. Hier werden unter den gleichen egalitären
Arbeitsbedingungen bunte Umschläge entworfen, gedruckt und damit fertige Schulhefte fabriziert. Der
Betrieb bietet für alle umfassende Weiterbildungs- und Fortbildungsmaßnahmen an.
Das Verwaltungsgebäude durfte
früher von den Beschäftigten nicht betreten werden und Verstoß wurde mit Kündigung
geahndet, erzählt uns Rosa, eine junge Mutter, die neben ihrem Studium an der Bolivarianischen
Universität in Valencia hier nicht nur als Sekretärin arbeitet, sondern auch freiwillig
regelmäßig wie die anderen Verwaltungsleute in der Produktion schafft.
An der Wand hängt ein Konzept
über die Selbstverwaltung von Betrieben, die neben neu gegründeten Kooperativen im ganzen Land
entstehen und mit günstigen Krediten subventioniert werden. Damit soll die Wirtschaft des Landes auf
breitere Füße gestellt und die Importabhängigkeit in vielen Bereichen überwunden
werden. Gleichzeitig breiten sich damit auch in der Wirtschaft mehr und mehr partizipative demokratische
Strukturen aus.
In El Palito erklärt uns der Ingenieur
Robert Gonzales die Bedeutung und Funktionsweise der Erdölgewinnung und -weiterverarbeitung. Die
Palette der aus Öl gewonnenen Produkte reicht von Benzin, über synthetische Textilien bis zur
Computerelektronik.
Seit Entdeckung der immensen Vorkommen des
schwarzen Goldes in den 20er Jahren hat sich das OPEC-Gründungsmitglied Venezuela zum
fünftgrößten Erdölproduzenten der Welt entwickelt und erzielt daraus heute 40% seiner
gesamten staatlichen Einnahmen, von denen ein Teil unmittelbar in die sozialen Misiones fließt.
Zum Abschluss lernen wir eine Kampagne kennen, mit der im ganzen Land Kooperativen aufgebaut werden
sollen, die den Menschen eine ökonomische Perspektive vor Ort ermöglichen und damit die
Landflucht stoppen soll. In zehnmonatigen Kursen wird Interessierten das Grundhandwerkszeug für den
jeweils gewählten Arbeitsbereich sowie für die Führung eines Betriebs vermittelt.
Während dieser Kurse erhalten die Teilnehmenden eine monatliche finanzielle Unterstützung in
Höhe von etwa 90 US-Dollar. Die danach von ihnen gebildeten Kooperativen bekommen nicht nur das
Material, Land und Gebäude zur Verfügung gestellt, sondern auch einen günstigen Startkredit,
der das erste Jahr nicht zurückgezahlt werden muss.
Wir besuchen eine von 13
Landwirtschaftskooperativen in der Region, wo etwa 300 Männer, Frauen und Kinder leben. Sie
begrüßen uns herzlich und erzählen uns stolz von den innerhalb weniger Monate gemachten
Fortschritten. Auch wenn die Hütten noch relativ behelfsmäßig sind und es noch keinen Strom
gibt auf dem fruchtbaren Boden, wo einst nur Zuckerrohr angebaut wurde, gedeihen inzwischen Bananen,
Mais und andere Gemüse- und Obstsorten. Für die Bewässerung sorgt ein kleiner Fluss.
Unser Begleiter, Javier, erklärt uns,
dass die Preise für Leistungen und Produkte der Kooperativen staatlich limitiert sind und die privaten
Unternehmen durch diese Anreize für die Bevölkerung nach und nach verdrängt werden sollen.
Ähnlich wie im Bildungsbereich wird auch hier die sanfte Politik der kleinen Schritte gegangen und auf
Überzeugungsarbeit gesetzt.
Achim Schuster
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
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