SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2006, Seite 05

Bernd Riexinger über neun Wochen Ver.di-Streik und die Perspektiven des Kampfes um Arbeitszeitverkürzung

Ziviler Ungehorsam war erfolgreich

Nach neun Wochen Streik, dem in der Geschichte der Bundesrepublik längsten Arbeitskampf im öffentlichen Dienst, haben sich Ver.di und die kommunalen Arbeitgeber in Baden-Württemberg auf einen neuen Tarifvertrag geeinigt. Die Wochenarbeitszeit wird einheitlich von 38,5 auf 39 Stunden ausgeweitet. Über das Ergebnis, den Streik und die Perspektiven sprach Christoph Jünke für die SoZ mit Bernd Riexinger, dem Ver.di-Geschäftsführer in Stuttgart.

Wie kam es zu diesem Ergebnis und inwiefern wird es Vorbild sein für die Verhandlungen in den anderen Bereichen?

Wir haben uns aus zwei Gründen für diese einfache und einheitliche Regelung entschieden und ganz bewusst auf eine Differenzierung wie in den anderen Landesbezirken verzichtet. Zum einen wurden im Laufe des Streiks Differenzierungsmodelle bei den Streikenden selbst immer unpopulärer. Sie wollten lieber gleiche Bedingungen für alle — aus dem vielleicht richtigen Instinkt heraus, damit bessere Voraussetzungen für künftige Auseinandersetzungen zu schaffen. Der zweite Grund war, dass wir sonst Gefahr gelaufen wären, gar keinen Tarifvertrag zu bekommen.
Andere kommunale Vereinigungen auf Landesebene werden jetzt sicherlich auch auf Ver.di zugehen. Ob dann das Ergebnis von Baden- Württemberg oder das von Hamburg oder Niedersachsen zum Maßstab genommen wird, das scheint mir noch offen.

In einem Zeitungsbeitrag hattest du vor einiger Zeit geschrieben: Besser kein Ergebnis als ein schlechtes. Ist dies nun ein gutes oder ein schlechtes Ergebnis?

Ich glaube, dass es ein gutes Ergebnis ist. Natürlich ist ein Tarifkompromiss in einem Abwehrkampf nie gut, wenn er eine Arbeitszeitverlängerung vorsieht. Das ist objektiv gesehen natürlich ein falsches Signal. Aber ich glaube, dass dieses Ergebnis den Kräfteverhältnissen des Streiks entspricht. Denn es geht bei solchen Streiks ja bekanntlich nicht nur um Wunschergebnisse, sondern auch um Mobilisierungsfähigkeit. Wir haben zwar viel mobilisiert, aber die Schwierigkeit dieses Streiks war, dass er in erster Linie in den Städten stattgefunden hat.
Während Ver.di in vielen Bereichen "in der Fläche" nicht oder nur sehr begrenzt streikfähig war, sah es bei den Arbeitgebern anders aus. Besonders die Landräte und Bürgermeister mittlerer Städte gaben sich als Hardliner und mussten nur begrenzt Streikdruck aushalten. Entsprechend muss man ein Kampfergebnis anders beurteilen, wenn eine Gewerkschaft das Optimale an Streikfähigkeit ausgereizt hat und am Ende nur dieser oder gar kein Tarifvertrag stehen konnte. Anders wäre es, wenn wir unsere Mobilisierungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft und eine Mogelpackung gemacht hätten. Das war aber definitiv nicht der Fall.

Diese objektiven Schwierigkeiten hängen natürlich vor allem mit den gründlich veränderten Rahmenbedingungen der öffentlichen Dienste zusammen. Der öffentliche Dienst ist schon lange kein einheitliches Tarifgebiet mehr. Auf Bundesebene gelten andere Tarifsysteme als in Land und Kommunen. Länder und Arbeitgeberverbände haben in massiver Zahl die Tarifgemeinschaft bereits verlassen. Einzelne öffentliche Dienste wurden privatisiert oder mit Sonderregulierungen versehen. Ver.di klagt seit langem über massiven Mitgliederschwund. Ihr habt versucht, diesen neuen Kampfbedingungen eine neue Kampftaktik entgegenzustellen: statt der massenhaften und umfassenden Arbeitsverweigerung die flexible Taktik kleiner, gezielterer Streikaktionen mit Überraschungselementen. Ihr habt dies genannt "Offensive in der Defensive". Hat sich diese Taktik bewährt?

Zuerst zum ersten Aspekt der Zersplitterung. Ich denke, dass wir in Ver.di nochmal darüber nachdenken müssen, dass bspw. der öffentliche Nahverkehr in diesem Streik nicht dabei war. Das war ebenso eine große Schwäche wie die Konkurrenzverhältnisse zu den privaten Müllabfuhren. Wir müssen kritisch darüber nachdenken, ob die eigene Branchenorientierung und die Zerfletterung der Tariflandschaft im öffentlichen Bereich von uns weiter toleriert werden können. Mir scheint, dass wir hier dringend eine tarifpolitische Korrektur brauchen.
Was das zweite angeht, die neue Streiktaktik, so sollte man diese auch nicht überbewerten. Wir haben in den ersten Wochen sehr wohl richtige Erzwingungsstreiks gemacht, dort wo wir es konnten, bspw. bei der Müllabfuhr oder den Kindertagesstätten. In den eher nichttraditionellen Zweigen haben wir von Anfang an flexibel gestreikt, bspw. bei den Krankenhäusern, wo wir erst einen, dann zwei, dann drei Tage gestreikt haben. Diese Strategien haben sich bewährt, weil sie Belegschaften an einen achtwöchigen Streik herangeführt haben und diesen auch durchhalten ließen, was bei einem Erzwingungsstreik von zwei Wochen so nicht geklappt hätte.
Dass wir es geschafft haben, den Streik nach der sechsten, siebten Woche auch in den klassischen Arbeiterbereichen zu flexibilisieren, halte ich für einen wichtigen Schritt. So wurden ja bspw. bei der Müllabfuhr private Dienste eingesetzt, woraufhin die Müllkraftwerke blockiert wurden. Das war neu und hat einen großen Auftrieb gegeben, weil die Ohnmachtsgefühle damit überwunden wurden. Das waren schon Formen zivilen Ungehorsams. Dann kam die Überraschungstaktik: einen Tag rein und einen Tag wieder raus. Keiner dachte, dass man so etwas bei der Müllabfuhr machen kann. Doch diese neue Taktik hat geklappt. Mir scheint, dass wir in diesen Bereichen deutlich stärker geworden sind.

Der Nachteil dieser Strategie scheint mir zu sein, dass man mit solchen Streikaktionen auf niedrigem Niveau weniger als früher direkt auf die Öffentlichkeit Einfluss nehmen kann.

Wir haben aber auch eine ganz neue Situation im Vergleich bspw. zu 1992. Damals war es nicht denkbar, dass private als Streikbrecher eingesetzt werden.
Was uns mindestens in Stuttgart sehr gestärkt hat, ist, dass ganz massiv neue Gruppen in den Streik getreten sind, besonders bspw. in den Kindertagesstätten. Ob bei den Streikaktionen selbst oder danach in der Streikauswertung: Alle haben immer wieder betont, dass für sie Gewerkschaft endlich wieder erfahrbar war. Wir hatten ja bspw. jeden Tag 3000—4000 Leute im Streiklokal. Wir hatten permanente kollektive Diskussionen, wie es weiter gehen soll. Wir hatten eine hohe Streik- und Streitkultur und permanent neue Erfahrungen, dass Solidarität möglich ist, dass die Menschen selbst Subjekt der Gewerkschaft sind. Auch deswegen war dieser Streik für uns ein dringend notwendiger Erfolg. Und ich hoffe, dass dies eine Basis für zukünftige Auseinandersetzungen ist.

Diese Erfahrungen überwiegen deiner Meinung nach auch das nicht so optimale Ergebnis?

Die Leute empfinden das Ergebnis nicht als negativ, denn sie wissen, dass wir die andere Seite nach neun Wochen nicht auf die Schulter gelegt haben. Auch die Leute sehen das Tarifergebnis als Produkt der Kräfteverhältnisse und insofern nicht als Niederlage, sondern eher als 2:1-Sieg. Dass wir wieder einen Tarifabschluss mit einheitlichen Arbeitsbeziehungen durchsetzen konnten, wird auch in den Augen der Leute als Erfolg gesehen.

Was auch auffällt bei den Streiks ist die weitgehende Abwesenheit von Solidaritätsaktionen anderer DGB-Gewerkschaften. Kämpft unter neoliberalen Bedingungen jede Gewerkschaft noch immer für sich?

Das scheint mir ein wirklich großes Problem, über das auch innerhalb von Ver.di zu diskutieren ist. Die Hauptamtlichen haben sich alle sehr hilfreich und solidarisch eingemischt. Aber die praktische Solidarität der anderen Fachbereiche war doch sehr begrenzt. Nicht einmal bei einem solch existenziellen Kampf waren weitere Solidarisierungen möglich. Auch gegenüber der IG Metall hat sich dies ausgesprochen schwierig gestaltet. Es ist nicht so, dass nichts stattgefunden hat — auch die IG Metall war präsent und hat Flugblätter verteilt —, aber eine breite Solidarisierung auch auf Belegschaftsebene fand nicht statt. Hier scheinen mir starke Illusionen vorzuherrschen, man könne Tarifauseinandersetzungen noch immer wie früher, jeder für sich, führen.

Auch andersherum: Es wurde kritisiert, dass Ver.di bei der vergleichbaren Auseinandersetzung um Gate Gourmet kaum präsent gewesen ist.

Da scheint es Organisationsprobleme gegeben zu haben. Das kann ich kaum beurteilen, räume aber gern ein, dass Ver.di mehr Solidarität hätte zeigen können. In diesem Streik scheint mir Ver.di aber das meiste richtig gemacht zu haben. Es war eben eine existenzielle Kraftanstrengung. Aber auch die sozialen Bewegungen sind ja kaum auf den Plan getreten.

Du hast dich bereits in besagtem Zeitungsartikel über die mangelnde Solidarität durch linke Aktivisten und Zusammenhänge beschwert. Aber waren es nicht vor allem die Linken, die diese Auseinandersetzung praktisch geführt haben?

Den Ver.di-Streik haben in der Tat viele Linke geführt. Und wenn andere Gewerkschafter da waren, waren es ebenfalls zumeist Linke. Ich denke da eher an Gruppen wie Attac, die eine Kampagne für die 30-Stunden-Woche machen, aber außer einer kleinen Unterschriftenliste keine eigenständige Aktion zum Streik organisiert hat oder entsprechend aufgetreten wäre. Wenn es solche gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gibt, man selbst aber nicht präsent ist, stellt sich schon die Frage, welche soziale Verankerung man eigentlich hat.

Betrifft dein Vorwurf auch solche Zusammenhänge wie die Gewerkschaftslinke oder die WASG?

Die waren noch am ehesten da. Doch man sieht schon, dass die Kräfte recht begrenzt sind.

Der Tarifkampf war, so haben es beide Seiten immer wieder betont, ein Kampf ums Prinzip, ein Kampf um die Frage, ob weitere Arbeitszeitverlängerungen einen Weg aus der ökonomisch-sozialen Misere weisen oder Arbeitszeitverkürzungen. Das Ergebnis ist nun die Arbeitszeitverlängerung, wenn auch deutlich geringer ausgefallen als von den Arbeitgebervertretern verlangt. Hat damit dieser Kampf Schaden gelitten?

Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Es war überraschend, dass es uns in der Arbeitszeitfrage, gerade in einer Situation der Defensive, gelungen ist, überhaupt streikfähig zu sein. Während es in anderen Bereichen zu immer stärkeren Auflockerungen in der Frage der Arbeitszeit gekommen ist, ist es uns gelungen, einen recht breiten Abwehrkampf mit einem Konsens in den Belegschaften zu führen. Das halte ich für beachtlich, denn es zeigt, dass die Arbeitszeitfrage höher gewertet wird, als viele denken — zumal, wenn sie mit der Frage des Stellenabbaus kombiniert wird. Das ist im öffentlichen Dienst doch recht gut gelungen.
Ich glaube eher, dass diese Erfahrung dazu führt, die Frage der Arbeitszeitverkürzung wieder auf die gewerkschaftspolitische Tagesordnung zu setzen und mittel- bis langfristig wieder handlungsfähig zu werden — vielleicht sogar als europäisches Gewerkschaftsprojekt der nächsten Jahre.

Kann in diesem Zusammenhang eine Forderung wie die von dir genannte Attac-Forderung nach 30 Stunden ein mehrheitsfähiger Ansatz sein?

Da bin ich skeptisch. Wenn man eine faktische Arbeitszeit von 40 Stunden hat, scheint mir die Forderung nach 30 Stunden nicht mobilisierungsfähig zu sein, denn sie geht über intellektuelle Kreise nicht hinaus. Man muss sich das überlegen: Wir kämpfen neun Wochen, damit die Arbeitszeit nicht um anderthalb Stunden verlängert wird. Welchen gesellschaftlichen Kampf müssten wir führen, wenn wir sie um neun bis zehn Stunden verkürzen wollen. Das würde mindestens einer halben Revolution gleichen. Man sollte den Stand der Klassenauseinandersetzungen schon mit einrechnen. Und die Forderungen müssen schon an der Erfahrungswelt und den Handlungsperspektiven der Menschen anknüpfen.

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