SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2006, Seite 16

Brasilien

MST mobilisiert gegen "Nicht-Agrarreform"

Ende letzten Jahres veröffentlichte die nationale Leitung der brasilianischen Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) eine Erklärung, in der sie in ungewohnt scharfer Weise mit der Landreformpolitik der Regierung von Präsident Lula da Silva ins Gericht ging.

Anlass waren die kurz zuvor veröffentlichten Erfolgsmeldungen des Ministeriums für landwirtschaftliche Entwicklung, in denen von 115000 neu angesiedelten landlosen Familien für das Jahr 2005 berichtet wurde. Damit seien die Ziele des Nationalen Plans für Agrarreform für dieses Jahr sogar übererfüllt worden. Die MST freilich hält diese Zahlen für übertrieben.
So seien in vielen Fällen unproduktive Ländereien erneut vergeben worden, die von bereits vorher angesiedelten Familien wieder verlassen worden waren. Viele Ansiedlungen fänden zudem im Amazonasgebiet unter höchst prekärem Bedingungen statt, während andererseits die illegalen Landnahmen der Großgrundbesitzer in dieser Region unangetastet blieben.
Kritisiert wird von der MST auch das Modell der "marktgestützten Landreform". Dieses von der Weltbank finanzierte Modell sieht vor, dass Zusammenschlüsse von Landlosen, unterstützt von einer Mischung aus Krediten und Subventionen, Land von zumeist kleineren oder mittelgroßen Grundbesitzern erwerben können. Praktisch führt dies dazu, dass Grundbesitzer Ländereien schlechter Qualität abstoßen können, während sich die landlosen Bauern verschulden, ohne jemals die Chance zu haben, die aufgenommenen Kredite zurückzuzahlen.
Ein ähnlich konzipiertes Programm war bereits Mitte der 90er Jahre aufgelegt worden. Die MST geht davon aus, dass als Folge des damaligen Programms heute etwa 40000 Kleinbauernfamilien vor allem im Nordosten des Landes völlig überschuldet sind.
Insgesamt unterscheide sich die Agrarpolitik der Regierung Lula nicht von der ihrer Vorgänger und ziele nicht auf eine qualitative Veränderung der Besitzstrukturen auf dem Land, lautet die ernüchternde Bilanz der Landlosenbewegung.
Miguel Rossetto, Minister für landwirtschaftliche Entwicklung, und Rolf Hackbart, Präsident der Agrarreformbehörde INCRA, haben die Kritik der Landlosenbewegung zurückgewiesen, doch steht die MST mit ihrer Position nicht allein.
So stellte etwa die Zeitschrift Correio de Cidadania eine Liste der Fortschritte und eine Liste der Niederlagen für die Landlosen und die sozialen Bewegungen auf dem Land seit Lulas Amtsantritt einander gegenüber. Die Positivliste umfasst 10, die Negativliste 29 Punkte, darunter die Freigabe von genmanipuliertem Soja, die Vergabe öffentlicher Kredite an die Agroindustrie und das Anwachsen der Gewalt gegen Landlose.
Die Rahmenbedingungen werden dabei durch eine Wirtschaftspolitik gesetzt, die die Bedienung des Schuldendienstes ins Zentrum stellt, statt die Förderung der Kleinbauern und die Entwicklung des Binnenmarkts für Agrarprodukte voranzutreiben.
Herausgeber des Correio ist Plinio de Arruda Sampaio, unter dessen Leitung vor drei Jahren der Nationale Plan zur Agrarreform ausgearbeitet worden war. Einer von Sampaios Mitarbeitern war damals Ariovaldo Umbelino de Oliveira, Professor für Geografie an der Universität von São Paulo.
De Oliveira hatte bereits in den letzten Jahren Zweifel an den offiziellen Zahlen zum Erfolg der Agrarreform geäußert. Anfang März nun legte er auf einer Versammlung der Kleinbauernorganisation Via Campesina ein Papier vor, in dem er aufzeigt, dass die Zahl der tatsächlichen Ansiedlungen von Landlosen seit Lulas Amtsantritt um über 155000 hinter den Planungen zurückliegt. Konsequenterweise spricht de Oliveira daher auch von einer "Nicht-Agrarreform".
Die MST hat in dieser Situation zu umfangreichen Mobilisierungen aufgerufen. Im März kam es in 17 brasilianischen Bundesstaaten zugleich zu Landbesetzungen, mit denen gegen die Passivität der Regierung bei der Agrarreform protestiert werden sollte. Auch im April fanden größere Kundgebungen statt. Anlass war der zehnte Jahrestag des Massakers von Eldorado dos Carajás im nördlichen Bundesstaat Pará. Dort waren 1996 19 Landlose während einer Demonstration von der Polizei ermordet worden.
Im Wahljahr 2006 ist die brasilianische Landlosenbewegung also noch einmal deutlich in die Offensive gegangen. Zwar erklärte João Pedro Stédile, der nationale Koordinator der MST, Ende März gegenüber der Zeitung Folha de São Paulo, er werde im Herbst erneut für Lula stimmen, "um sich mit ihm über die Wirtschaftspolitik zu streiten". Dennoch sind die Risse im informellen Bündnis zwischen Landlosenbewegung und Regierung nicht mehr zu übersehen. Bisher sah die MST die Lula-Regierung als eine Koalition von fortschrittlichen Kräften, die als Verbündete galten, und konservativen Kräften der alten Elite, die man zurückdrängen müsse.
Nach den Erfahrungen der letzten Jahre könnte sich aber auch bei der MST die Ansicht durchsetzen, dass die linken Kräfte in der Regierung lediglich eine Feigenblattfunktion erfüllen, aber nicht in der Lage sind, den neoliberalen und an den Forderungen der internationalen Finanzmärkte orientierten Kurs der Regierungsmehrheit zu ändern.

Harald Etzbach

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