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Ende März/Anfang April kam es in den kurdischen Gebieten der Türkei zu
den seit über zehn Jahren schwersten Unruhen. Bei aufstandsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen
Demonstrierenden und Polizei/Militär sind durch den Einsatz der "Sicherheitskräfte" seither
mindestens 16 Menschen zu Tode gekommen, darunter auch mehrere Kinder. Hunderte Demonstranten wurden schwer
verletzt, unzählige Personen wurden verhaftet, darunter viele Kinder und Jugendliche. "Die
Sicherheitskräfte", rechtfertigte der türkische Ministerpräsident Erdogan das Vorgehen von
Polizei und Militär, "werden gegen die Handlanger des Terrorismus vorgehen, egal ob es sich um Kinder
oder Frauen handelt".
Menschenrechtsorganisationen hatten in den
letzten Monaten immer wieder darauf hingewiesen, dass sich an der katastrophalen Menschenrechtssituation in der
Türkei in der Praxis wenig geändert hat. Die Zahl der bei der türkischen
Menschenrechtsorganisation IHD registrierten Folterfälle hat seit Beginn des Jahres 2005 sogar wieder
zugenommen. Internationales Aufsehen erregten auch die Verurteilungen des international bekannten
Schriftstellers Orhan Pamuk, der den Massenmord an den Armeniern thematisiert hatte, oder der
Menschenrechtsanwältin Eren Keskin, die in Köln im April 2002 über die gängige Praxis von
sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung während der Haft durch "Sicherheitskräfte"
berichtete.
Die militärischen Auseinandersetzungen in
den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei zwischen den kurdischen Volksbefreiungskräften
(HPG, offizieller Name der PKK-Guerilla) und der türkischen Armee hatten sich bereits im letzten Jahr so
zugespitzt, dass von einem neuen Krieg in Kurdistan gesprochen werden muss. Gleichzeitig wurde die
Repressionsschraube der türkischen Sicherheitskräfte gegenüber der kurdischen
Zivilbevölkerung erneut angezogen. Engmaschige Militärkontrollen, Razzien, willkürliche
Festnahmen wegen Teilnahme an Veranstaltungen und Demonstrationen und Verwendung der kurdischen Sprache bei
öffentlichen politischen Versammlungen oder Erklärungen gehören längst wieder zum Alltag.
Seit Anfang März 2006 sorgten
Truppenverlegungen (inklusive Panzer und Artillerie) und die Sperrung von Telekommunikationsmöglichkeiten
(Telefon, Handy, Internet) für Unruhe in der Bevölkerung. Schüler und Studierende sind praktisch
mit einem politischen Maulkorb belegt, wenn sie sich für linke und/oder kurdische Fragen einsetzten. Im
letzten Jahr wurde nach Angaben des kurdischen Studierendenverbands JÖDER gegen fast 2000 Studierende der
Universität Van ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren aus politischen Gründen eingeleitet. Etwa
50 Studierende wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, etwa genauso viel Studierende wurden aus politischen
Gründen auf Dauer vom Studium ausgeschlossen. Bei Demonstrationen zum Internationalen Frauentag am
8.März wurden zwei Frauen festgenommen, mehrere Tage festgehalten und schwer misshandelt.
Die vielfältigen Hoffnungen auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage und der wirtschaftlichen
Situation in Kurdistan infolge des EU-Beitrittsprozesses der Türkei sind weitgehend verflogen. Von einem
auch nur ansatzweisen wirtschaftlichen Aufschwung ist nichts zu verspüren. Die Arbeitslosigkeit liegt in
Kurdistan bei über 50%. Die allgemeine Lage ist nach wie vor durch Armut und Perspektivlosigkeit
gekennzeichnet. Insbesondere für die Jugendlichen stellt sich dabei in der Praxis meist nur die
Alternative zwischen Migration oder Anschluss an die PKK-Guerilla.
Nach jahrelangen bewaffneten
Auseinandersetzungen und dem damit verbundenen Leid für die Zivilbevölkerung wurde deutlich, dass der
kurdische Konflikt letztlich nicht oder nicht allein auf militärischer Ebene gelöst werden kann. Die
Führung der PKK reagierte mit einem Kurswechsel: Ein einseitig verhängter Waffenstillstand sollte die
Voraussetzungen für einen politischen Dialog und die Vertretung der kurdischen Sache mit Mitteln der
bürgerlichen Demokratie schaffen. An der Haltung der türkischen Regierung änderte sich jedoch
nichts. Sie setzte die militärischen Operationen gegen die Guerilla fort.
Die wichtigste politische Partei der kurdischen
Bevölkerung zuerst DEP, dann HADEP, dann DEHAP, jetzt DTB wurde in ihren politischen
Aktivitäten behindert, Parteivertreter und gewählte Funktionsträger wie Bürgermeister
kriminalisiert und bedroht. Auch das Muster der Verbotsverfahren wurde fortgeführt. So kam zuletzt die
DEHAP ihrem Verbot 2005 mit der Neugründung DTB (Partei für eine Demokratische Gesellschaft) zuvor.
Von der Möglichkeit legaler politischer Arbeit kann vor diesem Hintergrund kaum gesprochen werden. Die
ständigen Neugründungen sind immer wieder mit organisatorischen Problemen verbunden und die
ständige Kriminalisierung mit Verurteilungen zu oft langjährigen Haftstrafen, die wiederum immer
wieder zum Verlust von erfahrenen und politisch geschulten Parteivertretern führen. Besonders betroffen
von staatlichen Repressionsmaßnahmen sind Frauen innerhalb der kurdischen Bewegung. Fast zielgerichtet
werden Vertreterinnen der Frauenkommissionen, Wahlkandidatinnen, Bürgermeisterinnen etc. verhaftet,
misshandelt und bedroht.
Mit der Neugründung der DTB sollten
entsprechend der politischen Zielsetzung qualitativ und quantitativ weiterführende Schritte gemacht
werden, vor allem was die Fragen der demokratischen Strukturen, die personelle Verankerung der Partei und den
Anspruch der Schaffung einer politischen Alternative für die ganze Türkei betrifft. In Wirklichkeit
blieb es bisher nur bei einer Namensänderung und Absichtserklärungen. Nicht gelungen ist es bisher,
gemeinsam mit der türkischen Linken und mit gewerkschaftlichen und demokratischen Kräften eine auch
organisatorische politische Alternative zu entwickeln, die die Lösung der kurdischen Frage als gemeinsames
Anliegen versteht. Dies ist nicht nur der DTB und PKK zuzuschreiben. Durch die 10%-Hürde für den
Einzug ins türkische Parlament ist es darüber hinaus bisher nicht gelungen, eine kurdische Vertretung
im Parlament zu etablieren.
Die Erfahrungen der letzten Jahre, dass auch
über den Weg der legalen politischen Arbeit keine wirkliche Chance auf politische Einflussnahme und
Akzeptanz besteht, hat die Bereitschaft erhöht, erneut auf den bewaffneten Kampf als Mittel der
politischen Auseinandersetzung zu setzten. Insbesondere bei den kurdischen Jugendlichen findet diese Stimmung
große Verbreitung. Die PKK hat Ende 2004 ihren einseitig erklärten Waffenstillstand aufgehoben.
Im Herbst 2005 kam es in der Region Hakkari zu einer Reihe von Bombenanschlägen, bei denen auch
Zivilpersonen zu Schaden kamen. Von Seiten der türkischen Regierung wie der regierungsnahen und rechten
Presse wurde versucht, diese Anschläge der PKK anzulasten, um sie zu diskreditieren. In Semdinli, einer
Kleinstadt in der Nähe der iranischen Grenze, kam es gleich zu mehreren Anschlägen.
Am Antikriegstag wurde eine Handgranate in das
aufgestellte "Friedenszelt" geworfen. Wenige Wochen später zerstörte eine in einem
Lastwagen versteckte 100-Kilo-Bombe eine ganze Ladenzeile. Bei diesem Anschlag wurden 23 Menschen verletzt. Am
9.November fand ein Handgranatenanschlag auf die Buchhandlung "Umut" (Hoffnung) statt. Eine Person
wurde dabei getötet, 15 weitere verletzt. Anwohnern gelang es diesmal jedoch, die Attentäter
festzuhalten. Sie stellten dabei fest, dass es sich um Angehörige des Militärgeheimdienstes handelte.
Im Auto der Täter befanden sich zudem Lageskizzen für weitere Anschläge und Todeslisten mit
Hunderten von Namen u.a. dem Namen des Buchhändlers der Buchhandlung "Umut".
Die Aufdeckung der Hintergründe der
Anschlagserie brachte eine entscheidende Wende in der politischen Auseinandersetzung. Nun war eindeutig klar,
dass die türkische Regierung wie zu Hochzeiten der bewaffneten Kämpfe in den kurdischen Gebieten mit
Konter-Guerillabanden arbeitete und gezielt Oppositionelle umbringen ließ. In Semdinli, Yüksekova,
Hakkari und anderen kurdischen Städten kam es daraufhin bereits Ende 2005 und in den ersten beiden Monaten
2006 immer wieder zu Massenprotesten, in deren Verlauf Barrikaden errichtet, Polizeistationen gestürmt und
Panzer in Brand gesetzt wurden. Allein in Yüksekova gab es mehrere Großdemonstrationen an denen
jeweils bis zu 80000 Menschen teilnahmen.
Mittlerweile deutlich wurde, dass die
Armeeführung keinen Prozess gegen die Verantwortlichen der Anschläge in Semdinli erlaubt und die
Attentäter geschützt werden sollen. Ein entsprechender Beschluss erging unmittelbar vor Newroz.
Verfolgungsmaßnahmen werden dagegen gegen diejenigen eingeleitet, die weiterhin eine umfassende
Aufklärung und Bestrafung der Täter und Hintermänner verlangen, u.a. den Bürgermeister von
Yüksekova, einem Mitglied der DTB. Gegen den mit mehr als 80% der Stimmen zum Bürgermeister
Gewählten wird derzeit ein Amtsenthebungsverfahren mit der Begründung geführt, er habe im
Untersuchungsausschuss zu den Vorfällen in Semdinli die Auffassung vertreten, die PKK sei keine
terroristische Vereinigung.
Die diesjährigen Newroz-Veranstaltungen standen deswegen unter dem Motto "Die Türkei von
Semdinli aus erleuchten!" Der Geist des Widerstandes der Bevölkerung sollte auf die ganze Türkei
übertragen und gleichzeitig den fortdauernden Konterguerilla-Aktivitäten, Provokationen und
Falschmeldungen der Regierung den Kampf angesagt werden.
Den Auftakt bildete eine Pressekonferenz der
DTB-Bürgermeister der Region Van, Hakkari, Yüksekova, auf der nochmals die Notwendigkeit einer
politischen Lösung der kurdischen Frage betont wurde. In einem Autokonvoi fuhren die Bürgermeister
anschließend von Van nach Semdinli, um an der dortigen Newroz-Feier teilzunehmen. In Semdinli wie auch in
verschiedenen anderen Städten wurde die Veranstaltung jedoch verboten.
Die massiven Behinderungen und
Repressionsmaßnahmen durch Polizei und Militär im Vorfeld von Newroz ließen schließlich den
Verdacht aufkommen, es sollte eine militärische Konfrontation geradezu provoziert werden. Von kurdischer
Seite wurde deswegen alles getan, um den türkischen "Sicherheitskräften" keinen Vorwand zum
Eingreifen zu geben. Die PKK rief einen einseitigen Waffenstillstand für die Newroz-Zeit aus, die DTB-
Verantwortlichen riefen ihre Anhänger und die Bevölkerung zu Selbstdisziplin und Zurückhaltung
auf, um einen friedlichen Verlauf der Newroz-Veranstaltungen sicherzustellen.
Trotz aller Schikanen haben Millionen Menschen
friedlich an Newroz für eine demokratische Erneuerung in der Türkei, für die Sicherung der
Rechte der Kurden und für die Freiheit von Abdullah Özalan demonstriert. Deutlich wurde jedoch auch,
dass die Bevölkerung mit ihrer Geduld am Ende ist und nicht nur Worte sondern auch Taten gegen Armut und
Staatsterror verlangt. Eine scheinbar unlösbare Aufgabe für PKK und DTB.
Die kurdische Frage ist also nicht, wie einige Zeitungskommentatoren anmerkten, durch die Ereignisse nach
Newroz erneut aufgetaucht. Sie war immer da, wurde jedoch ignoriert. Der Tropfen, der das Fass zum
Überlaufen brachte, war diesmal ein Angriff des türkischen Militärs auf ein Winterlager der PKK-
Guerilla in der Nähe von Mus trotz des erklärten Waffenstillstands über die Newroz-Tage.
Es wurde außerdem berichtet, dass die getöteten HPG-Mitglieder nicht im Kampf gefallen sind, sondern,
wie schon viele andere zuvor, durch einen Giftgaseinsatz umgebracht wurden. Bei der Beerdigung von vier aus
Diyarbakir stammenden Guerillas, an der Zehntausende teilnahmen, kam es dann zu ersten Straßenschlachten
mit der Polizei.
In den Folgetagen weiteten sich die
Auseinandersetzungen auch auf andere kurdische Städte aus. Massendemonstrationen mit mehr als 100000
Menschen wie in Diyabarkir zeigten die Breite der Bewegung. Das Bild der Ereignisse, das von der
türkischen Regierung gezeichnet wird, folgt dagegen dem alten Strickmuster von den Terroristen und den zum
Krawall verführten Kindern und Jugendlichen. Von der Realität und der Bedeutung der Ereignisse ist
diese Sichtweise weit entfernt. Die Unruhen sind Folge einer lange aufgestauten Wut in weiten Teilen der
Bevölkerung und haben gezeigt, dass die Widerstandsbereitschaft der kurdischen Bevölkerung gegen die
soziale Lage wie die staatliche Repression nach wie vor ungebrochen ist. Derzeit spitzen sich alle Forderungen
immer noch auf die Freilassung von Abdullah Öcalan zu, auf dem alle Hoffnungen für einen
gesellschaftlichen Wandel liegen. PKK-Verbote und die Übernahme der Terrorismusideologie der
türkischen Regierung durch EU und BRD tragen deswegen nichts zur Lösung der kurdischen Frage bei,
sondern verhärten nur die Fronten.
Die Ereignisse Anfang April haben zudem erneut
deutlich gemacht, dass es derzeit offensichtlich keine politische Kraft gibt, die in der Lage ist, dem
kurdischen Widerstandspotenzial eine klare Orientierung zu geben, die zudem mit einem sozialen und
wirtschaftlichen Programm verbunden wäre, das Signalwirkung auch über die kurdischen Gebiete hinaus
haben könnte. Nur so wird es möglich sein, die Sackgasse rein militärischer Auseinandersetzungen
zu vermeiden und den überall diskutierten "Volksaufstand" zu organisieren.
Brigitte Kiechle
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