SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2006, Seite 07

Befund des Gesundheitsreports

Eine auch psychisch kranke Gesellschaft

Eine der vielen gesundheitspolitischen Informationen aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMGS) von Jahresbeginn, die auch Experten längst schon wieder vergessen oder übersehen hatten, wurde jetzt doch noch einmal aktuell. Am 2.Januar 2006 hatte es in einer Pressemitteilung des BMGS geheißen: "Krankenstand mit 3,3% auf historischem Tiefststand. Der Krankenstand ist im Jahr 2005 weiter gesunken. Er erreichte einen historischen Tiefststand von 3,3%." Dies gelte sowohl für die "alten" als auch die "neuen" Bundesländer.
Schon im Jahr 2004 war der Krankenstand auf 3,4% und damit auf das niedrigste Niveau seit Einführung der Lohnfortzahlung im Jahr 1970 gesunken, nachdem er 2003 bei 3,6% und damit erstmals unter 4% gelegen hatte. In den 70er Jahren hatten die Krankenstände bei über 5%, in den 80er Jahren zwischen 5,7 und 4,4% gelegen. So gleich nach Neujahr ging diese Meldung fast unter. Doch jetzt bestätigen sowohl die alljährlichen "Gesundheitsreports" der Betriebskrankenkassen (BKK) wie auch der Deutschen Angestelltenkasse (DAK) diese Meldungen. Dabei ist nicht uninteressant, wie und welche Daten aus den umfangreichen Studien besonders gewichtet werden.
Das BMGS hatte hervorgehoben, dass der niedrige Krankenstand zu einer "deutlichen Entlastung der Arbeitgeber durch sinkende Lohnnebenkosten" geführt hätte. Im Jahr 2005 waren pro Kalendertag nur noch gut 907000 Pflichtmitglieder der Krankenkassen krankgeschrieben. Nach Schätzungen des BMGS hatte der Rückgang des Krankenstands allein im Jahr 2004 die Kosten der Lohnfortzahlung um rund 1 Milliarde Euro verringert. Dieser Trend setzte sich im Jahr 2005 auf geringerem Niveau fort. Auch die Ausgaben der Krankenkassen für Krankengeld waren in den ersten drei Quartalen deutlich um 7,4% bzw. 358 Mio. Euro gesunken.

Psychische Erkrankungen als Massenerscheinung

Der BKK Gesundheitsreport 2005 setzte bereits mit dem Titel "Krankheitsentwicklungen — Blickpunkt: Psychische Gesundheit" einen anderen Akzent. Zwar sank der Krankenstand 2004 auf 3,2% (2003: 3,5%). Gegen den Trend sind jedoch psychische Erkrankungen weiter gestiegen. Von 1997 auf 2004 stieg die Zahl der Fälle bei psychischen Erkrankungen um 70%. Die psychischen Erkrankungen sind die einzige Krankheitsart, bei der seit Anfang der Neunzigerjahre eine Zunahme der Arbeitsunfähigkeitstage (nämlich um +28%) zu verzeichnen war. Sie sind bereits die viertwichtigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit — bei Frauen nehmen sie sogar den dritten Rang ein. Fast 10% der Fehltage bei den aktiv Berufstätigen gehen darauf zurück.
Der Report spiegelt die gesundheitlichen Befunde etwa eines Viertels der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und jedes/r fünften GKV-Versicherten in Deutschland wider. Damit geben sie einen repräsentativen Einblick in den Zustand der psychischen Belastungen der meisten lohnabhängig Beschäftigten.
Im neuen BKK-Bericht werden auch Analysen zu den Gründen für Arbeitsunfähigkeit (AU) und Krankenhausbehandlungen vorgelegt. Sie untersuchen neben Einflussfaktoren wie Alter, Geschlecht auch die Bedeutung der sozialen Lage (u.a. durch gesonderte Berücksichtigung von Arbeitslosen) und weisen die Struktur der Arbeitsunfähigkeit nach Wirtschaftszweigen und Berufen nach. Sie bieten mehrjährige Vergleiche sowie auch regional differenzierte Daten.
Auch die DAK hat ihren neuen Gesundheitsreport vorgelegt. An jedem Tag des Jahres 2004 waren danach von 1000 Arbeitnehmern 32 krankgeschrieben. Mehr als die Hälfte der berufstätigen DAK-Mitglieder war jedoch das ganze Jahr über kein einziges Mal krank. Damit lag der Krankenstand bei den DAK-Versicherten auf dem niedrigsten Wert seit 1998. Dies ergab die Auswertung der Krankschreibungen von 2,6 Millionen erwerbstätigen DAK- Mitgliedern im Jahr 2004. Insgesamt liegt der Krankenstand in den östlichen Bundesländern über den Werten in den westlichen Bundesländern. In den "alten" Bundesländern (mit Berlin) beträgt er durchschnittlich 3%, in den "neuen" Bundesländern 3,8%.

Die wichtigsten Krankheitsarten

Die wichtigste Rolle spielen Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems. Auf sie entfallen nahezu ein Viertel (22,6%) aller Krankheitstage. Zweitwichtigste Gruppe sind die Erkrankungen des Atmungssystems mit einem Anteil von 15,5% am Krankenstand. An dritter Stelle stehen mit 14,4% die Verletzungen. Die psychischen Erkrankungen sind die viertgrößte Krankheitsart. 9,8% des Krankenstandes gehen auf psychische Erkrankungen zurück, ihr Anteil ist damit gegenüber dem Vorjahr noch einmal deutlich gestiegen (2003: 8,8%). Gegen den Trend allgemein sinkender Krankenstände stieg seit 2000 die Zahl der Krankheitstage aufgrund depressiver Störungen um 42%. Bei Angststörungen betrug der Anstieg 27%. An fünfter und sechster Stelle stehen Erkrankungen des Verdauungssystems und des Kreislaufsystems mit 7,2 und 5,6%.
Der Krankenstand der Männer lag 2004 mit 3,1% unter dem der weiblichen Versicherten (3,3%). Männer waren im Durchschnitt 11,2 Tage, Frauen dagegen 12,2 Tage krank. Frauen sind häufiger wegen psychischer Erkrankungen arbeitsunfähig und von Angststörungen und Depressionen betroffen. Dementsprechend weisen sie auch erheblich mehr Krankheitstage und -fälle auf. Angststörungen und Depressionen sind die häufigsten psychischen Krankheiten in Deutschland.
In den jüngeren Altersgruppen ist ein überproportionaler Anstieg der psychischen Erkrankungen zu verzeichnen. Hier sind die Altersgruppen der 15- bis 29-Jährigen (bei den Frauen) bzw. der 15- bis 34-Jährigen (bei den Männern) besonders stark betroffen. Zwischen 1997 und 2004 wiesen die jüngeren Altersgruppen zum Teil sogar eine Verdoppelung der Erkrankungsfälle auf. So hatten beispielsweise die Männer im Alter von 25 bis 29 Jahren einen Anstieg um 106%. Bei den Frauen zwischen 20 und 24 Jahren gab es sogar eine Zunahme um 123%.

Jenseits des Tabus

Die Analysen des Berichts geben nach Darstellung der DAK wichtige Aufschlüsse über den unterschiedlichen Umgang mit psychischen Erkrankungen: Jeder siebte Berufstätige ist oder war schon einmal wegen eines psychischen Problems in professioneller Behandlung.
Die Bevölkerung zeigt sich dabei auf den ersten Blick erstaunlich und zunehmend tolerant gegenüber psychischen Erkrankungen. 82% meinen, dass diese als Krankheiten akzeptiert werden. Mehr als zwei Drittel (70%) könnten sich ohne weiteres vorstellen, deshalb einen Arzt oder Therapeuten aufzusuchen. Das Ergebnis spricht auf den ersten Blick gegen eine fortbestehende Tabuisierung. Doch das gilt nicht ohne eine entscheidende Einschränkung: In der betrieblichen Realität ergibt sich nämlich ein ganz anderes Bild. 30% der Arbeit"nehmer" meinen, dass Vorgesetzte wenig Verständnis haben, wenn ein Mitarbeiter wegen psychischer Probleme nicht am Arbeitsplatz erscheint. Mehr als der Hälfte (56%) wäre es gegenüber dem Arbeit"geber" unangenehmer, wegen psychischer Probleme am Arbeitsplatz zu fehlen als wegen anderer Krankheiten. Immerhin 26% meinen auch, dass psychische Erkrankungen oft als "Vorwand für Blaumacherei" ge- bzw. missbraucht werden.
Die DAK hat 22 wissenschaftliche Experten zur Zunahme der psychischen Erkrankungen befragt. Die Mehrheit der Fachleute kommt zu dem Schluss, dass es in Wirklichkeit noch mehr Fälle gibt. Darüber hinaus meinen die Experten, dass Patienten heute wegen psychischer Probleme eher einen Arzt oder Psychologen aufsuchen als früher. Außerdem gehe die moderne Arbeitswelt häufig mit schlechteren Rahmenbedingungen für Menschen einher, die anfälliger für eine psychische Erkrankung sind.
"Angststörungen und Depressionen werden immer mehr zu Volkskrankheiten der Zukunft. In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit reagieren offensichtlich auch mehr junge Menschen mit psychischen Problemen auf berufliche und private Anforderungen", kommentiert DAK-Chef H.Rebscher die Ergebnisse.

Hans-Peter Brenner

Hans-Peter Brenner lebt als Psychologe in Bonn. Der Beitrag erschien zuerst in UZ — Unsere Zeit.



Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang