SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2006, Seite 20

Slavoj Zizek über

Jack Bauer und die Ethik der Dringlichkeit

Die fünfte Staffel von 24, der äußerst erfolgreichen Fernsehserie des US-Senders Fox, lief am 15.Januar in den USA an. [Die vierte Staffel läuft in Deutschland ab 13.Januar bei RTL II.] Jede Staffel der Serie besteht aus 24 einstündigen Folgen, die den Arbeitstag der fiktiven in Los Angeles ansässigen Antiterroreinheit CTU bei ihren verzweifelten Versuchen, einen katastrophalen Terroranschlag zu durchkreuzen, schildern. (In der vierten Staffel verhinderten sie, dass eine gestohlene Atomwaffe über eine größere Stadt der USA hochging.) Der -Charakter der Serie vermittelt ein starkes Gefühl von Dringlichkeit. Dies wird durch das Ticken einer digitalen Uhr betont und mit Handkameraaufnahmen und einem unterteiltem Bildschirm, der parallel verlaufende Aktionen zeigt, verstärkt.
Sogar die Werbeunterbrechungen tragen dazu bei: Vor einem Werbeblock sehen wir auf dem Bildschirm eine digitale Uhr, die bspw. anzeigt, dass es 7.46 Uhr ist. Wenn die Handlung wieder aufgenommen wird, zeigt die Uhr 7.51 Uhr. Die Länge der Werbeunterbrechung in der Realzeit entspricht exakt der zeitlichen Lücke im Handlungsverlauf auf dem Bildschirm, als ob die Ereignisse weitergingen, während wir die Werbung sahen. Dies erweckt den Anschein, dass der Handlungsverlauf so bedrückend ist und in die Realzeit des Zuschauers eindringt, dass selbst ein Werbeblock ihn nicht unterbrechen kann.
Daraus ergibt sich eine entscheidende Frage: Was ist die ethische Bedeutung dieses alles durchdringenden Gefühls der Dringlichkeit? Der Druck der Ereignisse ist so überwältigend, die Einsätze sind so hoch, dass sie eine Aufhebung der gewöhnlichen ethischen Bedenken erforderlich machen. Wenn das Leben von Millionen Menschen auf dem Spiel steht, spielen moralische Skrupel ja nur dem Feind in die Hände.

Was getan werden muss

Die CTU-Agenten agieren in einem Schattenreich außerhalb des Gesetzes, sie tun Dinge, , um die Gesellschaft vor der terroristischen Bedrohung zu bewahren. Dazu gehört nicht nur das Foltern von gefangenen Terroristen, sondern auch das Foltern von CTU-Mitgliedern oder deren Angehörigen, wenn sie verdächtigt werden, Verbindungen zu Terroristen zu haben. In der vierten Staffel waren unter den Gefolterten der Schwiegersohn des Verteidigungsministers und sein eigener Sohn (beide mit vollem Wissen und Billigung des Ministers) sowie ein weibliches Mitglied der CTU, die zu Unrecht verdächtigt wurde, Informationen an Terroristen weitergegeben zu haben. (Als nach der Folter neue Fakten ihre Unschuld bestätigen, wird sie aufgefordert, wieder an die Arbeit zu gehen. Und da dies eine Notsituation ist und jeder gebraucht wird, akzeptiert sie dies!) Die CTU-Agenten behandeln nicht nur Terrorismusverdächtige auf diese Weise — sie haben ja mit der zu tun, wie sie Alan Dershowitz in seinem Buch Why Terrorism Works beschworen hat, um die Folter zu rechtfertigen. Sie betrachten sich auch selbst als entbehrlich und sind bereit, das Leben ihrer Kollegen oder ihr eigenes Leben zu opfern, wenn dies hilft, den Terroranschlag zu verhindern.
Special Agent Jack Bauer, gespielt von Kiefer Sutherland, verkörpert diese Haltung in Reinkultur. Ohne Skrupel foltert er andere und erlaubt er seinen Vorgesetzten, dass sie sein Leben aufs Spiel setzen. Am Ende der vierten Staffel ist er einverstanden, dass er an die Volksrepublik China ausgeliefert wird, als Sündenbock für eine verdeckte CTU-Operation, bei der ein chinesischer Diplomat getötet wurde. Obwohl er weiß, dass er gefoltert und für den Rest seines Lebens eingesperrt werden wird, verspricht er, nichts preiszugeben, was die Interessen der USA verletzen könnte. Das Ende der vierten Staffel lässt Jack in einer paradigmatischen Situation zurück: Als er von dem ehemaligen US-Präsidenten, seinem engen Verbündeten, informiert wird, dass jemand in der Regierung seinen Tod befohlen hat (ihn an die gerissenen chinesischen Folterer auszuliefern wird als ein zu großes Sicherheitsrisiko angesehen), organisieren seine beiden engsten Freunde in der CTU seinen vorgetäuschten Tod. Er verschwindet daraufhin ins Nirgendwo und existiert offiziell nicht mehr.

Die fundamentale Lüge

Im sind nicht nur die Terroristen, sondern auch die CTU-Agenten zu dem geworden, was der Philosoph Giorgio Agamben homines sacri nennt — jene, die straflos getötet werden können, da ihr Leben in den Augen des Gesetzes nicht mehr zählt. Während die Agenten im Auftrag einer legalen Macht agieren, werden ihre Handlungen nicht mehr vom Gesetz gedeckt oder eingeschränkt — sie operieren in einem leeren Raum innerhalb des Herrschaftsbereichs des Gesetzes.
Und hier stoßen wir auf die fundamentale ideologische Lüge der Serie: Trotz dieser durch und durch rücksichtslosen Haltung der Selbstinstrumentalisierung bleiben die CTU-Agenten, besonders Jack, , die in den üblichen emotionalen Zwickmühlen Leute gefangen sind. Sie lieben ihre Ehefrauen und Kinder, sie leiden an Eifersucht — aber von einem Moment auf den anderen sind sie bereit, diejenigen, die sie lieben, für ihre Mission zu opfern. Sie sind gewissermaßen das psychologische Äquivalent zu koffeinfreiem Kaffee: Sie tun all diese schrecklichen Dinge, die die Situation erfordert, doch sie zahlen nicht den subjektiven Preis dafür.
Entsprechend kann man 24 nicht einfach als eine Rechtfertigung der problematischen Methoden der USA in ihrem Krieg gegen den Terror durch die populäre Kultur abtun. Es steht mehr auf dem Spiel. Erinnern wir uns an die Lehre von Francis Ford Coppolas Apocalypse Now: Die Gestalt des Kurtz ist nicht eine Erinnerung an eine barbarische Vergangenheit, sondern das notwendige Resultat der modernen westlichen Macht. Kurtz war ein perfekter Soldat — als solcher, durch seine Überidentifikation mit dem militärischen Machtsystem, verwandelt er sich in einen Exzess, den das System in einer Operation zu eliminieren hatte, die seinerseits die Rücksichtslosigkeit von Kurtz imitiert.

Die ethische Versuchung

Das Dilemma für die Machthaber lautet: Wie können wir einen Kurtz schaffen ohne seine Pathologie? Wie können wir Leute dazu kriegen, die notwendige Schmutzarbeit zu leisten, ohne dass sie sich in Monster verwandeln? Heinrich Himmler, der Chef der SS, war mit demselben Dilemma konfrontiert. Als er vor der Aufgabe der Vernichtung der europäischen Juden stand, nahm Himmler die heroische Haltung des an. Es ist leicht, für sein Land eine noble Tat zu tun — bis hin zum Opfer des eigenen Lebens. Es ist viel schwerer, für sein Land ein Verbrechen zu begehen.
In Eichmann in Jerusalem lieferte Hannah Arendt eine präzise Beschreibung, wie die Nazi-Henker die von ihnen begangenen schrecklichen Taten aushielten. Die meisten von ihnen waren nicht einfach böse; sie waren sich wohl bewusst, dass ihre Taten für ihre Opfer Demütigung, Leid und Tod bedeuteten. Ihr Ausweg aus dieser Lage war folgender: Auf diese Weise waren sie in der Lage, die Logik des Widerstands gegenüber der Versuchung umzudrehen: Ihre Anstrengung richtete sich auf die Aufgabe, der Versuchung zu widerstehen, nicht zu morden, zu foltern und zu demütigen. Somit wurde die Verletzung spontaner ethischer Instinkte von Mitleid und Erbarmen in einen Beweis für ethische Größe verwandelt: Seine Pflicht zu tun bedeutete, die schwere Last auf sich zu nehmen, anderen Schmerz zuzufügen.
Für Himmler lag hier ein weiteres vor: Wie konnte sichergestellt werden, dass die SS-Henker, die diese schrecklichen Taten begangen, menschlich blieben und ihre Würde bewahrten? Seine Antwort fand er im Bhagavad-Gita, von dem er stets eine in Leder gebundene Ausgabe bei sich trug. Dort sagt Krishna gegenüber Arjuna, dass dieser seine Taten mit innerer Distanz vollziehen und sich niemals vollständig in sie hineinziehen lassen solle.
Auch darin besteht die Lüge von 24: Die Annahme, dass es nicht nur möglich ist, die menschliche Würde bei der Durchführung von Terrorakten zu bewahren, sondern dass, wenn eine ehrliche Person solche Handlungen als Erfüllung einer schweren Pflicht begeht, ihr dies eine zusätzliche tragisch-ethische Größe verleiht. Aber was, wenn solch eine Distanz möglich ist? Was, wenn es wirklich Menschen gibt, die als Teil ihres Jobs Schreckliches tun, während sie privat liebevolle Ehemänner, gute Eltern und treue Freunde bleiben? Hannah Arendt wusste: Weit davon entfernt, sich dadurch freizukaufen, ist die Tatsache, dass sie fähig sind, ihre Normalität zu bewahren, während sie solche Handlungen ausführen, die endgültige Bestätigung ihrer moralischen Katastrophe.
Was ist nun mit der populären und scheinbar überzeugenden Antwort auf all diese die Folter betreffenden Aufregungen und haarspalterischen Unterscheidungen: Darauf sollte man mit einer einfachen Gegenfrage antworten: dies die einzige Bedeutung der Stellungnahmen der US-Regierung ist, warum nur geben sie dies zu? Warum machen sie nicht stillschweigend weiter wie bisher?
Der menschlichen Rede inhärent ist die unüberbrückbare Kluft zwischen dem geäußerten Inhalt und dem Akt der Äußerung: Zum Beispiel wissen wir alle, dass es höflich ist, wenn wir sagen: , obgleich wir den Vortrag eines Kollegen dumm und langweilig fanden. Wenn wir stattdessen unserem Kollegen offen unsere Meinung sagten, wäre er völlig zu Recht überrascht. Der Akt der öffentlichen Berichterstattung über etwas ist niemals neutral — er berührt den berichteten Inhalt selbst.
Dasselbe gilt für die jüngst offen zugegebene Folter: Wenn wir Dick Cheney obszöne Bemerkungen über die Notwendigkeit von Folter machen hören, sollten wir fragen: Das heißt, die Frage, die wir aufwerfen müssen, lautet: Was 24 wirklich so problematisch macht, ist nicht die Botschaft, die die Serie übermittelt, sondern die Tatsache, dass diese Botschaft so offen geäußert wird. Es ist ein trauriges Anzeichen des tiefreichenden Wandels in unseren ethischen und politischen Standards.

Slavoj Zizek

(Übersetzung: Hans-Günter Mull)



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