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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2006, Seite 21

Leo Panitch/Colin Leys (Hrsg.): Telling the Truth. Socialist Register 2006, New York (Merlin Press) 2005, 304 Seiten, 22,50 Euro (Deutscher Vertrieb: VSA-Verlag Hamburg, www.vsa-verlag.de)

Die Lügenkrankheit

Die neue Ausgabe des internationalen Jahrbuchs Socialist Register könnte nicht aktueller sein. Nach zwei wichtigen Jahrbüchern zur Theorie und Praxis des neuen Imperialismus, beschäftigen sich die Autoren des diesjährigen Register (u.a. Frances Fox Piven, Barbara Ehrenreich, Loic Wacquant, Terry Eagleton) mit den zunehmenden Manipulationen von Wahrheit und bürgerlicher Öffentlichkeit im solcherart globalisierten und militarisierten Kapitalismus. Wir veröffentlichen hier das leicht gekürzte Vorwort.

Die allgemeine Verbreitung der chronischen Lügenkrankheit scheint ein Strukturmerkmal des globalen Kapitalismus zu Beginn des 21.Jahhunderts zu sein. In früheren Ausgaben von Socialist Register haben wir die Verflechtungen der Nationalstaaten und Ökonomien untereinander in der amerikanischen neoliberalen imperialen Ordnung und die Belastungen, die daraus für ihre Binnenbeziehungen wie für ihre Außenbeziehungen folgen, analysiert.
Es ist dabei klar geworden, dass dies nicht allein in eine zunehmend grobere, militarisierte Geopolitik des Imperiums mündet, die die Legitimität der Regierungen der «Koalitionen der Willigen» in Frage stellen. Gleichermaßen ernsthafte, vielleicht letzten Endes schwerwiegendere Legitimitätsprobleme werden durch den unablässigen Druck der Marktkräfte geschaffen, die der globale Neoliberalismus freisetzt, und die Umweltschäden und sozialen Verwerfungen, die sie hervorbringen. Solche Legitimationsprobleme zeigen sich in einem beispiellosen Grad an Geheimhaltung, Täuschung, wenn nicht rundheraus Lügen, die das öffentliche Leben jetzt prägen.
Die Kriegserklärung «gegen den Terror» hat diese Tendenz verschärft. Den Regierungen wurden erlaubt, neue Machtinstrumente einzuführen, um zu verbergen, was sie im Schilde führen. In den USA ist die Zahl der als geheim eingestuften Dokumente von 6 Millionen im Jahr 1996 auf fast 16 Millionen im Jahr 2004 gestiegen, die Anzahl der freigegebenen Seiten ist hingegen jährlich um über 80% gefallen. Grundlegende Informationen werden jetzt routinemäßig «sensibel» genannt und der Öffentlichkeit vorenthalten, während Maßnahmen wie der USA Patriot Act Bürger unter umfassende staatliche Überwachung stellt, die alles beobachtet, von ihren Reisen bis zu den Büchern, die sie aus der Bibliothek entleihen (Leser aufgepasst!). Bewaffnete Polizeikontrollen sind an der Tagesordnung, Menschen werden verhaftet und unbegrenzt festgehalten, ohne Prozess und ohne Anschuldigung.
Die ungeheuerlichen Lügen, die Washington und London in Zusammenhang mit der Invasion des Irak aufgetischt haben, sind nur die Spitze eines Eisbergs. Aufrichtigkeit und eine offene Rede von Politikern ist eine Ausnahme geworden, und es gibt eine Fülle von Hinweisen auf die schamlose Komplizenschaft professioneller Journalisten. Die leere Werberede und Verkaufsmentalität der Konzernkultur durchdringen mehr und mehr jeden Lebensbereich. Weniger erkannt, aber deshalb längerfristig nicht weniger bedeutend ist die wachsende Unterordnung der wissenschaftlichen Forschung unter kommerzielle Ziele.
Die vorsätzliche Abdankung eines großen Teils der akademischen Intelligenz vor ihrer Aufgabe, die Wahrheit zu sagen, macht die Sache noch schlimmer. Die Gleichgültigkeit gegenüber der wissenschaftlichen Wahrheit in der akademischen Welt schlägt sich unmittelbar im öffentlichen Leben nieder. Das «Geschichtenerzählen» ist zu einer bevorzugten Methode der Mitarbeiter im Stab von New Labour geworden, Blairs Kommunikationsbeauftragter hat sogar einen «Chef für Geschichtenentwicklung» eingestellt. Werden die Poststrukturalisten und Vertreter der Postmoderne, nachdem sie durch die Ära George W. Bush gegangen sind, immer noch behaupten, jede «Erzählung» sei so wahr wie die andere?
Die Entartung des öffentlichen Diskurses ist unbestreitbar, aber nicht unumkehrbar, wenngleich die zugrundeliegenden strukturellen Bedingungen nur durch eine umfassende demokratische Revolution beseitigt werden können. Im Augenblick geht es darum, das Problem und seine Ursachen so deutlich wie möglich zu machen. Mitten im Vietnamkrieg konnte Robert Lowell immer noch sehen, dass es dennoch eine «goldene Zeit der Freiheit und der Genehmigung zum Handeln und Spekulieren» war. Aber er hatte die «dunkle Ahnung», das sie zu Ende gehen und durch ein «autoritäres Reich von Pietät und Eisen» ersetzt würde. Wir leben nicht mehr in einer goldenen Zeit; die Ahnung gewinnt an Boden. Das öffentliche Leben wird mehr und mehr von autoritären Elementen durchsetzt, einige tragen geradezu protofaschistische Züge. Aber es gibt immer noch Raum für kritisches Denken und kritische Rede und dies müssen wir uneingeschränkt nutzen.
Die Degeneration des öffentlichen Diskurses und seine Folgen sichtbar zu machen, ist nicht einfach. Die Aufsätze in der aktuellen Ausgabe von Socialist Register drehen sich alle um diese Frage, angefangen bei der nüchternen Analyse des «zynischen Staates» im Westen, wie er paradigmatisch in Großbritannien unter New Labour geschaffen wurde. Das steht im Zentrum der chronischen Lügenkrankheit, unter der wir leiden. Dem folgt eine Kritik des Begriffs der «kapitalistischen Demokratien», die sich auf die Demokratisierungserfahrungen in Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten bezieht und argumentiert, dass kapitalistischen Staaten in erster Linie kapitalistisch und nur gelegentlich demokratisch sind.
Die weiteren Aufsätze befassen sich mit der Verschleierung der kapitalistischen Klasseninteressen hinter dem Feigenblatt der «Wirtschaftsgemeinschaft» und dem Klassenkrieg, der im Namen der «Sozialstaatsreform» und des «Ausbaus der Sicherheit» geführt wird. Hierhin gehören auch die zaghaften Versuche der Medien, den offiziellen Lügen um den Irakkrieg etwas entgegen zu setzen. Dem folgt ein Beitrag, der beschreibt, wie die Weltbank, ungeachtet der Rhetorik der G8 über die Beendigung der globalen Armut, sich weiter statistischer Kennziffern bedient, die das Ausmaß der Armut in der Welt und die realen Bedürfnisse der Armen verschleiern. Ein weiterer Beitrag zeigt, wie der weltweit bekannteste liberale Ökonom, Joseph Stiglitz, zwar freimütig seine Enttäuschung über die Weltbank kundtut, aber auch ein Gefangener seiner Disziplin bleibt, weil er unfähig ist, die strukturellen Faktoren hinter der falschen Verteilung politischer Macht und Marktinformation zu analysieren, die er beklagt.
Die Abdankung so vieler linker Intellektueller vor ihrer Aufgabe, die Wahrheit zu sagen, wird in einem Aufsatz behandelt, der anschaulich den steilen Aufstieg des Postmodernismus als Philosophie aber auch als «Habitus» in der akademischen Welt Amerikas beschreibt. Postmodernismus ist eine Form dessen, was Socialist Register 1990 den «Rückzug der Intellektuellen» genannt hat; teilweise war er das Resultat der politischen und intellektuellen Versäumnisse der traditionellen Linken. Eines dieser Versäumnisse ist Gegenstand eines ausgreifenden und provozierenden Essays, das beginnt mit einer Kritik der berühmten Position von E.P. Thompson im Register von 1965 und sich im weiteren mit der Zweideutigkeit des Klassenkonzepts im sozialistischen Projekt von seinem Anbeginn an — von Rousseau bis Marx — auseinandersetzt. Der Rückzug der Intellektuellen, vor allem wenn begleitet von journalistischer Komplizenschaft mit den offiziellen Lügengespinsten, hat oft Künstler herausgefordert, die entstandene Lücke zu füllen. Deshalb veröffentlichen wir hier unser erstes Essay überhaupt über Theaterpolitik, es untersucht seine lebenswichtige Rolle im «Spiel mit der Wahrheit», vor allem heute. Abschließend beschäftigt sich ein Aufsatz mit den Spannungen zwischen Ästhetik und Gesellschaft, Elite und Weltläufigkeit, Postmodernismus und Sozialismus als Annäherungen an die Wahrheit. Er enthält noch einmal in konzentrierter Form das Ziel des Bandes, indem er deutlich macht, dass nicht die Macht, sondern ihre Opfer am dringendsten der Wahrheit bedürfen… Der Macht muss man die Wahrheit nicht sagen, sie ist in gewisser Weise für sie unerheblich.

(Übersetzung: Angela Klein)

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