SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2006, Seite 4

Kolumne von Thies Gleiss

Kosten der Pressefreiheit

Er ist als bulliger Choleriker bekannt, der gern auch mal seine Ellenbogen benutzt, um in die erste Reihe zu kommen. Er ist der vielleicht eitelste Sack aus der Feuilletonredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und lässt sich für seine bösartig, aber langweilig geschriebenen Verrisse von Theateraufführungen auf den einschlägigen Feiern herumreichen. Als er mal keine Premierenkarte für eine Inszenierung erhielt, zeterte der Herr mit allem, was ihm zu eigen ist, gegen dieses «Berufsverbot» durch die Theaterkasse.
Aber nun hat sich Gerhard Stadelmaier sogar mächtig für das noch höhere Gut der Pressefreiheit verdient gemacht. Fünf Minuten nach Beginn der Erstaufführung von Ionescos Das große Massakerspiel oder Triumph des Todes im Frankfurter Schauspiel wurde er gegen seinen Willen in das Stück mit einbezogen. Bis dahin war schon viel passiert: «Neben mir wurde einer hochschwangeren Frau die Fruchtblase zerstochen, zwei Männer masturbierten. Dann gebar die Frau einen totenVogel.» Der Schauspieler Thomas Lawinsky rief sodann «Gebt dem da doch das Kind! Schreiben Sie doch, dass es ein schönes Kind ist!»
Aber der nach Selbsteinschätzung meist gefürchtete «Kritiker» Deutschlands lehnte den toten Vogel nicht etwas aus Angst vor der Vogelgrippe, sondern mit der prinzipienfesten Begründung ab: «Als Kritiker wollte ich an dem Stück nicht teilnehmen.» Was für ein Mann, der so tapfer seine Unabhängigkeit verteidigt. Daraufhin soll Lawinsky dem Stadelmaier seinen Notizblock entrissen haben, um ihn wenig später wieder zurückzugeben: «Schreib weiter Junge, der Abend wird noch schrecklich!» Die ungewollte Einbeziehung in das Theaterstück brachte den Kritiker aber völlig aus der Fassung, sodass er zunächst vorzeitig das Theater verlassen musste. Der Vorfall sei eine «ganz klare Grenzüberschreitung, eine Frechheit und beispielloser Vorfall» gewesen. «Vielleicht gehe ich damit in die Theatergeschichte ein, wenn auch nicht als Schreiber».
Für Stadelmaiers Chef, Frank Schirrmacher, war die Sache ein Eklat erster Ordnung. Als Zeuge der Vorfälle meldete sich auch der Kulturchef des Mannheimer Morgen zu Wort, an dem besagten Abend, Sitznachbar vom FAZ-Kollegen. Aber irgendwie muss er die Sache etwas bizarrer erlebt haben: «Es war absolut peinlich und dreist, dass Stadelmaier zur Zielscheibe des Publikums wurde.» Des Publikums? Merkwürdige Sichtweise. Nach der eindringlichen Premiere wurde es hochpolitisch. Schirrmacher und Stadelmaier schrieben einen Brief an die Intendantin des Schauspiels und an die Frankfurter Oberbürgermeisterin Roth und forderten Konsequenzen. Die Bürgermeisterin sah in dem «unentschuldbaren Zwischenfall» einen «Eklat» der «sofortige Konsequenzen erfordere. Der Herr Lawinsky müsse sofort entlassen werden und die Intendantin sich «unverzüglich, unzweifelhaft und umfassend» bei Herrn Stadelmaier und der FAZ entschuldigen.
Die Freiheit der Kunst scheint hinter der der Presse zu verschwinden. Und wenn in diesem Land Hunderte von Journalisten durch Staatsorgane abgehört werden dürfen, wenn Fotografen und Berichterstatter auf Dutzenden von Demonstrationen vom Polizeiknüppeln vertrieben werden können und wenn kleine unabhängige Magazine von der erdrückenden Marktmacht der Pressegiganten verschluckt oder zerschlagen werden, dann höhlt dies nicht die Pressefreiheit aus. Aber wenn der Herr Stadelmaier schlecht geschlafen hat und sich abends im Theater angemacht fühlt, dann ist es gleich der Supergau und die ganze Kolonne steht stramm: die Intendantin entschuldigt sich, der Schauspieler wird entlassen. Und der Kritiker hat wieder freie Bahn in die erste Reihe.

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