SoZ - Sozialistische Zeitung |
Lateinamerikanische Einwandererinnen und Einwanderer in den USA haben in den
letzten Wochen mit spektakulären Streiks und Massendemonstrationen ein rassistisches
Einwanderungsgesetz vorläufig stoppen können.
Den Auftakt machte Chicago mit einer Demonstration von über einer halben Million Migranten und
ihren Unterstützern am 10.März. Es war die größte Demonstration in der Geschichte
dieser Stadt. Von hier aus breitete sich der Protest über das ganze Land aus, kleine und große
Städte gleichermaßen.
Millionen folgten am 25.März dem
Aufruf zu einem nationalen Aktionstag allein in Los Angeles gingen 12 Millionen Menschen auf
die Straße auch dies die größte Demonstration in der Geschichte der Stadt. Zeitgleich
gingen Millionen Menschen in Chicago, New York, Atlanta, Washington D.C., Phoenix, Dallas, Houston, Tucson,
Denver und Dutzenden anderen Städten auf die Straße.
Zehn Millionen befolgten einen weiteren
Aktionstag am 10.April. Jetzt traten auch Hunderttausende High-School-Studenten vor allem in Los Angeles in
den Streik, um ihre Familien und Gemeinden zu unterstützen trotz Polizeigewalt und rechtlicher
Verfolgung. Ihre gemeinsame Parole ist: "Hier stehen wir und bleiben wir."
Diese Proteste sind in der Geschichte der
USA ohne Beispiel. Ihr unmittelbarer Anlass war die Verabschiedung eines drakonischen Einwanderungsgesetzes
Mitte März durch das Repräsentantenhaus. Das Gesetz HR4437 wurde vom republikanischen
Abgeordneten James Sensenbrenner eingebracht, mit breiter Unterstützung der Antieinwanderungslobby. Es
kriminalisiert Einwanderer ohne Papiere, indem es den Aufenthalt in den USA ohne Ausweis zu einem
Straftatbestand erklärt. Es fordert auch den Bau der ersten 700 Meilen einer militarisierten
Grenze/Mauer zwischen Mexiko und den USA und die Verdopplung der Grenzschutztruppe US Border Patrol. Und
jeder, der Migranten ohne Papiere Hilfe leistet auch Kirchen, Menschenrechtsgruppen und soziale
Einrichtungen soll als Straftäter verfolgt werden.
Im Senat fiel das Gesetz HR4437 durch. Der
Demokrat Ted Kennedy und der Republikaner John McCain brachten daraufhin gemeinsam einen
"Kompromiss" ein, der ohne einen Straftatbestand auskam und für einige Migranten ohne
Papiere einen begrenzten Amnestieplan vorsah.
Diejenigen, die nachweisen konnte, dass sie
mindestens seit fünf Jahren in den USA leben, hätten die Möglichkeit bekommen,
Aufenthaltsrecht und später auch die Einbürgerung zu beantragen. Diejenigen, die nicht
länger als zwei Jahre in den USA lebten, wären aufgefordert worden zurückzukehren und
über die US-Botschaft ihres Landes einen Antrag auf eine "Gastarbeitererlaubnis" zu stellen.
Diejenigen, die nicht nachweisen konnten, länger als zwei Jahre in den USA gelebt zu haben, wären
ausgewiesen worden.
Somit wäre auch dieser
"Kompromiss" in Massendeportationen und einer drastischen Kontrolle über alle Einwanderer
gemündet. Doch der republikanischen Opposition ging der Entwurf zu weit, und so fiel auch er durch.
Ende April war der ganze Gesetzgebungsprozess somit in der Sackgasse. Wahrscheinlich wird er vor den
Kongresswahlen im November 2006 auch nicht wieder aufgenommen werden.
Der Protest bezieht sich aber längst
nicht mehr nur auf das Gesetz. Er ist zum Ventil lange aufgestauter Wut über die zunehmende Ausbeutung
der Migranten bei gleichzeitiger Verschärfung der Repressalien gegen Einwanderer und einer Zunahme von
Rassismus geworden.
Zweimal hat der Staat Kalifornien den
Migranten das Recht verweigert, eine Fahrerlaubnis zu erlangen. Das bedeutet, dass sie auf völlig
ungenügend oder gar nicht existente öffentliche Verkehrsmittel zurückgreifen oder das Risiko
eingehen müssen, ohne Führerschein zu fahren. Die Fahrerlaubnis ist oft die einzige
Möglichkeit, sich bei so lebenswichtigen Transaktionen wie der Einlösung von Schecks oder der
Anmietung einer Wohnung legal auszuweisen.
Die 3000 Kilometer lange Grenze zwischen
den USA und Mexiko ist zunahmend militarisiert worden, Tausende von Einwandern haben beim Versuch, die
Grenze zu überschreiten, ihr Leben gelassen. Kommandos, die auf eigene Faust Einwanderer jagen, nehmen
zu. Offen rassistische Sprüche, die noch vor wenigen Jahren als extrem gegolten hätten, finden
Eingang in die Massenmedien und werden von der breiten Öffentlichkeit übernommen.
Die paramilitärische Organisation
Minutemen, eine moderne Latinohasserversion des Ku-Klux-Klan, hat sich von ihrem Ursprungsort in den
Grenzgebieten Arizonas und Kaliforniens auf andere Teile des Landes ausgebreitet. Diese Organisation
behauptet, sie müsse "die Grenze sichern", da die staatlichen Kontrollen nicht ausreichend
seien. Ihre Reden sind nicht nur rassistisch, sondern neofaschistisch.
Einige ihrer Mitglieder wurden mit T-Shirts
gefilmt, die die Aufschrift trugen: "Heute einen Mexikaner killen?" Andere machen Geschäfte
mit "Menschensafaris" in der Wüste. Ihre Klubs werden von wohlhabenden Ranchern,
Geschäftsleuten und Politikern gesponsort. Ihre soziale Basis aber haben sie in jenen ehemals
privilegierten Teilen der weißen Arbeiterklasse, die durch die ökonomische Umwälzung, die
Deregulierung der Arbeit und die globale Kapitalflucht vertrieben wurden. Diese sind es, die mit
behördlicher Ermutigung die Einwanderer nun zu Sündenböcken und zu den Urhebern ihrer
Existenzunsicherheit und Verarmung machen.
Die Einwanderer und ihre Unterstützer
organisieren sich in kirchlichen Netzwerken, Einwandererklubs und Initiativen für die Rechte von
Migranten, Gemeindeverbänden, spanischsprachige fortschrittliche Medien, Gewerkschaften und
Organisationen für soziale Gerechtigkeit.
Im April wurde bekannt, dass KBR, ein
Subunternehmen von Halliburton, der früheren Gesellschaft von Vizepräsident Dick Cheney mit engen
Beziehungen zum Pentagon und dicken Aufträgen durch den Irakkrieg, einen 385 Dollar schweren Auftrag
zum Aufbau von Konzentrationslagern an Land gezogen hat: sie sollten flächendeckend gebaut werden
für den Fall, dass es einen "Notandrang" an Migranten gibt.
Für die herrschende Klasse birgt die
Einwanderung einen Widerspruch. Das Kapital braucht die billige und fügsame Arbeitskraft der Latinos
(und anderer). Einwanderer aus Lateinamerika haben die unteren Ränge der US-Arbeitskräfte massiv
aufgebläht. Sie stellen fast alle Landarbeiter und den großen Teil der Arbeitskräfte in
Hotels, Restaurants, auf dem Bau, in Krankenhäusern, als Putzkräfte, Kinderbetreuung, in
Gartenarbeit und Landschaftspflege, im Versand, im Einzelhandel, in der Verpackung von Fleisch und
Geflügel…
Herrschende Gruppen fürchten deshalb,
dass die Zunahme lateinamerikanischer Einwanderung zu einem Verlust an kultureller und politischer
Kontrolle führen wird und zu einem Quell von Gegenhegemonie und Instabilität werden wird
wie die Aufstände in den Pariser Vorstädten gegen Rassismus und Marginalisierung im letzten Jahr
gezeigt haben.
Die Unternehmer aber mögen auf die
lateinamerikanische Einwanderung nicht verzichten. Im Gegenteil, sie möchten einen großen Pool an
ausbeutbarer Arbeitskraft unterhalten, der unter prekären Bedingungen lebt, keine sozialen,
politischen und Bürgerrechte genießt und fügsam ist, weil jederzeit abgeschoben werden kann.
Sie wollen um jeden Preis die Möglichkeit der Abschiebung erhalten, denn dies erlaubt ihnen
ungestrafte Superausbeutung (den Verstoß gegen gesetzliche Arbeitsbestimmungen) und auflagenfreie
Nutzung (ohne Versicherungsschutz) sie können sich dieser Arbeitskräfte jederzeit wieder
entledigen, wenn sie überflüssig oder aufsässig geworden sind.
Die Bush-Regierung ist gegen das Gesetz
HR4437 nicht weil sie für die Rechte der Migranten eintritt, sondern weil sie eine Balance
finden muss zwischen den Forderung der Unternehmer nach stabiler Zufuhr billiger Arbeitskraft und der
Notwendigkeit eine stärkeren staatlichen Kontrolle über die Migranten. Die Regierung schlägt
daher ein "Gastarbeiterprogramm" vor: Einwanderer ohne Papiere wird die Einbürgerung
verweigert, sie werden in ihre Heimatländer abgeschoben und müssen dort um eine zeitlich
befristete Arbeitserlaubnis nachsuchen; zugleich werden neue scharfe Grenzkontrollen eingeführt. Das
"Gastarbeiter"modell hat eine lange Geschichte in den USA, es lässt sich bis zum Bracero-
Programm zurückverfolgen, das im Zweiten Weltkrieg, als Arbeitskräfte knapp waren, Millionen
mexikanischer Arbeiter in die USA gebracht hat um sie wieder auszuweisen, als die US-Soldaten wieder
zurückkehrten.
Die Bewegung für die Rechte der
Einwanderer fordert volle Rechte für alle Migranten, darunter eine Amnestie, Arbeitsrechte,
Maßnahmen der Familienzusammenführung, Schritte zur Einbürgerung oder zu einem
ständigen Niederlassungsrecht, die Einstellung aller Angriffe gegen Migranten und der Kriminalisierung
ihrer Gemeinden.
Eine besondere Herausforderung für
diese Bewegung ist das Verhältnis der Latinos zu den Schwarzen. Historisch gesehen haben zunächst
die Afroamerikaner die unteren Ränge im US-Kastensystem gefüllt. Als sie in den 1960er und 1970er
Jahren für ihre Bürger- und Menschenrechte kämpften, schufen sie sich Organisationen,
politisierten und radikalisierten sich. Schwarze Arbeiter standen an der Spitze kämpferischer
Gewerkschaften. All dies machte sie zu einer für das Kapital unerwünschten Arbeitskraft:
undiszipliniert und nicht gefügig.
Ab den 80er Jahren begannen Unternehmer,
schwarze Arbeiter zu entlassen und an ihrer Stelle Einwanderer aus Lateinamerika einzustellen das
fiel mit der Deindustrialisierung und Umstrukturierung in Lateinamerika selbst zusammen. Aus der
überausgebeuteten Arbeitskraft der Schwarzen wurden Marginalisierte: Erwerbslose, aus dem Netz
öffentlicher Dienstleistungen Ausgestoßene, Opfer zunehmender staatlicher Repression,
Kriminalisierte und Gefängnisinsassen.
Die Lateinamerikaner hingegen stellen die
neue superausgebeutete Arbeitskraft. Vor 15 Jahren konnte man in Iowa oder Tennessee noch keinen einzigen
Latino sehen, heute sieht man sie überall. Einige Afroamerikaner richten ihre Wut über ihre
Marginalisierung deshalb (zu Unrecht) gegen die Latinos. Umgekehrt aber haben schwarze Gemeinden
berechtigten Grund zur Klage über den Rassismus vieler Latinos gegenüber Schwarzen und ihren
Mangel an Sensibilität gegenüber dem historischen Schicksal und der aktuellen Lage der Schwarzen
sie haben Schwierigkeiten, in ihnen natürliche Verbündete zu erkennen.
Die Zunahme lateinamerikanischer
Einwanderung in die USA ist Teil eines weitweiten Aufschwungs transnationaler Migration, bedingt durch die
kapitalistische Globalisierung. Die Begleiterscheinung einer integrierten globalen Weltwirtschaft ist ein
wirklich globaler, wenn auch hochsegmentierter, Arbeitsmarkt. Zusätzliche Arbeitskraft wird heute in
allen Teilen der Welt durch unzählige Mechanismen rekrutiert und dorthin umverteilt, wo das
transnationale Kapital sie braucht. Weltweit schätzt die UNO die zugewanderte Arbeitskraft auf 200
Millionen Menschen. Etwa 30 Millionen davon sind in den USA, davon kommen mindestens 20 Millionen aus
Lateinamerika. Von diesen 20 Millionen sind 11 Millionen ohne Papiere.
Das National Immigrant Solidarity Network
betont, dass die Einwanderer Jahr für Jahr 7 Millionen Dollar in die Sozialversicherung einzahlen. Sie
verdienen 240 Milliarden Dollar, und erhalten nur 5 Milliarden Dollar Steuerrückzahlung. Sie zahlen
auch 25 Milliarden Dollar mehr in die US-Wirtschaft ein, als sie an Krankenversicherung und
Sozialleistungen zurückerhalten. Bei dieser Argumentation bleiben die Billionen Dollar gänzlich
unberücksichtigt, die die Einwanderer an Gewinnen und Kapitaleinkommen schaffen nur ein
geringfügiger Teil davon fließt in Form von Löhnen an sie zurück.
Die transnationale Migration der Latinos
hat zu enormen Transfers von lateinamerikanischen Migranten in den USA zu ihren Verwandten in Lateinamerika
geführt. Die Interamerikanische Entwicklungsbank schätzte diese Transfers für das Jahr 2005
auf 57 Milliarden Dollar. Sie bildeten die oberste Quelle für Deviseneinkünfte in Ländern
wie der Dominikanischen Republik, El Salvador, Guatemala, Guyana, Haiti, Honduras, Jamaica und Nikaragua;
in Ländern wie Belize, Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Paraguay und Surinam rangierten sie auf dem
zweiten Rang.
Die geschätzten 10 Millionen
mexikanischen Arbeitskräfte in den USA schickten 2005 20 Milliarden Dollar in ihre Heimat das
war mehr als Mexikos Einnnahmen aus dem Tourismus und wurde nur übertroffen von den Einkünften
aus Öl und den Exporten aus den Maquiladoras. Diese Einkünfte sichern Millionen
lateinamerikanischer Familien das Überleben.
Die Debatte über die Einwanderung in
die USA berührt deshalb die gesamte politische Ökonomie des globalen Kapitalismus in der
westlichen Hemisphäre dieselbe politische Ökonomie, die derzeit in ganz Lateinamerika
durch den Aufschwung von Massenprotesten und einer politischen Linkswende in Frage gestellt wird. Der Kampf
für die Rechte der Migranten in den USA ist deshalb eng verbunden mit dem allgemeineren Kampf für
soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika und weltweit.
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04