SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2006, Seite 18

Ist der Kapitalismus am Ende?

Elmar Altvaters Kapitalismuskritik wirft Fragen auf

Elmar Altvater: Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik, Münster: Westfälisches Dampfboot, 2005, 240 Seiten, 14,90 Euro

WWie bereits im gemeinsam mit Birgit Mahnkopf geschriebenen Buch Die Grenzen der Globalisierung von 1996 steht auch hier der von Karl Polanyi eingebrachte Begriff des disembedding an zentraler Stelle, der Kapitalismus wesentlich als Entbettung der Marktverhältnisse aus der gesellschaftlichen Einbindung definiert. "Vereinfacht, aber nicht falsch, kann gesagt werden, dass Entbettung bedeutet, dass sich die Kapitalinteressen gegenüber allen anderen Interessen durchsetzen können." Altvater beschreibt die Machtkonzentration und die Korruption der großen internationalen Konzerne, den Bedeutungszuwachs der Shareholder auf Kosten der Stakeholder und er zeigt ausführlich, weshalb die Entfesselung der Finanzmärkte mittels hoher Zinsen und starker Konzentration von Reichtum die "reale" Wirtschaft erdrückt und ausplündert.

Grenzen des Kapitalismus

Altvater will nicht nur die negativen Folgen von disembedding zeigen, sondern argumentiert auch, dass durch diesen Prozess nicht nur die Widersprüche innerhalb des Systems steigen, sondern dass dadurch der Kapitalismus an seine Grenzen stoße und diese Grenzen auch immer sichtbarer würden. "Es wird dabei jene gesellschaftliche Kohärenz, die für die Reproduktion der Gesellschaft und eines ‘Blocks an der Macht‘ unabdingbar ist, zerstört. Dies ist der deutlichste Ausdruck des ‘disembedding‘." Dieses "finanzgetriebene Akkumulationsmodell" bildet die eine große Schranke "des Kapitalismus, wie wir ihn kennen".
Die andere Schranke sieht Altvater in der Natur, genauer: in deren beschränkten Ressourcen. Der Kapitalismus revolutionierte nicht nur die Technik, sondern auch die Art der Energieversorgung. Zum ersten Mal werden fossile, d.h. nichterneuerbare Ressourcen der Erde systematisch ausgebeutet, um die neuen Technologien auch betreiben zu können. "Die industrielle Revolution war also auch eine fossile Revolution." Woran sich bis heute nichts verändert hat. Da Erdöl, Kohle, Erdgas etc. begrenzt und teilweise ans Ende ihrer Abbaubarkeit gelangt sind, wird der Kapitalismus in diesem Jahrhundert auf technologischer Seite grundlegend verändert werden müssen. So weit so gut.
Altvater geht aber noch weiter, indem er die fossile Energiezufuhr in eine "trinitarische Kongruenz" mit der kapitalistischen Gesellschaftsformation und europäischer Rationalität bringt. Diese drei sind ihm untrennbar miteinander verwoben, und das Ende des einen (der fossilen Energieträger) wird zwangsläufig das Ende der anderen beiden mit sich bringen — auch des Kapitalismus, zumindest wie wir ihn kennen, denn: "Diese Grenzen der Natur stehen im Gegensatz zur unbegrenzten (selbst-referentiellen) Akkumulationsdynamik des globalen Kapitalismus, zu seiner sozialen Form."
Er argumentiert zwar nicht, dass Sozialismus oder Barbarei die einzigen Möglichkeiten wären: Auch ein anderer Kapitalismus wäre möglich. Allerdings müsse er dezentral und weitgehend enthierarchisiert sein und auf einer "solidarischen Ökonomie" fußen, wofür er u.a. die Genossenschaften des 19.Jahrhunderts und die jugoslawische Selbstverwaltung bis Mitte der 70er Jahre beispielhaft anführt. Sie ist "eine praktische Abwehr gegen die ‘Entbettung‘ des Marktes aus der Gesellschaft, also gegen die ökonomischen Sachzwänge." Altvater scheint einen idealtypischen "eingebetteten" Kapitalismus vergangener Zeiten vor Augen zu haben, mit kleinen kapitalistischen Eigentümern neben nichtprofitorientierten Wirtschaftsformen und einer regulierenden Zivilgesellschaft, in der die von Marx und auch von Altvater oft beschriebene Akkumulations-, Zentralisations- und Expansionsbewegung des Kapitals nicht existiert. Zwei Einwände drängen sich hier auf.

Grenzen der Kapitalismuskritik

Warum sollte es erstens dem zeitgenössischen Kapitalismus und seinen herrschenden Klassen nicht gelingen, auf die Verknappung fossiler Brennstoffe entsprechend zu reagieren, d.h. die Produktionsmethoden entsprechend zu verändern, ohne dass damit eine grundlegende Umwälzung der Eigentumsverhältnisse einhergehen muss? Auch die (keineswegs wünschenswerte, aber sehr realistische) Möglichkeit einer markanten Verschiebung hin zu Kernspaltung und -fusion tut er auf ein paar Zeilen als nicht wünschenswert ab.
In der Einleitung beschreibt Altvater das Eintreten für erneuerbare Energien als "Klassenkampf gegen die konservativen Kräfte, die am fossilen Energieregime festhalten wollen, weil es ihre Macht- und Profitbasis ist". Den Kampf innerhalb der energieerzeugenden Industrie, also zwischen unterschiedlichen Fraktionen des Kapitals, definiert er völlig verkehrt als Klassenkampf, weil die einen die fossile Grundlage des Kapitalismus verteidigen wollen, während die anderen an einem neuen Energieregime arbeiten und dabei von progressiven gesellschaftlichen Kräften unterstützt werden, woraus dann "die weltweite Bewegung für erneuerbare Energien" entsteht. Zwischen diesen beiden Bereichen sieht er eine unüberwindbare "Brandmauer", die erst mit einer grundlegenden Erneuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse und dem Ende der fossilen Energieerzeugung überwunden werden könne — also mit dem Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen.
Die Unklarheit in Altvaters Argumentation scheint einen Grund — der zweite Einwand — in seinem Verständnis von Kapitalismus zu haben. Zwar widmet er dem Thema ein eigenes Kapital, referiert dort aber lediglich die Geschichte des Begriffs, ohne eine eigene Definition zu versuchen. Stattdessen bleiben die immer wiederkehrenden Verweise auf Polanyi und Fernand Braudel — zwei Historiker, die die Entstehung des Kapitalismus primär als Ausdehnung von Märkten begreifen und ihn u.a. als Handelssystem beschreiben.
So ist etwa für Polanyi die Entbettung der Märkte das wesentliche Merkmal des Kapitalismus, während die Entstehung völlig neuer und antagonistischer Klassen kaum thematisiert wird, weshalb die für Klassengesellschaften so zentralen Kategorien von Herrschaft und Macht außen vor bleiben. Kapitalismus ist bei ihnen — sehr vereinfacht — eine anonyme, quasitechnische Bewegung von Märkten, denen die entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnisse mehr oder weniger kausal folgen.
Mit seiner "Dreifaltigkeit" von fossilen Energieträgern, kapitalistischer Gesellschaftsformation und europäischer Rationalität argumentiert Altvater sehr ähnlich. Die Basis von fossiler Energieproduktion hat die kapitalistischen Formen, wie wir sie kennen, zur Folge, und mit den ersten schwinden auch die zweiten. Auch in jenen Passagen, in denen er das Funktionieren des heutigen Kapitalismus beschreibt, thematisiert er fast ausschließlich die Ausdehnung von Finanz- und Handelssphäre, während die Produktions- und mit ihnen die Klassenverhältnisse kaum Platz bekommen.
Zwar spricht er beständig von "Gesellschaft", aber diese ist der kapitalistischen Produktionsweise seltsam äußerlich. Die politischen Kämpfe sind bei ihm deshalb kaum Kämpfe zwischen Klassen, sondern zwischen unterschiedlichen Gruppen, deren Motivation sich mal aus wirtschaftlichen Partikularinteressen, mal aus zivilem Engagement speist. Nur deshalb ist es möglich, dass er die Betreiber der großen Windräderparks oder der Wasserkraftwerke in einen Topf mit der globalisierungskritischen Bewegung, den Fabrikbesetzern in Argentinien und dem mexikanischen Chiapas werfen kann, die den Verfechtern des fossilen Kapitalismus antagonistisch gegenüberstehen. Kurz: Altvaters "radikale Kapitalismuskritik" ist keineswegs antikapitalistisch.

Martin Riedl

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