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Ohne nennenswerte öffentliche Debatte bereiten die EU und die
Rüstungsindustrie den Boden für eine europäische Armee und eine europäische
"Sicherheits"politik.
"Die langfristige Vision umfasst 20 Jahre und drei Themen: 1. die Rahmenbedingungen bei
Wirtschaft, Gesellschaft, demografischer Entwicklung, Umwelt und Recht; 2. der Charakter zukünftiger
Operationen des Krisenmanagements; 3. Wissenschaft und technologische Trends. Haben Sie Fachkenntnisse in
einer dieser Bereiche, würden wir gerne mehr von Ihnen hören..." Das ist nicht die
Stellenanzeige eines exklusiven Thinktanks, sondern ein Aufruf auf der Webseite der Europäischen
Rüstungsagentur (EDA), der EU-Institution für militärische Angelegenheiten. Sein Untertitel
lautet: "Was die Zukunft für Europas Streitkräfte in Aussicht stellt."
Am 21.November 2005 verkündete ein
Bericht von Associated Press: "Die EU wird einen Rüstungsmarkt von 35 Milliarden Dollar
eröffnen." Die Meldung bezog sich auf ein Treffen der Verteidigungsminister in Brüssel, die
beschlossen hatten, einen neuen Verhaltenskodex für die Industrie einzuführen. Dieser Kodex, der
im Juli in Kraft tritt, wird den europäischen Rüstungsmarkt und die Rüstungsbeschaffung
deregulieren. Damit einher geht ein konzertierter Prozess von Fusionen, der zu einer zunehmenden
Beherrschung dieses Wirtschaftszweigs durch die größten Unternehmen führt. Da auf diesem
Markt mit Panzern, Flugzeugträgern und elektronischen Überwachungssystemen gehandelt wird und
nicht mit Unterwäsche oder Orangen, ist große Sorge angesagt.
Heute wird der Rüstungsmarkt in der EU
von einer Handvoll großer Konglomerate dominiert: BAE Systems (Großbritannien), EADS (Frankreich/
Deutschland und Spanien), Thales (Frankreich) und Finmeccanica (Italien), um nur die größten zu
nennen. Regierungen und Konzernlobbyisten drängen auf eine Welle weiterer Fusionen, die die Anzahl der
Unternehmen noch weiter reduzieren wird. Dies ist eines der spezifischen Ziele der EDA, das bei ihrer
Gründung 2004 ausdrücklich benannt wurde.
Das Ausmaß der Konzentration erreicht
US-amerikanische Dimensionen. Ein Bericht des Pentagon stellte 2003 fest, dass die 50 größten
Rüstungslieferanten der frühen 80er Jahre sich in die fünf größten Unternehmen von
heute verwandelt haben. Tatsächlich ist der Konkurrenzdruck aus den USA der von Konzernmanagern wie
Politikern am häufigsten genannte Motor für das gegenwärtige Fusionsfieber. Die
Notwendigkeit, dem militärisch-industriellen Komplex der USA standzuhalten und eine politische
Autonomie Europas zu bewahren, wird aber auch oft angeführt, um die Idee eines "starken"
Europa zu stützen.
Scheinbar wird nach dieser Logik gehandelt.
Von 1991 bis 2000 wurden 57% der Entwicklungs- und Produktionsvorhaben in der EU zwischen Unternehmen der
Mitgliedstaaten durchgeführt und nur 28% mit US-Unternehmen. Zwanzig Jahre zuvor waren es jeweils 42%
und 46%. Dieser Trend wird sich wahrscheinlich fortsetzen, da die Fusionswelle auch die neuen
Mitgliedstaaten erfasst, von denen einige beachtliche rüstungsindustrielle Kapazitäten aufweisen,
und die alle ihre Streitkräfte entlang der EU-Standards reorganisieren müssen.
Die Rüstungsindustrie der EU ist
jedoch auch auf dem globalen Markt auf dem Vormarsch. Der Anteil der USA an den weltweiten
Waffenverkäufen ist 2004 auf 30,7% gesunken (2000: 40,4%) gesunken. Ein Teil des Rückgangs beruht
auf dem Auftritt russischer Unternehmen auf dem Markt. Aber zu den zehn wichtigsten Exportnationen der Welt
gehören vier EU-Länder (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Schweden). Alle diese
Länder, zzgl. Italien, versuchen auf den chinesischen Markt zu gelangen und dabei das nach dem
Massaker auf dem Tienanmen-Platz gegen China verhängte Rüstungsembargo zu umgehen oder
öffentlich sein Ende zu fordern.
Gleichzeitig versuchen EU-Unternehmen auf
aggressive Weise, US-Firmen bei den Exporten niederzukonkurrieren, wobei sie oft nicht hinschauen, wer
diese Waffen zu welchem Zweck verwendet. Der Mittlere Osten und Südasien sind bevorzugte
Exportmärkte.
Die politische Bedeutung dieses Trends
liegt darin, dass die Konsolidierung eines militärisch-industriellen Komplexes in der EU in einem
schnelleren Rhythmus vonstatten geht als die Entwicklung und Konvergenz der Außen- und
"Sicherheits"politik der EU-Mitgliedsländer.
Verfechter eines starken Europa verweisen
auf den Nachholbedarf im Hinblick auf einige militärische oder zivil-militärische
Ausrüstungen wie das strategische Transportflugzeug A400M oder das Galileo-Satellitennetzwerk, wenn
sie die Notwendigkeit eines von den USA autonomen militärischen Systems betonen. Da die USA sich nach
dem 11.September zunehmend in ein unilaterales Loch vergrüben, werde ein autonomeres Europa
notwendigerweise zum Entstehen einer multilateralen Welt führen. Vielleicht, aber wie die USA
entwickelt auch die EU Mittel zur militärischen Intervention, von denen kaum behauptet werden kann,
dass sie eine "multilaterale" Weltsicht widerspiegeln.
Die ersten militärischen Missionen der
EU fanden in Bosnien und in der Demokratischen Republik Kongo statt, die ersten Schritte zu einer
europäischen Armee bestehen im Aufbau von Militärpolizei und Einsatztruppen also rasch
einsetzbarer Einheiten. Die ersten dieser Einheiten sollen bereits im nächsten Jahr eingeführt
werden. Zusammen mit schnellen Einsatzkräften der NATO und einer Reihe von zwischenstaatlichen Marine-
und Bodentruppen bilden sie das Rückgrat eines militärischen Instruments, das in Abstimmung mit
amerikanischen Systemen arbeiten kann. Offensichtlich lassen sich eine autonome Außenpolitik und die
Verfügung über eine Flotte von Flugzeugträgern nicht voneinander trennen. Die
zugrundeliegende Idee besteht darin, dass die EU, wenn sie den USA beim globalen politischen Einfluss
ebenbürtig sein will, dies auch bezüglich ihrer militärischen Macht sein muss.
Über diese Entwicklung gab es bisher
keine öffentliche Debatte. Sie erscheint eher als eine Folge der "Amerikanisierung" des
militärisch-industriellen Komplexes der EU. Das Transnational Institute of Amsterdam (TNI) hat einen
ausführlichen Bericht veröffentlicht, der die Stärke der militärisch-industriellen
Lobby in Brüssel dokumentiert. Ihr Einfluss ist so groß, dass die Artikel des europäischen
Verfassungsentwurfs, die die gemeinsame Verteidigungspolitik betreffen, nach Konsultationen mit Topmanagern
der wichtigsten Rüstungsunternehmen verfasst wurden ein Privileg, das NGOs oder
Friedensorganisationen verweigert wurde.
Frank Slijper vom TNI schreibt: "Dass
die Rüstungsindustrie einen wesentlichen Einfluss auf die EU-Verteidigungspolitik hat, zeigt sich
vielleicht am deutlichsten an ihrer Einbindung in die Vorbereitungen zum EU-Konvent. Die Arbeitsgruppe
Verteidigung lud 13 Experten ein, Ratschläge zu geben. Neben führenden Eurokraten hatten zwei
Vertreter der Industrie (von BAE Systems und EADS) sowie der Vorsitzende der European Defence Industry
Group (EDIG) die Ehre, ihre Vorstellungen einzubringen..."
Zwei Elemente sind in diesem Szenario
hervorzuheben: Das erste ist die Amerikanisierung der europäischen Militär- und
Sicherheitspolitik, wie man sie beispielhaft an der britischen, spanischen (bis April 2004) und
italienischen Beteiligung am Irakkrieg trotz einer überwältigenden Opposition im eigenen Land
ablesen kann. Das zweite ist die Tatsache, dass sich die europäische Bevölkerung nicht einmal
eine vage Vorstellung davon hat, was vor sich geht.
Beides ist eine Folge des sog.
"globalen Kriegs gegen den Terror". Die Amerikanisierung der EU-Politik in militärischen und
Sicherheitsfragen erhielt durch die Bomben in Madrid und London einen heftigen Antrieb. Einige Tage nach
den Madrider Anschlägen präsentierte der damalige Vorsitzende der Europäischen Kommission,
Romano Prodi, die Resultate eines von der Kommission nach den Anschlägen in New York am 11.9. in
Auftrag gegebenen sicherheitspolitischen Gutachtens. Darin wurde hauptsächlich eine verstärkte
Kooperation der Polizei und der Geheimdienste der EU sowie verstärkte Ausgaben für die Sicherheit
empfohlen.
Seit der Verabschiedung einer neuen
militärischen Doktrin durch die NATO im Jahre 1999 haben offizielle Dokumente den Begriff
"Sicherheit" mit dem der "Verteidigung" verknüpft. Die Doktrin vertritt nicht die
Idee eines Präventivschlags, aber sie definiert einen komplexen Sicherheits- und Verteidigungsapparat,
bei dem die Grenze zwischen dem Militärischen und dem Zivilen auf problematische Weise verschwimmt.
Zur "Sicherheit" gehört der Einsatz der Marine, um "illegaler" Einwanderung
entgegenzutreten; "Sicherheit" bedeutet, die Bürger durch ein europäisches
Satellitennetzwerk zu kontrollieren und die Bürgerfreiheiten einzuschränken. Die bloße
Verwendung des Wortes "Sicherheit" bedeutet, dass die Handlungen nicht in Frage gestellt werden
können.
Während der G8-Gipfel in Genua (2001)
und in Gleneagles (2005) waren die zur Kontrolle von Menschenansammlungen eingesetzten Techniken und der
Einsatz militärischer Einheiten als Polizei dieselben wie im Kosovo oder im Irak. Die EU leistet einen
speziellen Beitrag dazu, dass die allgemeine Bedeutung des Wortes "Krieg" neu definiert wird.
Durch die Tradition militarisierter Polizeikorps in einigen Ländern (insbesondere Italien und
Frankreich), die sich als besonders geeignet für Operationen zur "Befriedung" erwiesen
haben, dringt diese Zweideutigkeit in den Kern der EU-Militärpolitik ein.
Nationaler oder europäischer
Stolz kann dieser Militarisierung auf die Sprünge helfen. Eine Reihe unserer Mitbürger,
sogar auf der Linken, ist stolz, die USA herauszufordern, wenngleich viele dies nicht offen zugeben
möchten. Das ist eine Bresche, durch welche Truppen marschieren können. Die Kluft zwischen den
USA und der EU im Irakkrieg, das unterschiedliche Herangehen an eine Reihe globaler Fragen, von den Kyoto-
Protokollen bis zu Palästina/Israel, verschafft der Idee einer europäischen Armee
größere Anziehungskraft.
Die Bevölkerung Europas denkt,
"unsere" Armee und "unser" Sicherheitssystem würde sich wesentlich von dem der USA
unterscheiden. Warum? Üblicherweise wird auf europäische Weisheit bei der Regelung
internationaler Angelegenheiten und Zurückhaltung bei der Anwendung von Gewalt verwiesen.
Doch trifft dies zu? In den letzten Jahren
haben viele Beobachter betont, dass die dominante Position der USA langsam und vielleicht unvermeidlich im
Niedergang begriffen ist. Ihre außenpolitische Hegemonie schrumpft. Mittlerweile sind die
Spitzenaufkäufer auf dem globalen Rüstungsmarkt China und Indien, sie arbeiten fieberhaft daran,
dass ihre militärischen Systeme denen von regionalen oder gar Weltmächten gleichen und als solche
handeln. In der Zwischenzeit konkurrierenden USA und EU miteinander: Die Kontrolle über den
"Bogen der Instabilität", der von Westafrika bis Afghanistan reicht, könnte der Preis
für den Sieger in diesem Wettlauf sein. Wenn wir uns die Prozesse anschauen, die in den obersten
Etagen der Entscheidungsträger der EU-Politik ablaufen, scheint es, dass man auch dort das Gefühl
hat, dass das amerikanische Jahrhundert seinem Ende entgegen geht.
Bei solchen gewaltigen geopolitischen
Verschiebungen ist es nicht unvorstellbar, dass Europa in den kommenden Jahrzehnten zum Angelpunkt der
Welthegemonie wird. Das Europa, das wir wollen, würde diese Stellung nutzen, um eine Politik der
Gleichheit, sozialen und Umweltgerechtigkeit und Frieden voranzubringen. Die EU, die wir haben, hat andere
Vorstellungen.
Enzo Mangini
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