SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2006, Seite 19

Akademisches Viagra?

Die historische Männlichkeitenforschung boomt

Hätte jemand vor etwa zwanzig Jahren den Wissenschaftlerinnen, die im innovativen, dynamischen und sich zu diesem Zeitpunkt auch institutionell langsam etablierenden Feld der Frauen- und Geschlechtergeschichte arbeiteten, vorausgesagt, dass in nicht allzu ferner Zukunft «Männlichkeit(-en)» zu einer zentralen Kategorie progressiver Geschichtswissenschaft zählen würde… er oder sie hätte wohl nicht allein Verwunderung, sondern entrüsteten Zorn geerntet.

Ganz so reagierten im Jahre 1991 etwa Leserinnen einer neu gegründeten feministischen Fachzeitschrift auf den Titel der neuen Publikation. Der Titel L‘Homme, also «der Mensch» ebenso wie «der Mann», sei allenfalls «als Ergebnis eines Frauenstammtisch-Witzes» «ganz passabel», ansonsten aber eher «der Sache» schädlich. Geschichten über Männer waren nun wirklich mehr als genug geschrieben worden, und selbst wenn die soziale Konstruktion Geschlecht theoretisch relational zu denken ist, so schien die zu präorisierende Ausrichtung unzweideutig.
Seitdem ist in der akademischen Welt viel passiert. Die Diskussionen um Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften im Allgemeinen und in der Historiografie im Besonderen drehen sich inzwischen nicht mehr allein um Weiblichkeit, obwohl diese Perspektive ohne jeden Zweifel nach wie vor gesellschafts- wie wissenschaftspolitisch ebenso einflussreich wie berechtigt ist. Seit nunmehr einigen Jahren sind auch Fragen nach Männlichkeit oder vielmehr Männlichkeiten in das Blickfeld gerückt. Auch männliches Denken und Handeln wird als geschlechtlich codiert herausgearbeitet. Man will derart das scheinbar «Normale», «Allgemeingültige» und trotz seiner Allgegenwärtigkeit in der Historiografie irgendwie «Unsichtbare» bewusst zum Objekt der Forschung machen.

Von der Provokation zur Differenzierung

Ihren Anstoß hat diese Entwicklung im anglo-amerikanischen Raum und dort vor allem in den USA genommen. Ausgehend vom Gay Liberation Movement einerseits und antisexistischen «Männergruppen» andererseits wurde dort seit den frühen 70er Jahren über Männlichkeit geforscht und als Zweig einer sich als relational begreifenden Geschlechtergeschichte wurden derlei Fragestellungen zu Beginn der 90er Jahre etabliert.
Im deutschsprachigen Raum hat dies ein wenig länger gedauert. Als 1993 erstmals ein Heft der Fachzeitschrift WerkstattGeschichte zu diesem Themenkomplex erschien, konnte die Geschichte von Männern im Rahmen der Geschlechterhistorie tatsächlich noch als «Provokation» bezeichnet werden. Inzwischen aber sind historische Männerstudien auch hierzulande verbreiteter denn je und regelrecht en vogue.
Die so viel beschworene und mit so auffallend männlich besetzten Metaphern («Pionier», «Entdeckung», «dark continent») charakterisierte erste Phase ist vorüber, und die Zeit der feinen Differenzierungen ist eingetreten. Die Suche nach einer vermeintlichen essentiellen Männlichkeit wurde zugunsten pluraler Männlichkeiten aufgegeben, bei denen Geschlechterentwürfe in einem mehrfach aufeinander bezogenen Rahmen mit anderen gesellschaftlichen Strukturkategorien wie etwa «Rasse», Klasse, Alter oder Region analysiert werden.

Themen- und Fragekomplexe

Es sind namentlich drei Themen- und Fragekomplexen, denen sich die internationale Geschlechtergeschichte der Männlichkeiten zugewandt hat: Erstens widmet man sich der Position von Männern zwischen Familie und Arbeitsplatz; hier sind es in erster Linie die eng miteinander verknüpften Konzeptionen von Vaterschaft sowie des «Broterwerbs», die beleuchtet werden. Schließlich sei «Broterwerb», so der US-Historiker Robert Griswold, «das große organisierende Prinzip des Männerlebens».
Ein zweiter Schwerpunkt fragt nach der Sozialität von Männern außerhalb der Familie. Hier existiert inzwischen ein breites Literaturspektrum, das von der Figur des «einsamen Helden» über verschiedene Formen homosozialer Bindungen bis zum modernen Staat als Männerbund reicht. Solche homosozialen Gesellungsformen sind aus historischer Perspektive mittlerweile häufig als Orte männlicher Selbstvergewisserung thematisiert worden, als räumliche wie symbolische Strukturen zur (Re-)Produktion gesellschaftlicher Hegemonialität.
Ein dritter Bereich versammelt schließlich die Forschung zu männlicher Sexualität. Auch hier wird ein großer Bereich abgedeckt, der deutlich macht, wie sehr Sexualitätsgeschichte und die Geschichte von Politik, Kultur und Gesellschaft aneinander gekoppelt sind. Wichtig ist hierbei ferner, dass sich seit einigen Jahren vermehrt der Geschichte der Heterosexualität zugewandt wird.
Mit diesem letzten Hinweis verbindet sich eine Beobachtung, die den skizzierten Trend einer Geschlechtergeschichte der Männlichkeiten in einen weiteren Rahmen zu platzieren vermag. Denn die Wiederkehr eigentlich überwunden geglaubter Kategorien in verändertem Gewand kennzeichnet auch andere Bereiche der akademischen Geschichtswissenschaft.
Die sich als progressiv betrachtenden Varianten der Historie hatten sich im Anschluss an die sozialen Revolten der 60er und 70er Jahre jede nur erdenkliche Mühe gegeben, all jene sozialen Gruppen zum bislang defizitären Bild der Geschichte hinzuzufügen, die in der herkömmlichen Forschung nicht thematisiert worden waren. Die Frauen- und Geschlechtergeschichte, die Geschichte von Schwulen und Lesben, die Geschichte von Afro-Amerikanern und anderen rassifizierten Menschen, die Geschichte von «Behinderten»… Die Marginalisierten konnten sich aktiv in die Geschichte einschreiben, sich eine gebrauchsfähige Vergangenheit geben.
Seit einigen Jahren nun tauchen die ehemaligen Zentren, vormals glücklich verabschiedet, aber wieder auf: HistorikerInnen nehmen immer häufiger und inzwischen auch schon im deutschsprachigen Raum «whiteness» in den Blick, wenn sie die soziale Konstruktion von Rasse behandeln. Die «Erfindung» der Heterosexualität beschäftigt die historische Sexualitätsforschung so sehr wie es die Homosexualität getan hat. Und Männlichkeiten avancieren zu einem Schwerpunktthema der Geschlechtergeschichte.

Postmoderne Inspirationen

Zwei Aspekte scheinen diese Entwicklungen zu begründen. Zum einen vollziehen sich Verschiebungen in wissenschaftlichen Feldern immer auch in Form von Generationswechseln, welcher in diesem besonderen Fall noch dadurch vertieft wird, dass jüngeren Historikerinnen und Historikern die Sozialisation durch und enge Verbindung mit den genannten sozialen Bewegungen fehlt.
Wichtiger scheint indes ein zweiter Grund zu sein, der sich an methodisch-theoretischen Neuorientierungen festmachen lässt. Die unterschiedlichen Spielarten «postmoderner» Theorie sind inzwischen selbst in einer so konservativ auftretenden Disziplin wie der Geschichtswissenschaft «angekommen» und ihre bewusst verstörend-provozierenden Fragestellungen positionieren sich als «Neue Kulturgeschichte» nicht zuletzt gegen das inzwischen sozialhistorisch bestimmte Establishment.
Ausgestattet mit den begrifflichen Werkzeugen von so unterschiedlichen TheoretikerInnen wie Michel Foucault oder Judith Butler, von Pierre Bourdieu oder Donna Haraway nehmen ihre «AnhängerInnen» nun genau das kritisch unter die Lupe, was ihre Vorgänger erst der Geschichte hinzugefügt hatten. Die so genannte «linguistische Wende» lies die sprachliche Konstruktion aller Ordnungsschemata sichtbar werden. Und so war der sich verschiebende Fokus zurück zu den ehemaligen Zentren der Narrative nur eine logische Konsequenz: Wenn Weiblichkeit historisch sozial konstruiert war und sich in performativen Akten immer wieder neu «erfindet», dann muss das auch für Männlichkeit gelten. Wenn Weiblichkeit antiessentialistisch zu denken ist, dann bedeutet dies auch den Abschied von der einen, stabilen, transhistorischen Männlichkeit.
Hier tat sich mithin eine Fülle neuer Forschungsfragen auf, deren Beantwortung wir gerade als Boom der historischen Männlichkeitenforschung wahrnehmen. Diese Arbeiten sehen sich keinesfalls in Opposition zur Geschlechtergeschichte, sondern ganz bewusst als innovativen Teil derselben und des feministischen Projektes insgesamt.

Ansätze einer Kritik

So sehr dieser Wandel im Allgemeinen und der neue Blick auf Männlichkeiten im Besonderen produktiv sind, haben sie nichtsdestotrotz auch Kritik nach sich gezogen, die zum Teil durchaus berechtigt ist. So hat beispielsweise der kanadische Kulturwissenschaftler Bryce Traister die Frage aufgeworfen, ob man die neue «Männergeschichte» nicht als akademisches Viagra bezeichnen müsse, denn sie entspreche einer «Wiederaufrichtung männlicher Repräsentationsweisen — von Männern produziert und zumeist auch von Männern analysiert — im Zentrum der akademischen Kulturkritik».
Hierin sind mehrere kritische Stränge verknüpft. Zunächst erstens natürlich die Frage nach dem akademischen und auch institutionellen Rahmen, in dem die neue Forschungsrichtung zu verorten ist. Wie genau «passt» die neue Forschung in die Geschlechtergeschichte, wie verhält sie sich zu den Gay-/Lesbian Studies oder den Queer Studies? Dies ist etwas, was gerade in Zeiten knapper Budgets und der gesamtgesellschaftlichen Forderung nach einer Rückkehr zu traditionellen und unmittelbar verwertbaren Themen — zu denen die Geschlechterforschung insgesamt ja nie wirklich gehörte — umso problematischer erscheint.
Zweitens fordert die Namensgebung zum Nachdenken auf. «Männergeschichte» verbietet sich aus nahe liegenden Gründen und wird inzwischen hierzulande vornehmlich durch «Historische Männlichkeitenforschung» ersetzt. Der Begriff «Männergeschichte» hat sich indes als Label zur Kennzeichnung solcher Arbeiten eingebürgert, die lediglich auf einen fahrenden Zug aufzuspringen versuchen, ohne die methodisch- theoretischen Grundannahmen der feministischen Geschlechtergeschichte mit zu tragen.
Drittens stoßen die nun wieder in so großer Zahl angesprochenen weißen, christlichen Männer der Mittelklasse auf Widerspruch. Doch können die besseren der neuen Arbeiten zu Recht darauf verweisen, dass es in ihren Texten eigentlich gar nicht um Männer gehe: ihr Thema seien die historisch je spezifischen Männlichkeiten, mithin Zuschreibungen, Denk- und Handlungsweisen, die gar nicht zwangsläufig an männliche Körper gebunden seien, sondern ebenso gut Frauen oder auch gesellschaftlichen Institutionen zu Eigen sein könnten.
Betrachtet man sich die international beständig wachsende Anzahl von Publikationen und Tagungsbeiträgen zu historischen Männlichkeiten, dann scheint sich diese Forschungsrichtung zu einem festen Bestandteil der Geschichtswissenschaft zu etablieren. Doch nur wenn sie sich als Bestandteil einer zu mehreren weiteren gesellschaftlichen Sturkturkategorien in Bezug stehenden Geschlechtergeschichte begreift und nicht hinter den dort etablierten methodisch-theoretischen Leistungen zurückfällt, kann sie sich zu einem wirklich bedeutsamen Feld progressiver Historie entwickeln.

Olaf Stieglitz

Olaf Stieglitz lebt und arbeitet als Historiker in Köln. Soeben von ihm (und Jürgen Martschukat) erschienen: «Es ist ein Junge!» Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten in der Neuzeit, Tübingen: Edition diskord

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