SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2006, Seite 10>

Institutionalisierter Rassismus

Organisierter Schul(miss)erfolg

In keinem anderen Industriestaat der Welt versagt die Förderung von Arbeiter- und Migrantenkindern so wie in Deutschland, wobei Kinder aus Einwandererfamilien noch schlechter abschneiden als Gleichaltrige mit gleichem Sozialstatus, aber ohne Migrationshintergrund. Der Anteil an Jugendlichen ohne jeden Schulabschluss liegt bei ihnen deutlich höher.

Das bescheinigten die Pisa-Forscher schon bei der ersten Studie im Jahr 2000. Fünf Jahre später hat sich daran nichts geändert — im Gegenteil: Immer mehr entscheidet in Deutschland die soziale Herkunft über den Schulerfolg eines Kindes. Das gilt auch und vor allem für Migrantenkinder, obwohl die meisten hier geboren sind. Sie haben unsere Institutionen vom Kindergarten bis zur Sekundarschule durchlaufen — trotzdem sind sie die Verlierer im deutschen Schulsystem.

Bildung für alle?

Zu Beginn der Anwerbung von Arbeitskräften gab es noch Überlegungen, ob das Recht auf Bildung auch für die Kinder der «Gastarbeiter» gelten sollte. Bei den Kindern der Asylbewerber und Kriegsflüchtlingen bestand lange keine Schulpflicht. Heute wird das Recht auf schulische Bildung allen zugestanden, auch denen, deren Bleiberecht noch ungesichert ist.
Die Schulbürokratie ging anfangs von einer vorrübergehenden Erscheinung in der Überlegung aus, dass die ausländischen Kinder ihre «Rückkehrfähigkeit» erhalten sollten. Erst als infolge des Anwerbestopps für Arbeitskräfte außerhalb der EG im Rahmen der Familienzusammenführung die Zahl der türkischen Kinder sprunghaft anstieg, wurden in den Ballungsräumen eiligst Sonderklassen eingerichtet, neben den Nationalklassen in Langform gab es noch Auffang-, Vorbereitungs- und Förderklassen.
1979 wurde ich selber Klassenlehrerin einer türkischen Nationalklasse in Langform und konnte erleben, wie schwer und absurd es für die Kinder war, Deutsch ohne ausreichenden Kontakt zu deutschen Mitschülern zu lernen. Oft waren diese Klassen sehr ungünstig untergebracht, in Durchgangsräumen, Nebengebäuden oder im Dachgeschoss. Es fehlten geeignete Bücher und bei den Mittelzuweisungen wurde unsere Schülerschaft zugunsten der deutschen oft schlechter behandelt.
Eine solche Praxis war vor dem Hintergrund einer von den Medien mitgetragenen Psychose der «Überlastung und Überfremdung» möglich: die Probleme wurden allein den «Defiziten» der Kinder und der Unfähigkeit der Eltern zugeschrieben und ihre Erfolglosigkeit zur sozialen Gefahr hochstilisiert («Pulverfass»).
Auch in der GEW haben wir uns vehement gegen die Separierung ausländischer Kinder gewehrt, doch selbst hier waren wir in der Minderheit. Nach langer Kontroverse wurde diese besonders diskriminierende Form der Nationalklassen in Langform abgeschafft, gegen den Widerstand vieler Schulleitungen und auch der Schulbürokratie. Die Integration in die Regelschule wurde daraufhin als Nachteil für die deutschen Kinder dargestellt, es war von «kritischer Grenze» die Rede, die Metapher «Das Boot ist voll!» ging um.
Als ich später meine ehemaligen Schüler an der Hauptschule aufsuchte, musste ich allerdings mit Entsetzen feststellen, dass viele erneut abgesondert waren, in einer Vorbereitungsklasse, aus der sie die Schule ohne Abschluss verließen, weil Schulabschlüsse nur in einer Regelklasse erworben werden können — was weder die Kinder noch ihre Eltern wussten. Solche Vorbereitungsklassen gibt es bis heute nur an Hauptschulen, nicht an Realschulen oder Gymnasien.

Drehscheibe Grundschule

Die Selektionsleistung, die Schule zu erbringen hat, verlagert sich immer mehr auf die Grundschule als Dreh- und Angelpunkt für die Vergabe von Bildungschancen. Die Festlegung der Bildungskarriere erfolgt mit weitgehend irreversiblem Charakter zwischen der 4. und der 6.Klassenstufe. Einmal eingeschlagene Bildungswege sind kaum mehr revidierbar, wenn überhaupt, dann nach unten, bspw. am Ende der Klasse 6 (Erprobungsstufe), wo Migrantenkinder häufig an der Hauptschule landen.
Die Ungleichbehandlung ethnischer Gruppen beginnt schon in der Grundschule, obwohl doch gerade sie als eine gemeinsame Schule für alle Kinder sich reformpädagogischen Erziehungszielen verpflichtet fühlt und die Kindorientierung auf ihre Fahnen geschrieben hat.
Doch sie gerät im Zuge neoliberaler Deregulierung immer mehr in den Sog von Evaluationsmessungen und Effizienz, wo doch die Pädagogik im Vordergrund stehen sollte. Wer viel testet, sortiert auch aus. Die Grundschule steht am Anfang der Schullaufbahn, sie stellt zurück, überweist in Schulkindergarten und Sonderschule, sie «verteilt» mit Hilfe von Gutachten ihre Abgänger in das dreigliedrige Schulsystem und die Gesamtschule. Die statistischen Erhebungen offenbaren die Ungleichbehandlung und machen eine direkte und indirekte Diskriminierung deutlich.

Sackgasse Sonderschule

Infolge des Geburtenrückgangs änderte sich in den 80er Jahren die Praxis bei der Feststellung der «Schulfähigkeit», allerdings gegenläufig, abnehmend bei den deutschen und zunehmend bei den ausländischen Kindern. Diese überproportionale Steigerung stand in direktem Zusammenhang mit der 1982 angeordneten Abschaffung der Vorbereitungsklassen in Langform und dem Ausbau der Schulkindergärten. Die Grundschule nutzt neue Möglichkeiten der Absonderung und macht deutliche Unterschiede zwischen deutschen Schulanwärtern und Migrantenkindern. Während abnehmend von 9 auf 7% deutsche Kinder eines Jahrgangs zurückgestellt und in einen Schulkindergarten eingewiesen werden, sind es bei den ausländischen Kindern ansteigend zwischen 11 und 14%, zuletzt also doppelt so viele wie bei den deutschen Altersgenossen.
Da einerseits fehlende Sprachkenntnisse laut Erlass kein Zurückstellungsgrund sein dürfen und man von einer Verbesserung der Ausgangslage (längere Aufenthaltsdauer, Kindergartenbesuch) ausgehen konnte, nutzte die Grundschule offensichtlich den Ausbau der Schulkindergärten, um sich der «Problemfälle» zu entledigen.
Bei ihrer Rückkehr landeten viele Migrantenkinder in einer Vorbereitungsklasse oder es wurde ein Sonderschulaufnahmeverfahren eingeleitet. Von 1980 bis 1990 stieg der Anteil der ausländischen Kinder bei den Sonderschulen für Lernbehinderte um das Doppelte. Bei den deutschen Schülern sank er im gleichen Zeitraum um die Hälfte. Bis 1982 lag die Ausländerquote noch unter der der deutschen Schüler, d.h. die Sonderschule war als «Lösung des Ausländerproblems» noch nicht in den Blick geraten. Ab 1982 vergrößerte sich der Abstand dramatisch. Da stellt sich die Frage, wieso die Lernbehinderung bei den Migrantenkindern so stark zunimmt, wo doch nationale Herkunft, kulturelle Differenz und sprachliche Defizite keinen Überweisungsgrund darstellen durften.
Betrug 1980 das Verhältnis ausländischer Kinder zu deutschen in den Sonderschulen 8,1 zu 8,3%, so stieg der Migrantenanteil auf 40% im Jahr 1990, während ihr Anteil an der Gesamtschülerzahl lediglich 14% betrug.
Wo durch den Geburtenrückgang der Bestand einer Grundschule gefährdet war, wurden deutsche Kinder mit Förderbedarf oft gehalten, während bei Migrantenkindern eher Probleme in der Schullaufbahn diagnostiziert wurden. Die Sonderschulen ihrerseits waren daran interessiert, die Plätze der fehlenden deutschen Schulkinder durch Migrantenkinder «aufzufüllen». Die Überweisung wurde oft mit einer deutlich besseren pädagogischen Betreuung begründet — ein Trugschluss. Eine Rückführung in die Regelschule fand nur in ganz seltenen Einzelfällen statt. Die Sonderschule erwies sich als Sackgasse mit geringen Berufs- und sozialen Lebenschancen.

Angebot und Nachfrage

Im Sekundarbereich treten die weiterführenden Schulen in einen Wettbewerb um die rasch sinkende Schar der Grundschulabgänger. Sie werden großzügiger in ihrem Aufnahmeverhalten und nehmen verstärkt auch Kinder aus «bildungsfernen Schichten» auf. So gelingt deutschen und ausländischen Kindern die Flucht aus der Hauptschule gleichermaßen. Hauptschulen werden vor allem in den Ballungsgebieten reihenweise geschlossen. Wo sie bestehen bleiben, werden sie immer mehr zu «Ausländerschulen». Auch in den Gesamtschulen steigt der Anteil der Migrantenkinder, diese sehen sich in der Konkurrenz zum Gymnasium und steuern mit «Ausländerquoten» dagegen.
Auch der Übergang in die Realschulen gelingt den ausländischen Kindern zunehmend, während eine nennenswerte Steigerung der Gymnasialquote nur den Deutschen vorbehalten bleibt. So orientiert sich der Selektionsmechanismus am Ende der Grundschulzeit am bestehenden Platzangebot der weiterführenden Schulen. Auch hier herrscht das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Einerseits werden mit scheinbar neutralen Leistungskriterien alle gleich behandelt, andererseits wird Migrantenkindern oft auch bei guten Noten der Zugang zum Gymnasium verwehrt. In der Erprobungsstufe sind sie häufiger negativen Leistungsprognosen ausgesetzt und werden dann nach unten «weiter gereicht».
Alle Erklärungsversuche für die verbreitete Erfolglosigkeit von Migrantenkindern laufen darauf hinaus, mit unscharfen Formulierungen (Andersartigkeit) die Unfähigkeit des Schulsystems zu verschleiern, das es nicht schafft, diesen Kindern eine ihrem Leistungsvermögen angemessene Ausbildung zukommen zu lassen und die Schuld an diesem Desaster den Eltern zuschiebt. Wenn es darum geht, negative Selektionsentscheidungen zu begründen, wird viel über «Kultur» und «kulturelle Identität» gesprochen. «Kulturdifferenz» wird zum «Kulturkonflikt», wenn es um die Ursachenerklärung für mangelnden Schulerfolg geht.
Erst wenn sich diese (Einwanderungs- )Gesellschaft der Herausforderung der Migration stellt, wird auch die Schule als Spiegelbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit ihren Beitrag zur angemessenen Bildungsbeteiligung leisten. Ihre Integrations- und Sozialisationsfunktion kann die Sekundarschule am besten im gemeinsamen Lernen der jungen Generation realisieren, in einer Schule für alle.

Larissa Peiffer-Rüssmann



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