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Ende letzten Jahres veröffentlichte die nationale Leitung der
brasilianischen Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) eine Erklärung,
in der sie in ungewohnt scharfer Weise mit der Landreformpolitik der Regierung von Präsident Lula da
Silva ins Gericht ging.
Anlass waren die kurz zuvor veröffentlichten Erfolgsmeldungen des Ministeriums für
landwirtschaftliche Entwicklung, in denen von 115000 neu angesiedelten landlosen Familien für das Jahr
2005 berichtet wurde. Damit seien die Ziele des Nationalen Plans für Agrarreform für dieses Jahr
sogar übererfüllt worden. Die MST freilich hält diese Zahlen für übertrieben.
So seien in vielen Fällen unproduktive
Ländereien erneut vergeben worden, die von bereits vorher angesiedelten Familien wieder verlassen
worden waren. Viele Ansiedlungen fänden zudem im Amazonasgebiet unter höchst prekärem
Bedingungen statt, während andererseits die illegalen Landnahmen der Großgrundbesitzer in dieser
Region unangetastet blieben.
Kritisiert wird von der MST auch das Modell
der "marktgestützten Landreform". Dieses von der Weltbank finanzierte Modell sieht vor, dass
Zusammenschlüsse von Landlosen, unterstützt von einer Mischung aus Krediten und Subventionen,
Land von zumeist kleineren oder mittelgroßen Grundbesitzern erwerben können. Praktisch führt
dies dazu, dass Grundbesitzer Ländereien schlechter Qualität abstoßen können,
während sich die landlosen Bauern verschulden, ohne jemals die Chance zu haben, die aufgenommenen
Kredite zurückzuzahlen.
Ein ähnlich konzipiertes Programm war
bereits Mitte der 90er Jahre aufgelegt worden. Die MST geht davon aus, dass als Folge des damaligen
Programms heute etwa 40000 Kleinbauernfamilien vor allem im Nordosten des Landes völlig
überschuldet sind.
Insgesamt unterscheide sich die
Agrarpolitik der Regierung Lula nicht von der ihrer Vorgänger und ziele nicht auf eine qualitative
Veränderung der Besitzstrukturen auf dem Land, lautet die ernüchternde Bilanz der
Landlosenbewegung.
Miguel Rossetto, Minister für
landwirtschaftliche Entwicklung, und Rolf Hackbart, Präsident der Agrarreformbehörde INCRA, haben
die Kritik der Landlosenbewegung zurückgewiesen, doch steht die MST mit ihrer Position nicht allein.
So stellte etwa die Zeitschrift Correio de
Cidadania eine Liste der Fortschritte und eine Liste der Niederlagen für die Landlosen und die
sozialen Bewegungen auf dem Land seit Lulas Amtsantritt einander gegenüber. Die Positivliste umfasst
10, die Negativliste 29 Punkte, darunter die Freigabe von genmanipuliertem Soja, die Vergabe
öffentlicher Kredite an die Agroindustrie und das Anwachsen der Gewalt gegen Landlose.
Die Rahmenbedingungen werden dabei durch
eine Wirtschaftspolitik gesetzt, die die Bedienung des Schuldendienstes ins Zentrum stellt, statt die
Förderung der Kleinbauern und die Entwicklung des Binnenmarkts für Agrarprodukte voranzutreiben.
Herausgeber des Correio ist Plinio de
Arruda Sampaio, unter dessen Leitung vor drei Jahren der Nationale Plan zur Agrarreform ausgearbeitet
worden war. Einer von Sampaios Mitarbeitern war damals Ariovaldo Umbelino de Oliveira, Professor für
Geografie an der Universität von São Paulo.
De Oliveira hatte bereits in den letzten
Jahren Zweifel an den offiziellen Zahlen zum Erfolg der Agrarreform geäußert. Anfang März
nun legte er auf einer Versammlung der Kleinbauernorganisation Via Campesina ein Papier vor, in dem er
aufzeigt, dass die Zahl der tatsächlichen Ansiedlungen von Landlosen seit Lulas Amtsantritt um
über 155000 hinter den Planungen zurückliegt. Konsequenterweise spricht de Oliveira daher auch
von einer "Nicht-Agrarreform".
Die MST hat in dieser Situation zu
umfangreichen Mobilisierungen aufgerufen. Im März kam es in 17 brasilianischen Bundesstaaten zugleich
zu Landbesetzungen, mit denen gegen die Passivität der Regierung bei der Agrarreform protestiert
werden sollte. Auch im April fanden größere Kundgebungen statt. Anlass war der zehnte Jahrestag
des Massakers von Eldorado dos Carajás im nördlichen Bundesstaat Pará. Dort waren 1996 19
Landlose während einer Demonstration von der Polizei ermordet worden.
Im Wahljahr 2006 ist die brasilianische
Landlosenbewegung also noch einmal deutlich in die Offensive gegangen. Zwar erklärte João Pedro
Stédile, der nationale Koordinator der MST, Ende März gegenüber der Zeitung Folha de São
Paulo, er werde im Herbst erneut für Lula stimmen, "um sich mit ihm über die
Wirtschaftspolitik zu streiten". Dennoch sind die Risse im informellen Bündnis zwischen
Landlosenbewegung und Regierung nicht mehr zu übersehen. Bisher sah die MST die Lula-Regierung als
eine Koalition von fortschrittlichen Kräften, die als Verbündete galten, und konservativen
Kräften der alten Elite, die man zurückdrängen müsse.
Nach den Erfahrungen der letzten Jahre
könnte sich aber auch bei der MST die Ansicht durchsetzen, dass die linken Kräfte in der
Regierung lediglich eine Feigenblattfunktion erfüllen, aber nicht in der Lage sind, den neoliberalen
und an den Forderungen der internationalen Finanzmärkte orientierten Kurs der Regierungsmehrheit zu
ändern.
Harald Etzbach
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