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In keinem anderen Industriestaat der Welt versagt die Förderung von
Arbeiter- und Migrantenkindern so wie in Deutschland, wobei Kinder aus Einwandererfamilien noch schlechter
abschneiden als Gleichaltrige mit gleichem Sozialstatus, aber ohne Migrationshintergrund. Der Anteil an
Jugendlichen ohne jeden Schulabschluss liegt bei ihnen deutlich höher.
Das bescheinigten die Pisa-Forscher schon bei der ersten Studie im Jahr 2000. Fünf Jahre
später hat sich daran nichts geändert im Gegenteil: Immer mehr entscheidet in Deutschland
die soziale Herkunft über den Schulerfolg eines Kindes. Das gilt auch und vor allem für
Migrantenkinder, obwohl die meisten hier geboren sind. Sie haben unsere Institutionen vom Kindergarten bis
zur Sekundarschule durchlaufen trotzdem sind sie die Verlierer im deutschen Schulsystem.
Zu Beginn der Anwerbung von Arbeitskräften gab es noch Überlegungen, ob das Recht auf Bildung
auch für die Kinder der «Gastarbeiter» gelten sollte. Bei den Kindern der Asylbewerber und
Kriegsflüchtlingen bestand lange keine Schulpflicht. Heute wird das Recht auf schulische Bildung allen
zugestanden, auch denen, deren Bleiberecht noch ungesichert ist.
Die Schulbürokratie ging anfangs von
einer vorrübergehenden Erscheinung in der Überlegung aus, dass die ausländischen Kinder ihre
«Rückkehrfähigkeit» erhalten sollten. Erst als infolge des Anwerbestopps für
Arbeitskräfte außerhalb der EG im Rahmen der Familienzusammenführung die Zahl der
türkischen Kinder sprunghaft anstieg, wurden in den Ballungsräumen eiligst Sonderklassen
eingerichtet, neben den Nationalklassen in Langform gab es noch Auffang-, Vorbereitungs- und
Förderklassen.
1979 wurde ich selber Klassenlehrerin einer
türkischen Nationalklasse in Langform und konnte erleben, wie schwer und absurd es für die Kinder
war, Deutsch ohne ausreichenden Kontakt zu deutschen Mitschülern zu lernen. Oft waren diese Klassen
sehr ungünstig untergebracht, in Durchgangsräumen, Nebengebäuden oder im Dachgeschoss. Es
fehlten geeignete Bücher und bei den Mittelzuweisungen wurde unsere Schülerschaft zugunsten der
deutschen oft schlechter behandelt.
Eine solche Praxis war vor dem Hintergrund
einer von den Medien mitgetragenen Psychose der «Überlastung und Überfremdung»
möglich: die Probleme wurden allein den «Defiziten» der Kinder und der Unfähigkeit der
Eltern zugeschrieben und ihre Erfolglosigkeit zur sozialen Gefahr hochstilisiert («Pulverfass»).
Auch in der GEW haben wir uns vehement
gegen die Separierung ausländischer Kinder gewehrt, doch selbst hier waren wir in der Minderheit. Nach
langer Kontroverse wurde diese besonders diskriminierende Form der Nationalklassen in Langform abgeschafft,
gegen den Widerstand vieler Schulleitungen und auch der Schulbürokratie. Die Integration in die
Regelschule wurde daraufhin als Nachteil für die deutschen Kinder dargestellt, es war von
«kritischer Grenze» die Rede, die Metapher «Das Boot ist voll!» ging um.
Als ich später meine ehemaligen
Schüler an der Hauptschule aufsuchte, musste ich allerdings mit Entsetzen feststellen, dass viele
erneut abgesondert waren, in einer Vorbereitungsklasse, aus der sie die Schule ohne Abschluss
verließen, weil Schulabschlüsse nur in einer Regelklasse erworben werden können was
weder die Kinder noch ihre Eltern wussten. Solche Vorbereitungsklassen gibt es bis heute nur an
Hauptschulen, nicht an Realschulen oder Gymnasien.
Die Selektionsleistung, die Schule zu erbringen hat, verlagert sich immer mehr auf die Grundschule als
Dreh- und Angelpunkt für die Vergabe von Bildungschancen. Die Festlegung der Bildungskarriere erfolgt
mit weitgehend irreversiblem Charakter zwischen der 4. und der 6.Klassenstufe. Einmal eingeschlagene
Bildungswege sind kaum mehr revidierbar, wenn überhaupt, dann nach unten, bspw. am Ende der Klasse 6
(Erprobungsstufe), wo Migrantenkinder häufig an der Hauptschule landen.
Die Ungleichbehandlung ethnischer Gruppen
beginnt schon in der Grundschule, obwohl doch gerade sie als eine gemeinsame Schule für alle Kinder
sich reformpädagogischen Erziehungszielen verpflichtet fühlt und die Kindorientierung auf ihre
Fahnen geschrieben hat.
Doch sie gerät im Zuge neoliberaler
Deregulierung immer mehr in den Sog von Evaluationsmessungen und Effizienz, wo doch die Pädagogik im
Vordergrund stehen sollte. Wer viel testet, sortiert auch aus. Die Grundschule steht am Anfang der
Schullaufbahn, sie stellt zurück, überweist in Schulkindergarten und Sonderschule, sie
«verteilt» mit Hilfe von Gutachten ihre Abgänger in das dreigliedrige Schulsystem und die
Gesamtschule. Die statistischen Erhebungen offenbaren die Ungleichbehandlung und machen eine direkte und
indirekte Diskriminierung deutlich.
Infolge des Geburtenrückgangs änderte sich in den 80er Jahren die Praxis bei der Feststellung
der «Schulfähigkeit», allerdings gegenläufig, abnehmend bei den deutschen und zunehmend
bei den ausländischen Kindern. Diese überproportionale Steigerung stand in direktem Zusammenhang
mit der 1982 angeordneten Abschaffung der Vorbereitungsklassen in Langform und dem Ausbau der
Schulkindergärten. Die Grundschule nutzt neue Möglichkeiten der Absonderung und macht deutliche
Unterschiede zwischen deutschen Schulanwärtern und Migrantenkindern. Während abnehmend von 9 auf
7% deutsche Kinder eines Jahrgangs zurückgestellt und in einen Schulkindergarten eingewiesen werden,
sind es bei den ausländischen Kindern ansteigend zwischen 11 und 14%, zuletzt also doppelt so viele
wie bei den deutschen Altersgenossen.
Da einerseits fehlende Sprachkenntnisse
laut Erlass kein Zurückstellungsgrund sein dürfen und man von einer Verbesserung der Ausgangslage
(längere Aufenthaltsdauer, Kindergartenbesuch) ausgehen konnte, nutzte die Grundschule offensichtlich
den Ausbau der Schulkindergärten, um sich der «Problemfälle» zu entledigen.
Bei ihrer Rückkehr landeten viele
Migrantenkinder in einer Vorbereitungsklasse oder es wurde ein Sonderschulaufnahmeverfahren eingeleitet.
Von 1980 bis 1990 stieg der Anteil der ausländischen Kinder bei den Sonderschulen für
Lernbehinderte um das Doppelte. Bei den deutschen Schülern sank er im gleichen Zeitraum um die
Hälfte. Bis 1982 lag die Ausländerquote noch unter der der deutschen Schüler, d.h. die
Sonderschule war als «Lösung des Ausländerproblems» noch nicht in den Blick geraten. Ab
1982 vergrößerte sich der Abstand dramatisch. Da stellt sich die Frage, wieso die Lernbehinderung
bei den Migrantenkindern so stark zunimmt, wo doch nationale Herkunft, kulturelle Differenz und sprachliche
Defizite keinen Überweisungsgrund darstellen durften.
Betrug 1980 das Verhältnis
ausländischer Kinder zu deutschen in den Sonderschulen 8,1 zu 8,3%, so stieg der Migrantenanteil auf
40% im Jahr 1990, während ihr Anteil an der Gesamtschülerzahl lediglich 14% betrug.
Wo durch den Geburtenrückgang der
Bestand einer Grundschule gefährdet war, wurden deutsche Kinder mit Förderbedarf oft gehalten,
während bei Migrantenkindern eher Probleme in der Schullaufbahn diagnostiziert wurden. Die
Sonderschulen ihrerseits waren daran interessiert, die Plätze der fehlenden deutschen Schulkinder
durch Migrantenkinder «aufzufüllen». Die Überweisung wurde oft mit einer deutlich
besseren pädagogischen Betreuung begründet ein Trugschluss. Eine Rückführung in
die Regelschule fand nur in ganz seltenen Einzelfällen statt. Die Sonderschule erwies sich als
Sackgasse mit geringen Berufs- und sozialen Lebenschancen.
Im Sekundarbereich treten die weiterführenden Schulen in einen Wettbewerb um die rasch sinkende
Schar der Grundschulabgänger. Sie werden großzügiger in ihrem Aufnahmeverhalten und nehmen
verstärkt auch Kinder aus «bildungsfernen Schichten» auf. So gelingt deutschen und
ausländischen Kindern die Flucht aus der Hauptschule gleichermaßen. Hauptschulen werden vor allem
in den Ballungsgebieten reihenweise geschlossen. Wo sie bestehen bleiben, werden sie immer mehr zu
«Ausländerschulen». Auch in den Gesamtschulen steigt der Anteil der Migrantenkinder, diese
sehen sich in der Konkurrenz zum Gymnasium und steuern mit «Ausländerquoten» dagegen.
Auch der Übergang in die Realschulen
gelingt den ausländischen Kindern zunehmend, während eine nennenswerte Steigerung der
Gymnasialquote nur den Deutschen vorbehalten bleibt. So orientiert sich der Selektionsmechanismus am Ende
der Grundschulzeit am bestehenden Platzangebot der weiterführenden Schulen. Auch hier herrscht das
Gesetz von Angebot und Nachfrage. Einerseits werden mit scheinbar neutralen Leistungskriterien alle gleich
behandelt, andererseits wird Migrantenkindern oft auch bei guten Noten der Zugang zum Gymnasium verwehrt.
In der Erprobungsstufe sind sie häufiger negativen Leistungsprognosen ausgesetzt und werden dann nach
unten «weiter gereicht».
Alle Erklärungsversuche für die
verbreitete Erfolglosigkeit von Migrantenkindern laufen darauf hinaus, mit unscharfen Formulierungen
(Andersartigkeit) die Unfähigkeit des Schulsystems zu verschleiern, das es nicht schafft, diesen
Kindern eine ihrem Leistungsvermögen angemessene Ausbildung zukommen zu lassen und die Schuld an
diesem Desaster den Eltern zuschiebt. Wenn es darum geht, negative Selektionsentscheidungen zu
begründen, wird viel über «Kultur» und «kulturelle Identität»
gesprochen. «Kulturdifferenz» wird zum «Kulturkonflikt», wenn es um die
Ursachenerklärung für mangelnden Schulerfolg geht.
Erst wenn sich diese (Einwanderungs-
)Gesellschaft der Herausforderung der Migration stellt, wird auch die Schule als Spiegelbild der
gesellschaftlichen Wirklichkeit ihren Beitrag zur angemessenen Bildungsbeteiligung leisten. Ihre
Integrations- und Sozialisationsfunktion kann die Sekundarschule am besten im gemeinsamen Lernen der jungen
Generation realisieren, in einer Schule für alle.
Larissa Peiffer-Rüssmann
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