SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2006, Seite 24

Festrede von Nikolaus Harnoncourt

Mozart braucht unsere Ehrungen nicht — wir brauchen ihn!

Mit Festkonzerten, Ausstellungen und Premieren begingen die österreichischen Mozartstädte Salzburg und Wien den 250.Geburtstag des Komponisten am 27.Januar 2006. Zum Auftakt der offiziellen Eröffnung des Mozartjahrs in Salzburg hielt der Dirigent Nikolaus Harnoncourt beim Festakt im Mozarteum eine überaus kritische Rede.

Weil ich meine, Mozarts Symphonie ist die eigentliche Eröffnungsrede, möchte ich Sie vorher begrüßen, sehr geehrter Herr Bundespräsident, und liebe Musikfreunde, da sind natürlich auch die übrigen Würdenträger inbegriffen.
Die Symphonie, die wir jetzt spielen werden, wurde als Mittelstück der sicherlich zusammengehörigen drei letzten Symphonien komponiert. Sie stellen offenbar eine Art Weg des Menschen zu einem Ziel dar. Ausgehend von der Symphonie in Es-Dur, dem , aber auch des , führt Mozart uns in die Abgründe der alles in Frage stellenden g-Moll-Symphonie, um danach im strahlenden C-Dur der Jupitersymphonie alles glücklich aufzulösen und den zuvor verstörten Hörer in Harmonie zu entlassen. Von den mehr als 40 Symphonien Mozarts stehen nur zwei in Moll, beide in g-Moll. G-Moll wurde damals als Todestonart, auch als Tonart der Traurigkeit bezeichnet und empfunden.
Schon im ersten Thema, das Sie gleich hören werden, gibt es keine einzige direkt angespielte Note, auf jedem Ton liegt eine Appoggiatur, ein Vorschlag von oben oder von unten. So wird das scheinbar Einfachste, ja das Selbstverständliche ungreifbar, es verschwimmt — man hört wie durch welliges Wasser gesehen. Der 2.Satz beginnt mit dem leicht versteckten Fugenthema der Jupitersymphonie, er steht in Es-Dur, als sollten die Alpträume des 1.Satzes weggewischt werden und so gleichsam eine herbeigefleht werden. (Das Orchester spielt die ersten beiden Sätze der g-Moll-Symphonie.)
Und jetzt, nach dieser unfassbaren Musik, wo jede Sprache arm wird, wo wir schweigen müssten, jetzt soll ich noch etwas über Mozart sagen und womöglich auch über dieses Jahr. Nein, zu dieser Musik passen keine Festreden. Wie könnte ich da noch etwas über Mozart sagen? Niemand kann es, aber alle tun es jetzt. Österreich heißt in diesem Jahr Mozart. Aber das hat nichts mit ihm zu tun, ich fürchte, mehr mit Geld und Geschäft. Eigentlich müssten wir uns ja genieren. Denn was Mozart von uns verlangt und seit mehr als 200 Jahren verlangt, wäre so einfach: Wir müssten ganz still und aufmerksam zuhören, und wenn wir seine wortlosen Beschwörungen und Plädoyers verstünden, dann müssten wir uns, wie schon gesagt, eigentlich eher genieren als uns stolz zu brüsten.
Jetzt bejubeln wir ihn und das klingt fast so, als wollten wir uns selbst bejubeln. Wir haben aber überhaupt keinen Grund, auf irgendetwas stolz zu sein, was mit Mozart zusammenhängt. Schon seit damals, als er hier in Salzburg und in Wien lebte. Er verlangt etwas von uns mit der unerbittlichen Strenge des Genies und wir bieten ihm unsere Jubiläen mit ihren Umwegrentabilitäten und Geschäften und lassen seine Töne zerstückelt aus allen Werbekanälen tropfen. Das dürfte einfach nicht sein, das ist ein Skandal und eine Schande — wie kann man das tolerieren? Aber wenn so ein Besinnungsjahr trotz alledem einen Sinn haben soll, dann müssen wir hören — hören — hören — und können dann vielleicht einen kleinen Teil der Botschaft verstehen. Mozart braucht unsere Ehrungen nicht — wir brauchen ihn und seinen aufwühlenden Sturmwind. So ein Jahr ist in Wirklichkeit unsere Chance.
Was ist denn der Inhalt seines Plädoyers? Es ist die Kunst selbst, es ist die Musik und wir haben die Rechenschaft darüber abzulegen, was wir mit ihr gemacht haben und immer noch machen — und darüber, was wir versäumen und nicht machen.
Die Kunst und mit ihr die Musik ist ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lebens, sie ist uns geschenkt als Gegengewicht zum Praktischen, zum Nützlichen, zum Verwertbaren. Es leuchtet mir ein, was manche Philosophen sagen, dass es die Kunst und eben die Musik ist, die den Menschen zum Menschen macht. Sie ist ein unerklärliches Zaubergeschenk, eine magische Sprache.
Die letzten Generationen haben ihr Schwergewicht immer mehr und mehr auf das unmittelbar Verwertbare gelegt. Man meint wohl, die Glückserwartung scheine nur im Materiellen zu liegen, Glück wird mit Wohlstand und Wohlstand mit Besitz gleichgesetzt: Es geht mir besser, je mehr ich besitze. Und diese Einstellung wirkt sich bereits in der Erziehung und in den Lehrplänen der Schulen aus. Nach und nach wird alles Musische verdrängt, alles, was die Fantasie fördert und was unverzichtbar ist — fast müsste man schon sagen: wäre — für ein menschenwürdiges Leben. Heute können hier die meisten Kinder nicht einmal mehr singen, weil sie nie dazu angeleitet wurden, sie wissen nicht, wie man die Töne formt, und sie kennen keine Lieder. Da fängt aber das Musik-Machen, das Musik-Verstehen an, mit 3, 4, 5 Jahren schon. Später überlässt man es sowieso dem Radio und dem Walkman.
Dieses Jahr jetzt mahnt uns in aller Eindringlichkeit, dass unsere Kinder ein Recht auf eine volle Bildung und nicht nur Ausbildung haben. Es ist symptomatisch für unsere Bildungsziele, dass bei den Kontrollmethoden — etwa der Pisa-Studie — die Musik praktisch keine Rolle spielt. Nebenbei bemerkt: Die beiden Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die über Bildung und Kultur handeln, Nr.26 und 27, sind von peinlicher Dürftigkeit. Wenn zu Rechnen, Schreiben und Lesen nicht die Kunsterziehung gleichgewichtig hinzutritt, wenn das Nützlichkeitsdenken alles beherrscht — und wir sind nahe daran — dann besteht höchste Gefahr, dass der Materialismus und die Raffgier zur götzenhaften Religion unserer Zeit wird.
Ist es nicht schon so weit? Kardinal König sagte vor einigen Jahren: Pascal sprach im 17.Jahrhundert von den zwei einander bedingenden Denkweisen des Menschen: Er nannte sie das arithmetrische Denken und das Denken des Herzens. Kierkegaard warnte schon um 1840 vor dem drohenden Materialismus, er schrieb: übersieht aber
Es geht mir jetzt nicht so sehr um eine größere Beachtung der Kunst in ihrem erlauchten Spitzenbereich, es geht darum, dass diese höchsten Formen schließlich ins Leere rufen, wenn niemand mehr die Sprache versteht. Die Musik ist ja keineswegs die abgehobene Geheimsprache einer arroganten, selbstbewussten und privilegierten Minderheit, nein, jeder kann ihre Botschaft mitbekommen, kann teilnehmen an ihren Reichtümern, wenn die Antennen von klein auf richtig eingestellt werden.
Da die Kunst im Bereich der Fantasie zu Hause ist, hat sie etwas Rätselhaftes, nicht Erklärbares. Ihre unsichtbare Macht ist gewaltig und gefährlich, ihre Wirkung subversiv. Deshalb haben Machthaber immer wieder versucht, sich ihrer zu bedienen. Ohne Erfolg, denn Kunst ist stets oppositionell und souverän, sie lässt sich weder zähmen noch einverleiben. Die Musik ist eine Sprache des Unsagbaren — die aber manchen letzten Wahrheiten wohl eher nahe kommt als die Sprache der Worte, mit ihrer Logik, mit ihrer Eindeutigkeit, ihrem schrecklichen Ja oder Nein.
Die Rolle, die wir der Kunst zubilligen, ist vielfach, sie uns dienstbar zu machen, oder sie zu zähmen. In unserem schönen, geförderten Musikleben sollen die Menschen nach aufreibender Arbeit Freude und Erholung finden, sollen wieder Kraft finden für den Alltagsstress. (Die Nazis nannten das — mit ähnlicher Begründung wie bei den Menschenrechtsartikeln.) Ein gefährlicher Schritt im langen und illegalen Prozess, Kunst zu machen.
Die Musik der großen Komponisten hat diesen Trend fast nie bedient, sie war schon immer viel mehr: nämlich sensible Reaktion auf die geistige Situation der Zeit. Sie war und ist ein Spiegel, der den Hörer sich selbst zu erkennen half, der ihn auch in Abgründe blicken ließ: Als man Mozarts g-Moll-Symphonie zum ersten Mal hörte, wurde gefragt, ob derartige Erschütterungen zulässig seien. Diese Symphonie ging ja für die Menschen damals bis in die Extreme der musikalischen Sprache. Der Züricher Musikästhetiker und Kulturphilosoph Hans Georg Nägeli (1773—1836) bezweifelte — wie manche seiner Zeitgenossen —, ob derartiges noch zulässig und zumutbar sei. Damals ist — im Gegensatz zu heute — wohl keiner beruhigt nach Hause gegangen.
Durch die Kunst werden wir ja zu Erkenntnissen geführt, oft geradezu gestoßen: Sie ist der Spiegel, in den wir schauen müssen. Um dem zu entkommen, hat man eine bloß ästhetisierende, manche sagen Art, mit Kunst umzugehen angenommen. Man hört Musik, man sieht Bilder — aber man lässt sich lieber nicht von ihr erschüttern, oder gar umkrempeln.
Als junger Orchestermusiker vor 50 Jahren musste ich die g-Moll-Symphonie jährlich oft und oft spielen — damals immer lieb und hübsch, die Zuhörer wiegten selig ihre Köpfe, man sprach nachher von . Die Partitur auf meinem Pult aber sagte anderes: Wie hier alles in Frage gestellt, ja geradezu zerstört wird: die Melodie, die Harmonie, der Rhythmus. Nichts ist so, wie es korrekterweise sein müsste, außer vielleicht das romantische Trio des sog. Menuetts. Es kann schon sein, dass man vor 50 Jahren, nach dem Krieg, die ausstrahlende Harmonie, das rein Beglückende gebraucht hat — die Kehrseite der Medaille hatte man ja grausam erlebt. So kehrten praktisch alle Mozart-Interpretationen damals das Helle, Positive hervor und unterdrückten das Erschütternde.
Diese wurde zu meiner persönlichen Schicksalssymphonie, sie hat mein Leben nachhaltig verändert, da ich sie eines Tages, nach 17 Jahren als Orchestercellist, so nicht ein einziges Mal mehr spielen wollte, ich verließ das Orchester…
Man kann in dieser Symphonie auch ein großes Beispiel sehen, ähnlich vielen Werken der Literatur und der bildenden Kunst: Wie weit darf, soll oder muss Kunst gehen? Aber auch: Was kann und muss der Hörer zu ertragen bereit sein? Mozart ist immer wieder an die Grenze gegangen.
Wie fast alle großen Künstler bleibt Mozart als Person rätselhaft, ja geradezu unheimlich. Man meint alles über ihn zu wissen — sein Leben ist ja bestens dokumentiert — aber wenn man etwas über ihn sagen will, bemerkt man, dass man ihn überhaupt nicht kennt. Unser geschichtliches oder biografisches , ganz allgemein gesprochen, ist ja kein Wissen. Wir erwerben es indirekt und meinen Augenzeugen zu sein. Wir nehmen die Bilder — etwa des Fernsehens — als Fakten, wir glauben, dabei gewesen zu sein, haben aber nichts gespürt auf unserer Haut und in unseren Herzen. Die Bilder sind Bilder — aber die Wirklichkeit ist nur vorgetäuscht, sie war ganz anders.
Wir werden die Wahrheit über Mozart nie erfahren. Es ist unser selbstgemachtes Bild, das wir dafür halten. Nur das Werk birgt die Wahrheit. Den Menschen zu verstehen scheint unmöglich — so gelangen wir, wie bei vielen Künstlern, zu einer Art Doppelgängersicht. Als gäbe es zwei Mozart: das Wunderkind, den heiteren, extrovertierten jungen Mann, von dem seine Freunde sagten, er sei niemals mürrisch gewesen, der von Jugend an seine Briefe in einem geschliffenen Stil schrieb, gebildet, schlagfertig und sicher.
Den Mozart der Biographien, mit seinen finanziellen, familiären und künstlerischen Krisen; war er reich oder arm? Zerkracht mit seinem Vater oder in liebevoller Harmonie? Wurde er kläglich verscharrt oder entsprach sein Begräbnis den damaligen Vorschriften? War er künstlerisch gescheitert nach dem Wiener Misserfolg von Le nozze di Figaro? Ich glaube kein Wort von alledem, denn, wie Oswald Spengler sagt: — und das tat man über die Maßen.
Aber der andere Mozart, der eigentliche, ist ungreifbar und unbegreifbar. Wenn wir ihn erfassen wollen, müssen wir beschämt erkennen, dass unsere Elle nicht in sein Maßsystem passt. Er kommt von einem anderen Stern. Er lebt nur durch sein Werk — ernsthaft in jedem Augenblick, auch im Witz beklemmend: der , ein ebenso dunkles Stück wie die gespenstische Lach-Arie in Zaide.
Was muss das für ein Schock gewesen sein im Hause Mozart, als der Vater im Kleinkind das Genie erkannte: Man meint ein herziges gescheites Kind zu haben und sieht unvermittelt ein Krokodil. Ein Genie wie Mozart wird nicht plötzlich, das ist — paff — wie ein Meteor aus dem Universum. Kein spielendes Kind, eher ein spielender Erwachsener.
Es ist in der menschlichen Gesellschaft nicht vorgesehen, ein Genie großzuziehen, dafür gibt es keine Vorbilder. So ein dämonisches Wesen okkupiert selbstverständlich seine Umgebung, man kann es nicht , es ist ein geliebter und zugleich beängstigender Hausgenosse. Von seinen ersten musikalischen Äußerungen an ist Mozarts Weg als Künstler von einer Unbeirrbarkeit, von einer atemberaubenden Sicherheit — genau konträr zu seinem Lebensweg.
Schon als Kind komponierte er Werke, deren emotionaler Inhalt weit über das hinausgeht, was er erlebt und erfahren haben konnte. So können wir von dem Jüngling, der er wohl immer war, die letzten und tiefsten Geheimnisse von Liebe und Tod, von Tragik, Schuld und Glück erfahren.
Er zwingt uns in seelische Abgründe zu schauen und kurz darauf in den Himmel: vielleicht ein Griffel in der Hand Gottes.

Quelle: www.styriarte.com/harnoncourt/



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