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Das ist wirklich neu: Auch die Führungen der größeren
französischen Gewerkschaftsverbände sprechen inzwischen vom "Generalstreik". Einen
solchen drohen sie seit dem 18.März der konservativen Regierung unter Premierminister Dominique de
Villepin an, falls sie nicht das Gesetz über den "Ersteinstellungsvertrag" (CPE)
zurückziehe.
In früheren sozialen Konflikten, zuletzt bei der großen Auseinandersetzung um die
"Rentenreform" im Frühsommer 2003, hatten die großen Gewerkschaften den Begriff
grève générale noch regelmäßig vermieden wie der Teufel das Weihwasser. Entweder
betrachteten sie die Aussicht auf eine Kraftprobe in Gestalt eines Generalstreiks als "nicht
realistisch", oder aber ihre Apparate verhandelten längst hinter den Kulissen oder gar
davor, wie im Falle der CFDT die Konditionen für ihre Zustimmung mit der Regierung aus.
Am späten Abend des Samstag, den 18.März und erneut am darauf folgenden Montag
spätnachmittags versammelten sich in Paris die Repräsentanten aller wichtigen französischen
Gewerkschaftsverbände, sämtlicher Richtungsgewerkschaften von den linksalternativen
Basisgewerkschaften SUD-Solidaires über die postkommunistische CGT bis hin zur sozialliberalen CFDT
und dem christlichen Gewerkschaftsbund (CFTC).
Am Samstag, den 18.März ging es
zunächst darum, eine Bilanz aus den nachmittäglichen Straßenmobilisierungen in ganz
Frankreich zu ziehen. Diese waren ein voller Erfolg: Eine bis anderthalb Millionen Teilnehmende waren im
gesamten Land zusammengekommen, wohl rund 200000 hatten allein in Paris demonstriert. Zeitweise kam eine
gewisse karnevalsk-fröhliche Stimmung auf, nicht wenige Demonstrierende waren mit Perücken oder
Clownnasen erschienen.
Im Nachhinein überschattet wird dieser
Erfolg allein dadurch, dass ein Postgewerkschafter von der linken Basisgewerkschaft SUD-PTT am Samstagabend
aufgrund von Polizeigewalt so schwer verletzt wurde, dass er ins Koma fiel, aus dem er möglicherweise
nicht wieder erwachen wird. Der 39-jährige Cyril Ferez geriet mutmaßlich bei Reibereien zwischen
jungen Anarchos und der Bereitschaftspolizei CRS als Unbeteiligter zwischen die Fronten. Nach
minutiösen Augenzeugenberichten etwa in der Tageszeitung Libération wurde er durch CRS-Beamte
schwer misshandelt und liegen gelassen, ärztliche Hilfe wurde ihm zunächst verweigert.
Der 18.März war bereits der zweite
"Aktionstag" mit beeindruckenden Ergebnissen binnen 48 Stunden. Am 16.März hatten die
Studierenden- und Oberschülerorganisationen noch allein dazu aufgerufen, und dennoch kamen um die
400000 Demonstranten. Allein in der Hauptstadt waren es wohl über 50000. Zwei Tage später riefen
dann auch die Gewerkschaften der Arbeiter und Angestellten zusätzlich dazu auf. Tatsächlich waren
alle Generationen auf dem Asphalt vertreten. Von den streikenden Oberschülern über die
"Eltern gegen Prekarität" von der FCPE dem Verband der Elternräte in den
Schulen, der eher linkssozialdemokratisch ausgerichtet ist bis zu älteren Semestern in den
Reihen der CGT. Sie riefen "Villepin, du bist futsch, die Jugend ist auf der Straße". Oder,
einen (in unterschiedlichen Abwandlungen) seit Generationen von Demonstranten besonders beliebten Slogan
variierend: "Oh Villepin, wenn du wüsstest, wo wir uns deine Reform hinstecken. In den A
in den Ah Ah ah ah! Kein Zögern und kein Zaudern: weg mit dem CPE!" Auf Französisch
klingt das ziemlich rund, und wird gern auch gesungen.
Alle waren gegen den CPE, das Kürzel auf vielfältige Weise deutend. Etwa als Cadeau Pour
Exploiteur (Geschenk für den Ausbeuter) oder auch Champagne Pour lElite Cacahuètes
pour Etudiants (Champagner für die Elite, Erdnüsschen für Studenten). Der Konflikt um den so
genannten "Ersteinstellungsvertrag" wird offenkundig nicht nur als Angelegenheit der unter 26-
Jährigen, deren Altersgruppe potenziell vom Abschluss eines Vertrags vom Typ CPE betroffen sind,
betrachtet. Und dies aus gutem Grund.
Der CPE oder Contrat première embauche
stellt nur ein Glied in einer längeren Kette dar. Schon im August hatte das Kabinett de Villepins den
CNE oder "Neueinstellungsvertrag" (Contrat nouvelle embauche) auf dem Notverordnungsweg, also
ohne jede Diskussion im Parlament, eingeführt. Beide Verträge enthalten dieselbe Regelung, der
zufolge neu abgeschlossene Arbeitsverhältnisse zwei Jahre ohne Kündingungsschutz bleiben. Es kann
während dieser Periode vom Arbeitgeber ohne Angaben von Gründen aufgekündigt werden. Danach
geht der Vertrag in ein Normalarbeitsverhältnis über es sei denn, der Arbeitgeber hat sich
entschlossen, einen neuen Beschäftigten in Form eines CNE oder CPE einzustellen. Denn dies bringt ihm
den Vorteil, dass der oder die Lohnabhängige kaum den Mund aufmachen dürfte, im ständigen
Bewusstsein, auf einem Schleudersitz zu hocken. Da es im französischen System keine
Zustimmungserfordernis des Betriebsrats oder seiner ungefähren Entsprechung, des Comité
dentreprise gibt, besteht also in solchen Fällen keinerlei Schutz gegen willkürliche
Entlassungen.
In der Nacht vom 18. zum 19.März
beschlossen die in Paris versammelten Gewerkschaftsvertreter, der Regierung ein Ultimatum zu setzen: Diese
habe bis zum Montagabend (20.März) Zeit, um über einen eventuellen Rückzug des CPE-Projekts
zu entscheiden. Danach, so ihr Beschluss, wollten die Gewerkschaftsorganisationen in der Nacht zum Dienstag
erneut über die daraus folgenden Maßnahmen beraten.
Erstmals schien dabei der Begriff
"Generalstreik" nicht mehr tabu. Am Samstag tagsüber, also noch vor dem abendlichen Treffen,
nahm CGT-Generalsekretär Bernard Thibault ihn anlässlich eines Radioauftritts in den Mund. Auch
anlässlich der Pressekonferenz der Gewerkschaftsverbände, die sie im Anschluss an ihr
Gipfeltreffen am Samstag gegen 23 Uhr am Sitz der CFDT abhielten, fiel das Wort von der grève
générale und wurde prompt in den Berichten des öffentlichen Rundfunksender Radio France Info
übernommen. In der gemeinsamen Abschlusserklärung der Gewerkschaften taucht es dagegen nicht auf.
Nach Auffassung innergewerkschaftlicher Kritiker etwa bei der CGT navigierte ihr Apparat dennoch herum,
um Zeit zu gewinnen. Die Führung favorisierte einen Termin für einen allgemeinen Ausstand erst um
den 30.März herum. Die nationale Streikkoordination der Studierenden und Prekären dagegen schlug
schon acht Tage früher vor, einen solchen Ausstand bereits für den Donnerstag, den 23.März,
auszurufen. Das wünschte die CGT-Führung aber dem Vernehmen nach nicht, denn am selben Tag finden
die Personalratswahlen der französischen Eisenbahner statt und aus Sicht des Bürokraten
haben diese Wahlen Vorrang vor der allgemeinen sozialen Dynamik im Land. Zudem streikt am 23.März auch
bereits das Energieversorgungsunternehmen Gaz de France gegen seine drohende Vollprivatisierung, auf Aufruf
vor allem der CGT hin. Wenn deren Apparat aber eines nicht dulden will, dann die Entstehung einer Dynamik,
die sie nicht länger kanalisieren könnte.
Ein solches "Hinauszögern"
der Ausstände von Arbeitern und Angestellten bis zum Monatsende des März, wie die CGT-
Führung es plante, ließ aber wiederum zahllose linke Kritiker befürchten, dass bis dahin die
Dynamik zwischenzeitlich "verpufft" sei. Tatsächlich lässt sich eine Mobilisierung
nicht unbegrenzt aufrecht erhalten, und viele Hochschulen (etwa die Universitäten von Rennes und
Brest) waren zum Zeitpunkt der Diskussionen bereits seit fünf Wochen im Streik, sodass das
Zustimmungspotenzial zu einer Beendigung des Streiks bei einem Teil der Studierenden der um seinen
Jahresabschluss fürchtet allmählich zu wachsen beginnt.
Der Beschluss vom Montag (20.März), an
dem die Repräsentanten der unterschiedlichen Gewerkschaften erneut von 17 bis 19 Uhr, am
Pariser Sitz des christlichen Gewerkschaftsbunds CFTC zusammengetroffen waren, sieht nunmehr vor, zu
einem Streik- und Aktionstag am Dienstag, den 28.März aufzurufen. Das ist etwas später als der
von vielen linken Kräften favorisierte 23.März.
Dennoch dürfte mit einem Abflauen der
Dynamik bis dahin nicht zu rechnen sein, da die Streikkoordination der Studierenden und Prekären den
Druck aufrecht erhalten und am 23.März selbst eine Großdemonstration organisieren will, die nun
nicht mehr regional zersplittert, sondern an einem einheitlichen Ort, in Paris, stattfinden und dadurch
Kräfte bündeln soll. Der Aufruf für den 28.März, der insgesamt von zwölf
Gewerkschaftsorganisationen von Studierenden, Arbeitern und Angestellten unterschrieben worden ist, spricht
von "breiten Arbeitsniederlegungen im Rahmen eines Aktionstags". Hingegen taucht der Reizbegriff
vom "Generalstreik" darin noch nicht auf.
Dennoch stehen die Zeichen, sofern die Regierung nicht nachgibt, auf eine stürmische
Auseinandersetzung, die auch nach dem 28.März noch fortgehen und im Prinzip noch steigerbar sein
dürfte.
Darin liegt auch ein wesentlicher
Unterschied zum Kampf um die "Rentenreform" im Mai/Juni 2003. Damals bremsten die Führungen
der großen Gewerkschaftsverbände, was das Zeug hielt. Ihre Befürchtung: Die damalige
Regierung unter Jean-Pierre Raffarin könnte kippen, ohne dass die eigenen Ansprechpartner in
Gestalt der sozialdemokratischen Parlamentsopposition und vielleicht noch der KP für eine
Regierungsübernahme gut aufgestellt wären. Auch jetzt spukt in den Köpfen vieler
Führungsmitglieder der Gewerkschaftsdachverbände die Vorstellung herum, dass es doch das
Wichigste sei, im kommenden Jahr zu einem Regierungswechsel zu kommen, denn unter den Sozialdemokraten
werde alles so viel besser.
Nur: Die französische Sozialdemokratie
selbst rät den Gewerkschaftsführungen von allzu viel Bremsertum im Augenblick ab. Denn
während jene gern auf eine Regierungsübernahme durch die Sozialistische Partei warten
würden, zeigt diese sich überzeugt, dass sie dafür erst noch die Wahlen gewinnen muss
und ihr dies nicht im Sessel sitzend gelingen wird. Und das erweist sich also um schwieriger, als die
konservative Regierung fest im Sattel sitzt, die in den letzten drei Jahren fast ihre sämtlichen
"Reformen" auf Biegen und Brechen durchsetzen konnte. Selbst der sozialliberale frühere
Wirtschaftsminister Dominique Strauss-Kahn, vom rechten Flügel der Partei, rief am vorletzten Sonntag
zum Demonstrieren auf.
Deswegen ist in den kommenden Tagen und
Wochen nicht damit zu rechnen, dass die Gewerkschaftsführungen so schnell einknicken, wie sie dies im
Frühsommer 2003 bei der "Rentenreform" taten.
Bernhard Schmid, Paris
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