SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2006, Seite 03

Anmerkungen zu den gegenwärtigen Streikbewegungen

Der lange Weg zur Entstaatlichung

Während die politischen Kämpfe des 21.Jahrhunderts gegenwärtig exemplarisch in Frankreich ausgefochten werden, scheinen in Deutschland derartige Entwicklungen völlig undenkbar. Die Ausprägung des "rheinischen Kapitalismus" in der Bundesrepublik nach der Niederlage des Faschismus hat in der Tat eine andere politische Form angenommen. Dennoch hatte der asymmetrische Klassenkompromiss nach dem Zweiten Weltkrieg in allen westlichen Ländern strukturelle Ähnlichkeiten.
Der Unterwerfung der lebendigen Arbeit unter das kapitalistische Profitprinzip waren nach den bitteren Erfahrungen von Krieg und Bürgerkrieg in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts institutionelle Grenzen gesetzt worden. Dieser soziale Kompromiss bildete, gefördert durch die Frontstellung im Kalten Krieg, die Basis für die weitgehende Integration der Arbeiterbewegung in den sozial gezähmten kapitalistischen Staat und die Bildung einer zwischen den Klassen vermittelnden Bürokratie. Diese wohlfahrtsstaatliche Bürokratie begrenzte einerseits die Ansprüche der Lohnabhängigen und hielt ihre soziale Abhängigkeit aufrecht; andererseits schützte sie vor willkürlichen Übergriffen der sozialen Eliten. Sie regelte Ansprüche und Verpflichtungen der "Sozialpartner", verrechtlichte die Klassenbeziehungen auf allen Ebenen und hielt bei hohen Wachstumsraten den sozialen Frieden aufrecht.

Angriff auf den Klassenkompromiss

Die Widersprüche dieses Wachstumspaktes traten mit der Rebellion Ende der 60er Jahre zu Tage und verschärften sich in den 70er Jahren. In Reaktion darauf versuchten die sozialen Eliten, eine neue Agenda kapitalistischer Rationalisierung durchzusetzen. Im Kern blieb der soziale Nachkriegskompromiss aber bis Anfang der 90er Jahre unangetastet.
Nachdem mit dem Fall der Mauer die politisch-ideologische Bedrohung durch den Realsozialismus weggefallen ist, sind die sozialen Rechte der Lohnabhängigen in zunehmendem Maße in Frage gestellt worden. Die offensive Zerstörung des "rheinischen Kapitalismus" setzt dabei die Dynamik frei, die nach 1945 für lange Zeit gebannt schien. Während die Gewerkschaften immer mehr aus den sozialstaatlichen Institutionen herausgedrängt werden, wandelt sich die Bürokratie in ein repressives Instrument des "aktivierenden" Sozialstaats, der die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse (eine neue Form der Proletarisierung) mit Zwangsmaßnahmen flankiert.
Diese Prozesse haben in Deutschland, wenn auch weniger spektakulär als in Frankreich, ähnliche politisch-soziale Gegenreaktionen zur Folge. Wie weit der soziale Kitt auch diesseits des Rheins bereits zerfressen worden ist, belegt die kürzlich von Franz Schultheis und Kristina Schulz herausgegebene Untersuchung Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag (Konstanz 2005; vgl. SoZ 2/06). Neben dem Erstarken der Antiglobalisierungsbewegung seit dem Börsencrash Ende der 90er Jahre haben vor allem die wochenlangen Proteste gegen die Agenda 2010 eine tiefgreifende Dynamik ausgelöst.
Insbesondere das Hartz-IV-Gesetz führte zur Abspaltung des sozialdemokratischen Flügels von derjenigen Parteiformation, die nur noch offiziell den Namen SPD trägt. Die wenn auch widersprüchliche Formierung der Linkspartei verdeutlicht, dass ein relevanter Teil der Bevölkerung die neoliberale Offensive nicht widerstandslos hinnehmen will. Die Wahlergebnisse in diesem Jahr mögen für die Linke durchwachsen sein — das verweist aber mehr auf ihre eigenen Defizite als auf ihre potenzielle Wählerbasis. Es scheint sich hier ein spezifisches Charakteristikum der politischen Kultur in Deutschland Ausdruck zu verschaffen: Politisch-sozialer Widerstand verschafft sich eher in Formen organisierter Kollektivität Ausdruck, weniger in spontanen Massenaktionen. Und insofern die ideelle Bindung an die Großorganisationen eine wichtige Rolle spielt, stellt die Spaltung der SPD einen nicht zu unterschätzenden Einschnitt dar.
Diese Transformation der Parteienlandschaft steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Neuorientierung der Gewerkschaften, die an der Oberfläche als Annäherung der Ver.di- und der IG-Metall-Spitze an die Linkspartei erscheint. Diese Annäherung ist Ausdruck eines viel tiefer greifenden Prozesses, wie sich an den erbittert geführten Streiks im öffentlichen Dienst zeigt. Denn die Verhandlungen über den "Tarifvertrag öffentlicher Dienst" (TVöD) im letzten Jahr waren von Ver.di völlig defensiv geführt worden.
Innerhalb von Ver.di wurde der TVöD vor allem mit dem wenig triftigen Argument gerechtfertigt, es sei immerhin gelungen, überhaupt einen einheitlichen Vertrag abzuschließen, der den Bundesangestelltentarif (BAT) ersetzt. Die politische Klasse wurde jedoch durch diese defensive Haltung zu einem offensiveren Vorgehen geradezu ermutigt. Während die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) den TVöD erst gar nicht unterzeichnete, kündigten die kommunalen Arbeitgeber einiger Länder das Abkommen über die Arbeitszeit sowie über das Urlaubs- und Weihnachtsgeld kurz nach Inkrafttreten des TVöD. Die Arbeitszeiten für die Beamten wurden in mehreren Bundesländern einseitig verlängert, und im Angestelltenbereich wurden bei Beförderungen und Neueinstellungen ebenfalls längere Arbeitszeiten erzwungen.

Gebremste Gegenoffensive

Diese Generaloffensive der öffentlichen Arbeitgeber auf die Tarifautonomie hat Ver.di in den Streik geradezu hineingetrieben, wie selbst neoliberale Propagandisten eingeräumt haben. Die hohe Streikbereitschaft und die breite Beteiligung gerade von Jüngeren und Frauen waren angesichts der Verhandlungsschwäche von Ver.di für alle Beteiligten überraschend.
Auch wenn die Zahl von 50000 gleichzeitig Streikenden nicht überschritten worden ist — im Vergleich zu den letzten großen Streikbewegungen im öffentlichen Dienst 1974 und 1992 ist das weniger als ein Viertel —, ist die Streikfront über Wochen stabil geblieben. Und auch mit der zwar weitgehend passiven, aber durchaus vorhandenen Sympathie in breiten Teilen der Bevölkerung hatte niemand gerechnet, obwohl das Medienecho von Beginn der Streiks an "verheerend" war. Die Spaltung der Beschäftigten in den Krankenhäusern — der Marburger Bund konzentriert sich darauf, die Interessen der Mehrheit seiner Mitglieder zusammen mit den überbezahlten Chefärzten unabhängig von Ver.di zu vertreten — wirkt sich zusätzlich fatal aus, weil die Ärztegewerkschaft im Einklang mit vielen Medien gegen Ver.di polemisierte.
Die bisherigen Ergebnisse des Streiks zeigen, dass sich die Arbeitgeber von Ländern und Gemeinden mit ihrem Frontalangriff auf das Koalitionsrecht nicht werden durchsetzen können. Die unmittelbar materiellen Ergebnisse der Streikbewegung werden insgesamt nichtsdestotrotz unter dem bisherigen arbeitsrechtlichen Niveau liegen.
So setzt sich die Aufspaltung der Tariflandschaft, die mit der Tarifflucht durch den von SPD und PDS gestellten Senat in Berlin begonnen hat, weiter fort; insbesondere die weniger kampfstarken Bereiche in den Ländern werden von den Kommunen abgekoppelt. Die von den Arbeitgebern gewollte Zerstörung der Regulierung der Arbeitsverhältnisse, d.h. die Prekarisierung vieler Lohnabhängiger, ist ebenfalls nicht gestoppt. Angesichts der beispiellosen Defensive der Gewerkschaften ist es aber von außerordentlicher Bedeutung, dass ein freier Fall in gewerkschaftsfreie und rechtlose Zustände vorerst verhindert worden ist.
Die auf kommunaler Ebene erzielten Abschlüsse laufen jedoch Gefahr, durch einen schlechteren Abschluss auf Länderebene wieder kassiert zu werden. Denn im TVöD ist eine sog. "Meistbegünstigungsklausel" enthalten: Wenn auf Länderebene ein schlechteres Ergebnis zustande kommt, gilt dies gleichzeitig als Angebot für den Bund und die Kommunen. Laut Ver.di-Funktionären soll die Anwendung dieser Klausel in den neuen Verträgen rechtlich ausgeschlossen werden. Solche Rechtsfragen sind aber immer auch Machtfragen. Wenn ein Abschluss auf Länderebene zustande kommt, der unter dem Niveau der kommunalen Abschlüsse liegt — alles sieht danach aus —, geht die Auseinandersetzung in die nächste Runde.
Innerhalb von Ver.di sieht man sich angesichts der Diffamierungen in der Presse vor das Problem gestellt, zu vermitteln, dass es sich beim gegenwärtigen Streik um einen Angriff auf die Tarifautonomie handelt und keineswegs nur um eine Arbeitszeitverlängerung um 18 Minuten täglich. Das verweist auf den begrenzten inhaltlichen Rahmen, mit dem man glaubte, diese Auseinandersetzung führen zu können. Es ist schon bemerkenswert, dass bisher nur sehr vereinzelt versucht worden ist, mit einer Verallgemeinerung der Streikforderungen politisch in die Offensive zu gehen. Nicht einmal ein nationaler Aktionstag ist in die Diskussion gebracht worden.

Fehlende Politisierung

Anlässe dafür gibt es reichlich: So sind in Baden-Württemberg und Niedersachsen 1-Euro- Jobber und private Firmen als Streikbrecher eingesetzt worden. Blockaden von Streikenden wurden durch massive Polizeieinsätze aufgelöst. Weder der mit dem Hartz-IV-Gesetz begonnene Einstieg in die Zwangsarbeit noch die Frage der Privatisierung kollektiver Güter und Dienstleistungen und schon gar nicht die staatlichen Gewaltmaßnahmen sind im Zusammenhang mit den Streiks ernsthaft thematisiert worden. Gewerkschafter in Osnabrück erinnerten immerhin daran, dass die Polizei zum letzten Mal 1933 derart brutal gegen Streikende vorgegangen ist und stellten die staatliche Repression in den Kontext der Vorschläge Wolfgang Schäubles, die Bundeswehr auch im Inneren einsetzen zu wollen.
Dabei handelt es sich keineswegs um einmalige Ausnahmen; in ganz Europa, ja weltweit haben in den vergangenen Jahren Regierungen und Unternehmen versucht, Arbeitskämpfe und soziale Proteste auszusitzen. Gelang dies nicht, wurden diese häufig mit Gewalt beendet. Die Angriffe auf das Koalitionsrecht stellen eine allgemeine Tendenz im globalisierten Kapitalismus dar und müssen entsprechend beantwortet werden. Erfolgreich waren Streik- und Protestbewegungen nur dann, wenn sie vereint durch Forderungen allgemeinen Charakters mit dem Mittel der direkten Aktion Unternehmen und die traditionellen Eliten politisch bedroht oder gar — wie in einigen Staaten Lateinamerikas — zum Rückzug aus der politischen Führung des Landes gezwungen haben.
Die ersten Haarrisse in der großen Koalition sind in Deutschland dagegen nicht genutzt worden. Dabei hat die Regierung in Berlin die wichtigsten Punkte ihrer im Koalitionsvertrag festgehaltenen Agenda noch gar nicht in Angriff genommen. Weder auf die geplante massive Aufweichung des Kündigungsschutzes noch auf die Mehrwertsteueranhebung oder eine mögliche Beteiligung der Bundesrepublik an einem Krieg gegen den Iran sind die Gewerkschaften geistig und organisatorisch vorbereitet. Es scheint so, als wolle man die Verteidigung sozialer und demokratischer Rechte den Franzosen überlassen. Es wird nun darauf ankommen, auf die Zerstörung der institutionellen Einbindung der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland mit ihrer geistigen Entstaatlichung zu antworten und entsprechende praktische Schlüsse zu ziehen.

Gregor Kritidis

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