SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2006, Seite 09

Am Beispiel Mülheim an der Ruhr

Privatisierung als neue Schuldenquelle

Keine Privatisierung größeren Stils geht ohne Berater. "Berater" klingt diskret, professionell, kompetent. Doch die Berater, die als Wirtschaftsanwälte, Wirtschaftsprüfer, Steuer- und Unternehmensberater tätig sind, stellen selbst eine extrem profitorientierte Industrie dar. Und die traditionelle Bindung der Berater an die Privatunternehmen ist stärker als die Bindung an die neuerdings beratenen Staaten und Kommunen.

Seit 1912 gehörten die Rheinischen Wasserwerke (RWW) den Städten Mülheim, Bottrop und Gladbeck. Als CDU und Grüne 1999 in Mülheim die erste schwarz-grüne Koalition in einer deutschen Großstadt bildeten, lautete ihr wichtigster Programmpunkt: Privatisierung. Es wurde beschlossen, 60% der RWW zu verkaufen, eine Sperrminorität von 25% sollte bei den Kommunen bleiben. Mit dem Verkaufserlös wollten die drei Städte ihre überschuldeten Haushalte sanieren. Damals galt in der ganzen Republik das Glaubensbekenntnis: "Ein kommunales Unternehmen kann nur mit einem starken strategischen Partner überleben."
Ohne Ausschreibung wurde mit RWE Aqua verhandelt, der Wasserholding der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke (RWE). Nachträglich machte die Gelsenwasser AG ein Angebot, das etwa 40 Millionen Euro höher lag. Trotzdem bevorzugte Mülheims Oberbürgermeister Baganz, der als Verhandlungsführer agierte, das niedrigere RWE-Angebot. Außerdem ging er ohne Ratsbeschluss auf den Vorschlag von RWE ein, statt 60% 80% zu verkaufen, sodass die Städte ihre Sperrminorität verloren. Im April 2002 wurde der Vertrag unterzeichnet, natürlich in der Schweiz — darauf hatte RWE Wert gelegt.
Danach wurde weiter privatisiert: Das städtische Energieunternehmen (MEDL — Mülheimer Energiedienstleistungs-GmbH) verkaufte 49% an Rhenag, eine RWE-Tochter; die städtische Abfallgesellschaft (MEG — Mülheimer Entsorgungs- GmbH) verkaufte 49% an Trienekens, eine RWE-Tochter usw., jeweils ohne Ausschreibung. Inzwischen sind nur die städtischen Altenheime noch nicht privatisiert.

Stadtverkauf mit Beraterin

So geriet die "grüne Stadt" des Ruhrgebiets unter die Kontrolle von RWE. Das merkte in der Öffentlichkeit kaum jemand und hätte sich kaum geändert, wenn den Akteuren nicht etwas Ungeplantes passiert wäre: Ende 2002 trat die so erfolgreich scheinende Symbolfigur zurück. Der junge, dynamische usw. Oberbürgermeister erklärte, kurz nachdem er schon seine Kandidatur für die nächste Wahl angekündigt hatte, seinen Rücktritt. Der Grund hatte mit den Privatisierungen scheinbar nichts zu tun: Er habe, so Baganz, ein außereheliches Verhältnis mit der Rechtsanwältin Ute Jasper, die für die Stadt arbeite.
In Wirklichkeit agierte die Anwältin als Beraterin für alle Privatisierungen. Das wusste die Öffentlichkeit aber kaum, denn die Beraterin war nie offiziell beauftragt worden. Im Beratungszeitraum wurde sie vom Oberbürgermeister geschwängert. Der Skandal war groß, vor allem wegen der außerehelichen Beziehung, denn der CDU-Hoffnungsträger Baganz war nicht nur als christlicher Politiker, sondern auch als vorbildlicher Familienvater aufgetreten, und er war Mitglied im Presbyterium seiner Kirchengemeinde.
Daraufhin stellte die kleine Zwei-Mann- Ratsfraktion der MBI (Mülheimer Bürgerinitiativen), die schon bei allen Privatisierungen nachgehakt hatte, im Stadtrat den Antrag, die Tätigkeit der Beraterin zu untersuchen. Noch nie hatte der Stadtrat einem MBI-Antrag zugestimmt. Doch in der aufgewühlten Skandalsituation ging es nicht anders, der Stadtrat stimmte zu.
So stellte das städtische Rechnungsprüfungsamt fest, dass Jasper für alle Privatisierungen in Mülheim die Gutachten und Empfehlungen ausgearbeitet hatte, insgesamt zwölf. Diese Aufträge hatte sie ohne Ausschreibung erhalten. Sie bzw. ihre Kanzlei habe die Stellung eines "Hoflieferanten" innegehabt. Sie hatte in anderthalb Jahren 2200 Stunden mit einem Gesamthonorar von 1,4 Millionen Euro abgerechnet. Es fehlten Einzelnachweise. Für das Jahr 2001 hatte sie 1175 Stunden abgerechnet — der Spitzenwert der fleißigsten Anwälte beträgt 2400 Jahresstunden (für alle Mandate zusammen). Das erstaunte umso mehr, als die Staranwältin Jasper gleichzeitig nicht nur mehrere andere Städte wie Essen und Oberhausen, sondern auch Landesregierungen (NRW: Metrorapid, Hamburg: Kliniken) beriet. Außerdem war sie als vielgefragte Referentin tätig und veröffentlichte zahlreiche Fachaufsätze. Die Webseite ihrer Kanzlei verzeichnet für den fraglichen Zeitraum 46 Veröffentlichungen und Vorträge.
Sie hatte auch das Gutachten für den Verkauf der RWW verfasst. Dabei "vergaß" sie große Grundstücke. Ebenfalls stellte sich heraus, dass das Honorar für die Beraterin beim Verkauf der Wasserwerke von RWE bezahlt wurde. Das Honorar für die Beratung bei der Privatisierung der Abfallwirtschaft übernahm der Käufer Trienekens/RWE. In beiden Fällen war die Stadt Mülheim der Auftraggeber der Beratung.

Keine Fehlerkorrektur

Nach dem Rücktritt des Oberbürgermeisters wäre eine Korrektur des RWW-Verkaufs notwendig und möglich gewesen. Aber nichts geschah. Der Antrag der MBI, Schadenersatzansprüche gegen Baganz und Jasper geltend zu machen, wurde von der Mehrheit der "staatstragenden" Parteien abgelehnt. Auch der Regierungspräsident hatte nichts zu beanstanden. Das Rechnungsprüfungsamt hatte der Staatsanwaltschaft empfohlen, gegen den Oberbürgermeister wegen des Verdachts auf Vorteilsnahme, Untreue und Verletzung der Vergabeordnung zu ermitteln.
Nach fünf Monaten stellte die Staatsanwaltschaft fest, es habe sich kein Anfangsverdacht ergeben. Das Innenministerium verzichtete auf disziplinarische Maßnahmen gegen den Oberbürgermeister. Die Europäische Kommission, von den MBI angerufen, erklärte, dass sie in einem möglicherweise zu niedrigen Kaufpreis für die RWW keine ungerechtfertigte Subvention erkennen könne, das Gutachten dafür sei ja professionell erstellt worden.
Jasper ist nicht nur Mitarbeiterin, sondern Partnerin — also Mitinhaberin — der Kanzlei Heuking, Kühn, Lüer, Wojtek & Partner. Das ist die größte Kanzlei in NRW. Jasper ist die Staranwältin in Sachen Privatisierung. Die Rechtskundige übertrat Vorschriften, die sie selbst am besten kennt, z.B. dass Aufträge der öffentlichen Hand über 200000 Euro öffentlich ausgeschrieben werden müssen; oder dass bei persönlicher Befangenheit das Mandat abgegeben werden muss. Zu diesen Themen hatte sie schließlich selbst vielbeachtete Artikel veröffentlicht. Sie forderte und bekam ihre Aufträge sozusagen "im Schlaf" bzw. davor oder danach und ohne Ausschreibung.
Auch von ihrer "renommierten" Kanzlei, die mit vielen Kommunen und Ministerien in Deutschland geschäftlich verbunden ist, kam keine Kritik. "Wir stehen voll hinter Frau Dr.Jasper. Sie hat die Mandate absolut korrekt betreut", beteuerte Seniorpartner Wolfgang Kühn.
Die Starberaterin nutzte den Privatisierungsrahmen nicht nur im privatistischen Eigeninteresse. Auch die private Seite, hier RWE, wurde bevorteilt. Jasper dehnte den Privatisierungsrahmen auch juristisch so weit wie möglich aus. Sie vertritt das "In-House"-Konstrukt, das sog. "In-sich-Geschäft": Wenn eine Kommune mit einem Privaten ein gemeinsames Unternehmen gründet und die Kommune die Mehrheit hat, muss dieses Unternehmen Aufträge öffentlich nicht ausschreiben.
So wurde auch in Mülheim und anderswo verfahren. Der Europäische Gerichtshof hat Privatisierungsverträge nach diesem Muster inzwischen für ungültig erklärt.
Auch Oberbürgermeister Baganz kam glänzend aus der Sache. Wozu ist ein wegen Unregelmäßigkeiten zum Rücktritt gezwungener Oberbürgermeister in Deutschland prädestiniert? Natürlich zum Berater. Der Christdemokrat gründete die Beratungsfirma Econopolis GmbH und beriet Städte. Dann wurde er Partner bei Goetzpartners Management Consultants. Drei Jahre reichen für politische Vergessensarbeit. 2005, nach dem Wahlsieg der CDU, wurde Baganz von NRW-Ministerpräsident Rüttgers zum Staatssekretär im Wirtschaftsministerium berufen, Verantwortungsbereich: Kommunen.
Die von Baganz/Jasper zugunsten von RWE durchgeführten Privatisierungen wurden nicht überprüft, geschweige denn korrigiert. Auch die benachteiligten Firmen trugen nichts zur Korrektur bei. Die Gelsenwasser AG wollte sich ihren "guten Ruf" auf dem Markt nicht durch das "Anschwärzen" eines Konkurrenten verderben. Das Abfallunternehmen Rethmann (heute Remondis) klagte zwar gegen seine Benachteiligung bei der MEG- Privatisierung, will aber öffentlich nichts sagen.
Wie in Berlin wurden die Wasserpreise zwei Jahre lang nicht erhöht, aber dann explodierten sie. Ebenso die Preise und Gebühren für Abwasser, Abfall, Strom und Gas. Das große Versprechen, die städtischen Finanzen zu sanieren, hat sich nicht erfüllt. Die Neuverschuldung Mülheims stieg von 23 Millionen Euro (1999) auf 100 Millionen (2005), die Gesamtverschuldung von 400 auf 700 Millionen; darin sind die Schulden der privatisierten Unternehmen noch nicht enthalten. Die Einmaleffekte aus den Privatisierungsverkäufen sind verpufft. Mehrere Dutzend Beschäftigte in den privatisierten Unternehmen sind "freigesetzt".

Bürger werden ausgetrickst

Die SPD, die nach dem Abtritt von Baganz die Oberbürgermeisterin stellt, führt den Kurs fort. Sie will mit CDU und FDP auch den Rest privatisieren, also die Altenheime. Wie ihr Vorgänger wurde die SPD-Frau, deren Frau-Sein an der Sache sowenig ändert wie bei der Beraterin Jasper, in einen RWE- Aufsichtsrat berufen; das Mandat ist mit 99000 Euro pro Jahr dotiert.
Daran und dass ihr die Tantieme persönlich zusteht, hält die SPD-Frau Mühlenfeld so selbstverständlich fest wie der CDU-Mann Baganz. Möglicherweise ist das eine (Teil-)Erklärung für die verbissene, geschlechtsübergreifende Privatisierungsliebe.
Inzwischen wurde die außerparlamentarische Opposition gegen die Privatisierung stärker. Seit der Kommunalwahl 2004 haben die MBI fünf Vertreter im Rat, und mit der WIR (WählerInitiative Ruhr) wurde eine weitere Oppositionsfraktion in den Rat gewählt. Mit ihrer Unterstützung gelang im Februar 2005 ein Bürgerentscheid: Überraschend für die Privatisierungsparteien und für das Pressemonopol der WAZ stimmten 27400 Bürger gegen jegliche weitere Privatisierungen. Zu diesem Erfolg haben viele beigetragen, die sich in einer neuen Koalition zusammenfanden. Neben MBI und WIR waren dies die Gewerkschaft Ver.di und Attac.
Der Bürgerentscheid sollte den Verkauf des letzten größeren Eigentums, das der Stadt verblieben ist — vier Altenheime mit großen Grundstücken —, verhindern. Doch die große Koalition will ihn unterlaufen. Der Werksausschuss der Altenheime hat nach dem Bürgerentscheid ein Gutachten in Auftrag gegeben, und zwar bei einem Konsortium aus drei Privatisierungsakteuren: die Privatbank Merck, Finck & Co, die auf Sozialimmobilien spezialisierte Terranus-Gruppe und die Anwaltskanzlei Latham & Watkins LLP. Sie werben damit, dass sie die Städte Kiel und Goslar beim Verkauf ihrer Krankenhäuser und Altenheime an die Unternehmen Senator und Asklepios beraten haben.
Das Gutachten hat gut 100000 Euro gekostet. Darin heißt es, die Stadt könne schon vor Ablauf der zweijährigen Bindungsfrist tätig werden: "Der insofern eindeutige Wortlaut des Bürgerentscheids steht der Veräußerung von Vermögensgegenständen in Form eines Asset-Deal grundsätzlich nicht entgegen." Ein Asset-Deal würde so ablaufen: Die Stadt bringt die Altenheime in eine neugegründete private Gesellschaft ein, an der sie einen privaten Träger beteiligt. An die könnte die Stadt dann die Grundstücke und Altenheime verkaufen.

Werner Rügemer

Der Text ist ein Auszug aus Werner Rügemers im Verlag Westfälisches Dampfboot neu erschieinenen Buches: Privatisierung in Deutschland.





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