SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2006, Seite 14

Türkischer Staatsterror und Massenproteste in Kurdistan

Desillusionierung im Armenhaus

Ende März/Anfang April kam es in den kurdischen Gebieten der Türkei zu den seit über zehn Jahren schwersten Unruhen. Bei aufstandsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und Polizei/Militär sind durch den Einsatz der "Sicherheitskräfte" seither mindestens 16 Menschen zu Tode gekommen, darunter auch mehrere Kinder. Hunderte Demonstranten wurden schwer verletzt, unzählige Personen wurden verhaftet, darunter viele Kinder und Jugendliche. "Die Sicherheitskräfte", rechtfertigte der türkische Ministerpräsident Erdogan das Vorgehen von Polizei und Militär, "werden gegen die Handlanger des Terrorismus vorgehen, egal ob es sich um Kinder oder Frauen handelt".
Menschenrechtsorganisationen hatten in den letzten Monaten immer wieder darauf hingewiesen, dass sich an der katastrophalen Menschenrechtssituation in der Türkei in der Praxis wenig geändert hat. Die Zahl der bei der türkischen Menschenrechtsorganisation IHD registrierten Folterfälle hat seit Beginn des Jahres 2005 sogar wieder zugenommen. Internationales Aufsehen erregten auch die Verurteilungen des international bekannten Schriftstellers Orhan Pamuk, der den Massenmord an den Armeniern thematisiert hatte, oder der Menschenrechtsanwältin Eren Keskin, die in Köln im April 2002 über die gängige Praxis von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung während der Haft durch "Sicherheitskräfte" berichtete.
Die militärischen Auseinandersetzungen in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei zwischen den kurdischen Volksbefreiungskräften (HPG, offizieller Name der PKK-Guerilla) und der türkischen Armee hatten sich bereits im letzten Jahr so zugespitzt, dass von einem neuen Krieg in Kurdistan gesprochen werden muss. Gleichzeitig wurde die Repressionsschraube der türkischen Sicherheitskräfte gegenüber der kurdischen Zivilbevölkerung erneut angezogen. Engmaschige Militärkontrollen, Razzien, willkürliche Festnahmen wegen Teilnahme an Veranstaltungen und Demonstrationen und Verwendung der kurdischen Sprache bei öffentlichen politischen Versammlungen oder Erklärungen gehören längst wieder zum Alltag.
Seit Anfang März 2006 sorgten Truppenverlegungen (inklusive Panzer und Artillerie) und die Sperrung von Telekommunikationsmöglichkeiten (Telefon, Handy, Internet) für Unruhe in der Bevölkerung. Schüler und Studierende sind praktisch mit einem politischen Maulkorb belegt, wenn sie sich für linke und/oder kurdische Fragen einsetzten. Im letzten Jahr wurde nach Angaben des kurdischen Studierendenverbands JÖDER gegen fast 2000 Studierende der Universität Van ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren aus politischen Gründen eingeleitet. Etwa 50 Studierende wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, etwa genauso viel Studierende wurden aus politischen Gründen auf Dauer vom Studium ausgeschlossen. Bei Demonstrationen zum Internationalen Frauentag am 8.März wurden zwei Frauen festgenommen, mehrere Tage festgehalten und schwer misshandelt.

Der verpasste Kurswechsel

Die vielfältigen Hoffnungen auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage und der wirtschaftlichen Situation in Kurdistan infolge des EU-Beitrittsprozesses der Türkei sind weitgehend verflogen. Von einem auch nur ansatzweisen wirtschaftlichen Aufschwung ist nichts zu verspüren. Die Arbeitslosigkeit liegt in Kurdistan bei über 50%. Die allgemeine Lage ist nach wie vor durch Armut und Perspektivlosigkeit gekennzeichnet. Insbesondere für die Jugendlichen stellt sich dabei in der Praxis meist nur die Alternative zwischen Migration oder Anschluss an die PKK-Guerilla.
Nach jahrelangen bewaffneten Auseinandersetzungen und dem damit verbundenen Leid für die Zivilbevölkerung wurde deutlich, dass der kurdische Konflikt letztlich nicht oder nicht allein auf militärischer Ebene gelöst werden kann. Die Führung der PKK reagierte mit einem Kurswechsel: Ein einseitig verhängter Waffenstillstand sollte die Voraussetzungen für einen politischen Dialog und die Vertretung der kurdischen Sache mit Mitteln der bürgerlichen Demokratie schaffen. An der Haltung der türkischen Regierung änderte sich jedoch nichts. Sie setzte die militärischen Operationen gegen die Guerilla fort.
Die wichtigste politische Partei der kurdischen Bevölkerung — zuerst DEP, dann HADEP, dann DEHAP, jetzt DTB — wurde in ihren politischen Aktivitäten behindert, Parteivertreter und gewählte Funktionsträger wie Bürgermeister kriminalisiert und bedroht. Auch das Muster der Verbotsverfahren wurde fortgeführt. So kam zuletzt die DEHAP ihrem Verbot 2005 mit der Neugründung DTB (Partei für eine Demokratische Gesellschaft) zuvor. Von der Möglichkeit legaler politischer Arbeit kann vor diesem Hintergrund kaum gesprochen werden. Die ständigen Neugründungen sind immer wieder mit organisatorischen Problemen verbunden und die ständige Kriminalisierung mit Verurteilungen zu oft langjährigen Haftstrafen, die wiederum immer wieder zum Verlust von erfahrenen und politisch geschulten Parteivertretern führen. Besonders betroffen von staatlichen Repressionsmaßnahmen sind Frauen innerhalb der kurdischen Bewegung. Fast zielgerichtet werden Vertreterinnen der Frauenkommissionen, Wahlkandidatinnen, Bürgermeisterinnen etc. verhaftet, misshandelt und bedroht.
Mit der Neugründung der DTB sollten entsprechend der politischen Zielsetzung qualitativ und quantitativ weiterführende Schritte gemacht werden, vor allem was die Fragen der demokratischen Strukturen, die personelle Verankerung der Partei und den Anspruch der Schaffung einer politischen Alternative für die ganze Türkei betrifft. In Wirklichkeit blieb es bisher nur bei einer Namensänderung und Absichtserklärungen. Nicht gelungen ist es bisher, gemeinsam mit der türkischen Linken und mit gewerkschaftlichen und demokratischen Kräften eine auch organisatorische politische Alternative zu entwickeln, die die Lösung der kurdischen Frage als gemeinsames Anliegen versteht. Dies ist nicht nur der DTB und PKK zuzuschreiben. Durch die 10%-Hürde für den Einzug ins türkische Parlament ist es darüber hinaus bisher nicht gelungen, eine kurdische Vertretung im Parlament zu etablieren.
Die Erfahrungen der letzten Jahre, dass auch über den Weg der legalen politischen Arbeit keine wirkliche Chance auf politische Einflussnahme und Akzeptanz besteht, hat die Bereitschaft erhöht, erneut auf den bewaffneten Kampf als Mittel der politischen Auseinandersetzung zu setzten. Insbesondere bei den kurdischen Jugendlichen findet diese Stimmung große Verbreitung. Die PKK hat Ende 2004 ihren einseitig erklärten Waffenstillstand aufgehoben.

Die Anschläge von Semdinli

Im Herbst 2005 kam es in der Region Hakkari zu einer Reihe von Bombenanschlägen, bei denen auch Zivilpersonen zu Schaden kamen. Von Seiten der türkischen Regierung wie der regierungsnahen und rechten Presse wurde versucht, diese Anschläge der PKK anzulasten, um sie zu diskreditieren. In Semdinli, einer Kleinstadt in der Nähe der iranischen Grenze, kam es gleich zu mehreren Anschlägen.
Am Antikriegstag wurde eine Handgranate in das aufgestellte "Friedenszelt" geworfen. Wenige Wochen später zerstörte eine in einem Lastwagen versteckte 100-Kilo-Bombe eine ganze Ladenzeile. Bei diesem Anschlag wurden 23 Menschen verletzt. Am 9.November fand ein Handgranatenanschlag auf die Buchhandlung "Umut" (Hoffnung) statt. Eine Person wurde dabei getötet, 15 weitere verletzt. Anwohnern gelang es diesmal jedoch, die Attentäter festzuhalten. Sie stellten dabei fest, dass es sich um Angehörige des Militärgeheimdienstes handelte. Im Auto der Täter befanden sich zudem Lageskizzen für weitere Anschläge und Todeslisten mit Hunderten von Namen — u.a. dem Namen des Buchhändlers der Buchhandlung "Umut".
Die Aufdeckung der Hintergründe der Anschlagserie brachte eine entscheidende Wende in der politischen Auseinandersetzung. Nun war eindeutig klar, dass die türkische Regierung wie zu Hochzeiten der bewaffneten Kämpfe in den kurdischen Gebieten mit Konter-Guerillabanden arbeitete und gezielt Oppositionelle umbringen ließ. In Semdinli, Yüksekova, Hakkari und anderen kurdischen Städten kam es daraufhin bereits Ende 2005 und in den ersten beiden Monaten 2006 immer wieder zu Massenprotesten, in deren Verlauf Barrikaden errichtet, Polizeistationen gestürmt und Panzer in Brand gesetzt wurden. Allein in Yüksekova gab es mehrere Großdemonstrationen an denen jeweils bis zu 80000 Menschen teilnahmen.
Mittlerweile deutlich wurde, dass die Armeeführung keinen Prozess gegen die Verantwortlichen der Anschläge in Semdinli erlaubt und die Attentäter geschützt werden sollen. Ein entsprechender Beschluss erging unmittelbar vor Newroz. Verfolgungsmaßnahmen werden dagegen gegen diejenigen eingeleitet, die weiterhin eine umfassende Aufklärung und Bestrafung der Täter und Hintermänner verlangen, u.a. den Bürgermeister von Yüksekova, einem Mitglied der DTB. Gegen den mit mehr als 80% der Stimmen zum Bürgermeister Gewählten wird derzeit ein Amtsenthebungsverfahren mit der Begründung geführt, er habe im Untersuchungsausschuss zu den Vorfällen in Semdinli die Auffassung vertreten, die PKK sei keine terroristische Vereinigung.

Newroz 2006

Die diesjährigen Newroz-Veranstaltungen standen deswegen unter dem Motto "Die Türkei von Semdinli aus erleuchten!" Der Geist des Widerstandes der Bevölkerung sollte auf die ganze Türkei übertragen und gleichzeitig den fortdauernden Konterguerilla-Aktivitäten, Provokationen und Falschmeldungen der Regierung den Kampf angesagt werden.
Den Auftakt bildete eine Pressekonferenz der DTB-Bürgermeister der Region Van, Hakkari, Yüksekova, auf der nochmals die Notwendigkeit einer politischen Lösung der kurdischen Frage betont wurde. In einem Autokonvoi fuhren die Bürgermeister anschließend von Van nach Semdinli, um an der dortigen Newroz-Feier teilzunehmen. In Semdinli wie auch in verschiedenen anderen Städten wurde die Veranstaltung jedoch verboten.
Die massiven Behinderungen und Repressionsmaßnahmen durch Polizei und Militär im Vorfeld von Newroz ließen schließlich den Verdacht aufkommen, es sollte eine militärische Konfrontation geradezu provoziert werden. Von kurdischer Seite wurde deswegen alles getan, um den türkischen "Sicherheitskräften" keinen Vorwand zum Eingreifen zu geben. Die PKK rief einen einseitigen Waffenstillstand für die Newroz-Zeit aus, die DTB- Verantwortlichen riefen ihre Anhänger und die Bevölkerung zu Selbstdisziplin und Zurückhaltung auf, um einen friedlichen Verlauf der Newroz-Veranstaltungen sicherzustellen.
Trotz aller Schikanen haben Millionen Menschen friedlich an Newroz für eine demokratische Erneuerung in der Türkei, für die Sicherung der Rechte der Kurden und für die Freiheit von Abdullah Özalan demonstriert. Deutlich wurde jedoch auch, dass die Bevölkerung mit ihrer Geduld am Ende ist und nicht nur Worte sondern auch Taten gegen Armut und Staatsterror verlangt. Eine scheinbar unlösbare Aufgabe für PKK und DTB.

Ein Volksaufstand?

Die kurdische Frage ist also nicht, wie einige Zeitungskommentatoren anmerkten, durch die Ereignisse nach Newroz erneut aufgetaucht. Sie war immer da, wurde jedoch ignoriert. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war diesmal ein Angriff des türkischen Militärs auf ein Winterlager der PKK- Guerilla in der Nähe von Mus — trotz des erklärten Waffenstillstands über die Newroz-Tage. Es wurde außerdem berichtet, dass die getöteten HPG-Mitglieder nicht im Kampf gefallen sind, sondern, wie schon viele andere zuvor, durch einen Giftgaseinsatz umgebracht wurden. Bei der Beerdigung von vier aus Diyarbakir stammenden Guerillas, an der Zehntausende teilnahmen, kam es dann zu ersten Straßenschlachten mit der Polizei.
In den Folgetagen weiteten sich die Auseinandersetzungen auch auf andere kurdische Städte aus. Massendemonstrationen mit mehr als 100000 Menschen wie in Diyabarkir zeigten die Breite der Bewegung. Das Bild der Ereignisse, das von der türkischen Regierung gezeichnet wird, folgt dagegen dem alten Strickmuster von den Terroristen und den zum Krawall verführten Kindern und Jugendlichen. Von der Realität und der Bedeutung der Ereignisse ist diese Sichtweise weit entfernt. Die Unruhen sind Folge einer lange aufgestauten Wut in weiten Teilen der Bevölkerung und haben gezeigt, dass die Widerstandsbereitschaft der kurdischen Bevölkerung gegen die soziale Lage wie die staatliche Repression nach wie vor ungebrochen ist. Derzeit spitzen sich alle Forderungen immer noch auf die Freilassung von Abdullah Öcalan zu, auf dem alle Hoffnungen für einen gesellschaftlichen Wandel liegen. PKK-Verbote und die Übernahme der Terrorismusideologie der türkischen Regierung durch EU und BRD tragen deswegen nichts zur Lösung der kurdischen Frage bei, sondern verhärten nur die Fronten.
Die Ereignisse Anfang April haben zudem erneut deutlich gemacht, dass es derzeit offensichtlich keine politische Kraft gibt, die in der Lage ist, dem kurdischen Widerstandspotenzial eine klare Orientierung zu geben, die zudem mit einem sozialen und wirtschaftlichen Programm verbunden wäre, das Signalwirkung auch über die kurdischen Gebiete hinaus haben könnte. Nur so wird es möglich sein, die Sackgasse rein militärischer Auseinandersetzungen zu vermeiden und den überall diskutierten "Volksaufstand" zu organisieren.

Brigitte Kiechle

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