SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2006, Seite 18

Reisebericht Venezuela

Neue Pfade zum Sozialismus

Die erste Station unserer kleinen, selbst organisierten dreiwöchigen Delegation ist Maturín, eine Stadt mit einer Bevölkerung von etwa 250000 im Bundesstaat Monagas im Nordosten des Landes. Zu Gast sind wir hier bei Luis, dem resoluten Vorsitzenden des lokalen bolivarianischen Zirkels. Er wohnt mit seiner Familie in einem Stadtteil am Rande von Maturín und ist dort für die Koordination der verschiedenen Komitees ehrenamtlich gewählt.
Mit seinem Bart und seiner grünen Uniform sieht er Fidel Castro zum Verwechseln ähnlich. Wir erfahren sehr viel über die Arbeitsweise für die Verbesserung der Lebensbedingungen im Stadtteil durch die Basisorganisation vor Ort: Zunächst werden die auftretenden Probleme und Missstände in Befragungen der Bevölkerung von Tür zu Tür gesammelt: Dann werden sie an die kommunale Verwaltung weitergegeben, damit dort die finanziellen Mittel für die erforderlichen Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden. Die praktische Umsetzung erfolgt dann wiederum mit den Leuten vor Ort. Natürlich geht das nicht immer reibungslos, aber es geht voran.

Gesundheit und Bildung

Luis begleitet uns zu verschiedenen Gesundheitseinrichtungen, die im Rahmen der Misión Barrio Adentro aufgebaut wurden. In der laufenden ersten Phase dieses Programms sind über 20000 kubanische Ärzte im ganzen Land tätig, um eine kostenlose flächendeckende, dezentrale Basisgesundheitsversorgung auch in abgelegenen Regionen oder in den Barrios (Elendsviertels) der großen Städte zu gewährleisten. Sie wohnen und arbeiten jeweils mindestens zwei Jahre direkt vor Ort.
Die zweite Phase der Misión sieht die Errichtung von Integrierten Diagnostischen Zentren vor, in denen sich alle (egal ob arm oder reich, egal ob Venezolaner oder Ausländer) unbürokratisch medizinisch untersuchen lassen können. Dementsprechend lang sind auch die Warteschlangen im Zentrum, das wir mit Luis besuchten. In diesem kleinen, modern ausgestatteten Hospital werden gesundheitliche Untersuchungen aller Art ebenso durchgeführt wie kleinere ambulante Operationen. Es gibt außerdem einen physiotherapeutischen Bereich und eine Zahnarztpraxis. Allein in Maturín gibt es bereits vier solcher Zentren.
Für die dritte Phase der Misión sei die Errichtung von kostenlosen Krankenhäusern vorgesehen, erzählt uns Luis auf dem Weg zum Hospital Simón Bolívar. Dort ist die dritte Phase schon verwirklicht. Das zweistöckige Krankenhaus mit 30 Betten ist vor fünf Jahren von der aufgebrachten Bevölkerung besetzt worden und wird seit dem selbstverwaltet geführt. Zuvor waren unter privatwirtschaftlicher Leitung immer wieder Patienten gestorben, die nicht genügend Geld für ihre notwendige Behandlung aufbringen konnten. Als eine weitere Frau bei der Entbindung starb, wurde die Klinik besetzt und die alten Betreiber davongejagt. Das ehemalige Verwaltungsgebäude nebenan heißt jetzt Casa Rosada (rosa Haus) und wird seitdem für Treffen, Veranstaltung und Lehrgänge benutzt.
Gisel, die Laborverantwortliche, erzählt uns von den mühseligen Anfängen nach der Besetzung, doch heute funktioniere das Hospital ebenso wie drei weitere selbstverwaltete Kliniken im Land zum Wohl der Menschen und gewährleiste eine kostenlose, unbürokratische Behandlung, wie sie uns stolz berichtet.
Unsere nächste Station ist La Salina, ein kleiner Badeort an der Küste unterhalb von Caracas im Bundesstaat Vargas. Rafael und Ivón, unsere herzlichen Gasteltern, arbeiten hier beide ehrenamtlich seit 13 Jahren als Lehrer und kommen ursprünglich aus Caracas, wo sie als Dozenten an der Uni gearbeitet hatten. Zusammen mit anderen haben sie hier verschiedene Bildungs- und Kultureinrichtungen aufgebaut, u.a. auch eine Bibliothek mit Büchern und Videos.
Herausgegeben wird auch eine kleine zweimonatlich erscheinende Zeitung, El salitre (Salpeter), die über die politischen und kulturellen Ereignisse in der Region informiert. Sie zeigen uns die verschiedenen hier arbeitenden Misiónes für Bildung, den Kern des überall im Land aufgebauten bolivarianischen kostenlosen Bildungssystems: Den Menschen in Venezuela wird, egal welchen Alters und welchen gesellschaftlichen Standes, kostenlos und unbürokratisch das Lernen von Lesen und Schreiben ermöglicht (Misión Robinson), so dann eine Schulbildung angeboten bis zum Abiturabschluss (Misión Ribás) bzw. zur Vorbereitung für die Universität (Misión Sucre).
Alle diese Kurse basieren hauptsächlich auf audiovisueller Didaktik (Lernvideos) und werden mittels Facilitadores (Vereinfachern) und praktischen Übungen vertieft. Sie finden jeweils nachmittags für drei Stunden statt, damit sie auch nach der Arbeit besucht werden können. An den bolivarianischen Universitäten gibt es inzwischen ein breites Angebot von Studienfächern, das übrigens auch von interessierten Nichtvenezolanern belegt werden kann.
Aus dem nach wie vor bestehenden traditionellen Bildungssystem waren viele Menschen aufgrund ihrer ökonomischen Situation ausgeschlossen gewesen. Dieses könne nicht von heute auf morgen grundlegend umgestaltet werden, da die dort auf Lebenszeit angestellten Beamten oft der Opposition angehören und noch aus der Vierten Republik kommen (mit der neuen bolivarianischen Verfassung wurde nach der Wahl des jetzt amtierenden Präsidenten Chávez 1998 die Fünfte Republik gegründet), erzählen uns die meist ehrenamtlich aktiven Lehrer der kleinen Schule des Ortes. Stattdessen werde parallel ein alternatives bolivarianisches Bildungssystem aufgebaut, um das alte nach und nach zu ersetzen.
Dieser Prozess werde auf freiwilliger Basis mittels Überzeugungsarbeit vorangetrieben und die ersten Erfolge können sich sehen lassen: So wurden innerhalb von wenigen Jahren nicht nur Hunderte von bolivarianischen Ganztagesschulen mit Essensverpflegung für Kinder eingeweiht, sondern auch über 2 Millionen erwachsene Menschen alphabetisiert, und Venezuela konnte vor kurzem von der UNESCO zur analphabetismusfreien Zone erklärt werden.
In der Misión cultura bringen sich darüber hinaus die verschiedenen Leute aus dem Ort die ihnen jeweils bekannten kulturellen Traditionen und Kunstfertigkeiten bei. Auf den wöchentlich stattfindenden Treffen entstehen immer wieder einzelne Projekte wie z.B. Theaterstücke, Musik oder Keramik, in die alle Teilnehmenden einbezogen werden. Nach dem egalitären Modell des bekannten brasilianischen Pädagogen Paolo Freire wird so überall im Land die eindimensionale Schulbildung überwunden.

Kostenlose Lebensmittelversorgung

In Caracas, der pulsierenden 2-Millionen-Hauptstadt, wohnen wir in El Atlantico, einem der vielen höher gelegenen Barrios und erleben begeistert, wie weit die revolutionäre Stadtteilorganisation hier schon verankert ist.
Neben den bereits beschriebenen Misiones beeindruckt uns hier besonders die Lebensmittelversorgung der Armen im Rahmen der Misión Mercal. Hierzu gehören nicht nur die gleichnamigen Märkte, in denen Grundversorgungsmittel (für Essen und Haushalt) verbilligt abgegeben werden. Die bolivarianische Verfassung garantiert auch das Recht für die Armen, kostenlos mit Lebensmitteln versorgt zu werden. So erhalten alle in sog. Casas de la Alimentación eine Lebensmittelration für drei Monate, wobei eine Ärztin darüber wacht, dass die Ration auch ausreichend ist, je nach dem unterschiedlichen persönlichen Bedarf. Darüber hinaus besuchen wir auch Comedores, in denen täglich mittags von Ehrenamtlichen Essen in riesigen Töpfen für über 100 Menschen gekocht wird. Dieses flächendeckende Versorgungssystem, das weltweit einmalig ist, baut auf dem unermüdlichen ehrenamtlichen Einsatz von vielen Freiwilligen auf.
Die Leute, die wir in Caracas treffen oder besuchen, sind alle ausgesprochen freundlich, und fast alle wollen wissen, wie wir ihren Präsidenten finden und den Prozess hier. Es gibt wohl keinen Staat auf der Erde, in dem das einfache Volk seinen Präsidenten so verehrt wie hier. Wenn er im Fernsehen zu sehen ist, starren alle gebannt auf den Bildschirm und lauschen seinen Worten, weil er ihnen aus dem Herzen spricht.
Ich beginne die Begeisterung der Menschen für diesen Präsidenten zu verstehen, weil sie zum ersten Mal eine Regierung haben, die ihnen ermöglicht, ihre eigene Situation spürbar zu verbessern, nach dem Prinzip: Die Regierung stellt die Mittel, die Bevölkerung setzt die notwendigen Maßnahmen in eigener Regie um. In den Barrios hatte diese Selbstorganisierung bereits in den 80er Jahren, begonnen, lange vor der Wahl von Chávez zum Präsidenten 1998.
Mit der Annahme der bolivarianischen Verfassung 1999 in einem Volksentscheid wurde diese Praxis legalisiert und über die finanziellen Mittel aus dem Erdölverkauf subventioniert und ausgebaut. Seitdem haben sich in den Stadtteilen die Bewohner in Komitees zusammengeschlossen: Komitee für Gesundheit, für Wasser, für kostenlose Verteilung von Lebensmitteln, für Bildung, für die kostenlose Ausgabe von Personalausweisen für die vielen Unregistrierten, die schon lange hier leben, damit sie u.a. wählen dürfen und gleiche Rechte bekommen.

Papier- und Erdölproduktion

Unsere nächste Station ist die Papierfabrik INVEPAL in der Nähe von Morón. INVEPAL (früher VENEPAL) ist einer von zwei erfolgreich enteigneten Großbetrieben und nahm vor drei Monaten für ein Jahr auf Probe nach längerem Tauziehen die Produktion wieder auf, diesmal in Arbeitermitverwaltung (Cogestión).
Die Fabrik ist jetzt zu 49% Eigentum der gegründeten Belegschaftskooperative Covimba. Dies schlägt sich auch im Arbeitsklima nieder. Ohne Chefs und Hierarchie arbeiten die etwa bis zu 500 Beschäftigten hier an fünf Tagen und in drei Schichten für einen Einheitslohn. Auf dem Gelände gibt es nicht nur eine eigene Energieversorgung, sondern auch einen kleinen Laden, eine Schule und einen Kindergarten. Viele haben sich hier kleine Reihenhäuser gekauft und wohnen auf dem Gelände. Sie arbeiten nicht nur lieber, sondern auch mehr, wie uns die Beschäftigten erklären, weil sie jetzt wissen wofür. Auf zwei langen Produktionsstraßen mit deutschen Maschinen aus den 50er Jahren wird neben braunen Papiertüten für Lebensmittel auch das bekannte INVEPAL-Kopierpapier produziert.
Am nächsten Tag besuchen wir die ebenfalls INVEPAL angegliederte Schulheftfabrik in Maracay. Hier werden unter den gleichen egalitären Arbeitsbedingungen bunte Umschläge entworfen, gedruckt und damit fertige Schulhefte fabriziert. Der Betrieb bietet für alle umfassende Weiterbildungs- und Fortbildungsmaßnahmen an.
Das Verwaltungsgebäude durfte früher von den Beschäftigten nicht betreten werden und Verstoß wurde mit Kündigung geahndet, erzählt uns Rosa, eine junge Mutter, die neben ihrem Studium an der Bolivarianischen Universität in Valencia hier nicht nur als Sekretärin arbeitet, sondern auch freiwillig regelmäßig wie die anderen Verwaltungsleute in der Produktion schafft.
An der Wand hängt ein Konzept über die Selbstverwaltung von Betrieben, die neben neu gegründeten Kooperativen im ganzen Land entstehen und mit günstigen Krediten subventioniert werden. Damit soll die Wirtschaft des Landes auf breitere Füße gestellt und die Importabhängigkeit in vielen Bereichen überwunden werden. Gleichzeitig breiten sich damit auch in der Wirtschaft mehr und mehr partizipative demokratische Strukturen aus.
In El Palito erklärt uns der Ingenieur Robert Gonzales die Bedeutung und Funktionsweise der Erdölgewinnung und -weiterverarbeitung. Die Palette der aus Öl gewonnenen Produkte reicht von Benzin, über synthetische Textilien bis zur Computerelektronik.
Seit Entdeckung der immensen Vorkommen des schwarzen Goldes in den 20er Jahren hat sich das OPEC-Gründungsmitglied Venezuela zum fünftgrößten Erdölproduzenten der Welt entwickelt und erzielt daraus heute 40% seiner gesamten staatlichen Einnahmen, von denen ein Teil unmittelbar in die sozialen Misiones fließt.

Landwirtschaftskooperativen

Zum Abschluss lernen wir eine Kampagne kennen, mit der im ganzen Land Kooperativen aufgebaut werden sollen, die den Menschen eine ökonomische Perspektive vor Ort ermöglichen und damit die Landflucht stoppen soll. In zehnmonatigen Kursen wird Interessierten das Grundhandwerkszeug für den jeweils gewählten Arbeitsbereich sowie für die Führung eines Betriebs vermittelt. Während dieser Kurse erhalten die Teilnehmenden eine monatliche finanzielle Unterstützung in Höhe von etwa 90 US-Dollar. Die danach von ihnen gebildeten Kooperativen bekommen nicht nur das Material, Land und Gebäude zur Verfügung gestellt, sondern auch einen günstigen Startkredit, der das erste Jahr nicht zurückgezahlt werden muss.
Wir besuchen eine von 13 Landwirtschaftskooperativen in der Region, wo etwa 300 Männer, Frauen und Kinder leben. Sie begrüßen uns herzlich und erzählen uns stolz von den innerhalb weniger Monate gemachten Fortschritten. Auch wenn die Hütten noch relativ behelfsmäßig sind und es noch keinen Strom gibt — auf dem fruchtbaren Boden, wo einst nur Zuckerrohr angebaut wurde, gedeihen inzwischen Bananen, Mais und andere Gemüse- und Obstsorten. Für die Bewässerung sorgt ein kleiner Fluss.
Unser Begleiter, Javier, erklärt uns, dass die Preise für Leistungen und Produkte der Kooperativen staatlich limitiert sind und die privaten Unternehmen durch diese Anreize für die Bevölkerung nach und nach verdrängt werden sollen. Ähnlich wie im Bildungsbereich wird auch hier die sanfte Politik der kleinen Schritte gegangen und auf Überzeugungsarbeit gesetzt.

Achim Schuster

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