SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2006, Seite 21

Georg Herwegh: Briefe 1832—1848. Gesamtausgabe, Bd.5 (Hg. I.Pepperle), Bielefeld: Aisthesis, 2005, 466 S., 98 Euro

Georg Herwegh — Beginn einer Neuedition

Den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen war Georg Herwegh (1817 bis 1875) vor allem wegen seiner Gedichte eines Lebendigen oder seiner Teilnahme an einem reichlich verunglückten Freischarenzug im April 1848 bekannt. Später rief er sich der Öffentlichkeit mit dem «Bundeslied» für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein («Mann der Arbeit, aufgewacht! / Und erkenne deine Macht! / Alle Räder stehen still, / wenn dein starker Arm es will») in Erinnerung oder mit Gedichten, die Bismarcks Politik und den nationalistischen Taumel nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 geißelten.
Dass seine Werke heute kaum mehr auf Büchergestellen stehen, hat damit zu tun, dass die Auseinandersetzungen jener Tage in weite Fernen gerückt scheinen. Es hat aber auch einen ganz praktischen Grund: Nach einer Edition seiner Gedichte und einzelner Aufsätze in drei Teilen im Jahr 1909 gab es nur vereinzelte Publikationen, die Einblick in Herweghs Schaffen bieten. Letzteres soll sich nun mit einer auf sechs Bände angelegten kritischen und kommentierten Gesamtausgabe seiner Werke und Briefe ändern.
Ein erster Band mit Briefen aus den Jahren 1832—1848 liegt seit letztem Herbst vor. Ein Teil der darin versammelten Briefe zeigt uns Herwegh in Zürich, wo sich der vor der Wiedereinberufung ins Militär geflohene Poet zunächst eher schlecht als recht durchschlug. So schreibt er 1840 an den Schauspieler Wilhelm Gerstel: «An Deinen Schuhen ist auf einer Seite die Naht aufgetrennt, und heute flickt wohl kein Schuster. Meine eigenen Stiefel sind noch abwesend. Ich schäme mich recht gründlich, Dich um ein Paar Stiefel bitten zu müssen.»
Zahlreiche Briefe sind auch an seine Verlobte und spätere Ehefrau Emma Siegmund gerichtet, mit der sich Herwegh — inzwischen ein gefeierter Dichter — während einer Deutschland-Tournee 1842 verlobte.
In ihnen ist von den persönlichen und politischen Plänen der beiden die Rede, von Georgs Verstimmung, wenn er zu lange auf einen Brief warten muss, und — von der Liebe. Kompliziert wird die Situation dadurch, dass Herwegh die Zürcher Aufenthaltsbewilligung entzogen wird, worauf das frisch vermählte Paar in die französische Metropole zieht.
Zahlreiche Briefe sind denn auch in Paris abgefasst, wo Herwegh etwa mit Bakunin verkehrt oder mit der Schriftstellerin Marie d‘Agoult, die er bei ihren Artikeln über die zeitgenössische deutsche Literatur berät. Zwischendurch zieht es Herwegh ans Meer. In Nizza beobachtet er mit Karl Vogt Krebse und Medusen. Diese Naturstudien, schreibt er später im Oktober 1847 an Emma, entspringen dem Bedürfnis «sinnlicher Anschauung, der Objektivität, der Ueberwindung des alten Dualismus von Natur und Geist, und (über Goethe hinaus) auch von Natur und Geschichte».
Um die Mitte der 1840er Jahre wird der Rahmen des lyrischen Gedichts Herwegh «täglich enger». Ihm schwebt, wie er gegenüber Marie d‘Agoult bemerkt, ein Gedicht vor «wie die Divina Comoedia … eine Ablage der ganzen modernen Weltanschauung, unseres ganzen Freiheitskampfs von der Reformation durch die Revolution bis zu unseren Tagen, mit der Perspektive in die Zukunft, die tragisch-komische Stellung des deutschen Volks, dem‘s an keiner Stufe der Freiheit genügt, weil es ihren Begriff am höchsten gefaßt, das durch diese Theorie unsäglich elend ist, weil sie es zu keiner Praxis kommen läßt.»
Der Plan beschäftigte Herwegh noch lange, geschrieben hat er dieses Werk leider nie.
In jenen Jahren rechnete Herwegh wie mancher seiner Diskussionspartner mit einer Revolution. In der Schweiz erfolgte sie 1847 in Gestalt eines kurzen Feldzugs der liberalen gegen die konservativen Kantone, die sich in einem Sonderbund zusammengeschlossen hatten, und der Bundesverfassung von 1848. Herwegh verfolgte die Ereignisse von Paris aus. Am 6.Dezember 1847 schreibt er Emma nach Berlin: «Die Schweizer Geschichten sind gut ausgefochten worden und Du musst Sie nicht gar zu sehr über die Achsel ansehen. Der Urwirthschaft des Sonderbunds ist für immer ein Ende gemacht.»
Die Erwartung einer Revolution in Deutschland erfüllte Herwegh nicht nur mit Hoffnung. So schreibt er Anfang 1846 an den Publizisten Karl Heinzen: «So wenig ich einsehe, warum wir keine Revolution machen, so schwach sind meine Hoffnungen, dass wir eine machen werden. Sie wird kommen — ja, aber ich fürchte wie ein Naturereignis, und die brutale Explosion kann uns Alle mit in die Luft führen.»
Der Sturz des Bürgerkönigs und die Pariser Februarrevolution versetzen Herwegh in Begeisterung. Am 25.Februar 1848 schreibt er an Karl Pfeufer: «Ich habe den schönsten Tag des Jahrhunderts mitgemacht.» Bei allem Enthusiasmus entgeht ihm aber nicht, dass weitere Auseinandersetzungen anstehen. Zwei Tage später heißt es in einem Brief an Johann Jacoby: «…und doch trägt diese Revolution ein wesentliches sociales Gepräge, wie Ihr aus allen bisher erschienenen Ordonanzen ersehen könnt … Die Ausführung wird zum Theil andere Menschen erfordern, als das provisorische Gouvernement darbietet und auch nicht ohne Kampf und mancherlei Verwicklung durchgesetzt werden.»
Als sich in Deutschland die demokratische Opposition stärker regt, beteiligt sich Herwegh als politischer Leiter an einem Freischarenzug, der die Flamme der Revolution von Frankreich aus in den deutschen Süden tragen soll. An Johann Jacoby schreibt er Mitte April 1848 aus Straßburg:
«Ich mag die Republik nicht votieren lassen, sondern will sie zu machen suchen, sei‘s auch im entferntesten Winkel Deutschlands. Einmal ein fait accompli, so nehmt Ihr sie doch alle an. Glückt‘s nicht und kommt‘s gar nicht zum Versuch, so geh ich hin, wo ich hergekommen, was ich auch tun würde, wenn‘s glückte, denn von der deutschen Freiheit, auch in einer Republik hab ich keine gar großen Begriffe.» Die Sache glückte bekanntlich nicht, und Emma und Georg Herwegh konnten froh sein, dass ihnen die Flucht über den Rhein in die Schweiz gelang.
Das Jahr 1848 bedeutete nicht nur für Georg Herwegh einen wichtigen Einschnitt, sondern auch für die europäische Geschichte. Wie Herwegh diesen Wendepunkt gedanklich verarbeitet hat, ist bisher nur zum Teil bekannt. Es bleibt abzuwarten, ob der Band mit den Briefen von 1849 bis 1875 hier neue Einsichten liefert.

Martin Stohler

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