SoZ - Sozialistische Zeitung |
Samstag, 6.Mai. In der Innenstadt von Athen demonstrieren mehrere zehntausend
Menschen mit Sprechchören und bunten Transparenten am Rande des 4.Europäischen Sozialforums (ESF)
gegen den drohenden Krieg gegen den Iran und für ein anderes, ein soziales, ökologisches und
gerechtes Europa.
An die Spitze der Demonstration haben sich
etwas mehr als hundert schwarzgekleidete Vermummte gedrängt. Sie werfen die Schaufenster einer Filiale
der Citibank ein und attackieren die italienische, britische und US-Botschaft mit Steinen. Am Platz der
Abschlusskundgebung brennen sie noch einen leeren Mannschaftswagen ab Bilder, die von
internationalen Berichterstattern begierig aufgegriffen werden und rund um die Welt gehen: die
Globalisierungskritiker als Randalierer.
In Griechenland selbst gibt man sich
weniger aufgeregt. Am Samstagabend sagt der griechische Minister für Recht und öffentliche
Ordnung, der Konservative Vyron Polydoros, in mehreren Fernsehsendern, er sei mit dem Verlauf der
Demonstration des ESF zufrieden. Es hätte nur am Rande einige kleinere Ausschreitungen gegeben. 7
Kilometer lang sei der Demonstrationszug gewesen, so die Polizei, der größte der vergangenen zehn
Jahre, bestätigen griechische Journalisten einhellig.
Phasenweise fühlt man sich an Genua
erinnert: Einige Vermummte verschwinden nämlich unbehelligt hinter den Polizeiketten und halten dort
(mit ihren Kollegen?) ein Schwätzchen, während die Polizei gelassen zuschaut, wie Autos in
Flammen aufgehen. Doch wenn dies der Versuch gewesen sein sollte, ein Klima des Terrors zu schaffen, um das
Sozialforum zu kriminalisieren, ging die Rechnung nicht auf.
Das Wesentliche ereignet sich ohnehin auf dem Sozialforum selbst. Es findet auf einem Teil des
ehemaligen Olympiageländes statt, das in Griechenland zu einem Symbol der globalisierten Eventkultur
geworden ist. Heute ist das riesige Gelände eine architektonische Leiche, die seit 2004 kaum genutzt
wird und deshalb von der Stadtverwaltung kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Viele Areale sind
abgesperrt und für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Sie sollen an private Investoren
verkauft werden, aber es gibt keine Interessenten. Zumindest das Fecht- und Basketballareal wurde deshalb
in der ersten Maiwoche von Globalisierungskritikern, Gewerkschaftern und zahlreichen linken Organisationen
und sozialen Bewegungen mit Leben erfüllt.
Mehr als 20000 Menschen aus ganz Europa
bevölkern die Hallen, Seminarräume und das weitläufige Gelände am Meer. Mehrere Tausend
schlafen im Hangar des alten Flughafens und tanzen am Abend zu griechischer, spanischer und italienischer
Musik. Darunter sind 400 Besucher aus Deutschland, das größte Kontingent stellen jedoch nicht die
Griechen, sondern die Türken. Für die benachbarten Balkanländer ist es eine einmalig
günstige Gelegenheit, ein Sozialforum zu erleben, und auch die etwa 2000 Bewohner anderer
osteuropäischer Staaten hatten eine vergleichsweise kurze und preiswerte Reise.
Mehr als früher bildeten die vielen
Seminare, die von den sozialen Bewegungen ausgerichtet werden, das Herz des Athener Sozialforums. Nach den
negativen Erfahrungen von London und auch im Einklang mit der Entwicklung des Weltsozialforums hatte sich
der europäische Vorbereitungskreis darauf verständigt, dass das Sozialforum stärker von den
Netzwerken, deren Aktivitäten und Initiativen als von spektakulären Massenevents geprägt
sein sollte.
So war es in Athen, und dies hat der
Atmosphäre wie auch dem Niveau der Debatte sichtlich gut getan. Versuche einiger politischer Gruppen,
dies zu unterlaufen und jeden Abend ein neues Massenevent durch die Stadt zu jagen, scheiterten zu
Glück am Mangel an Geld und Personal, dies zu organisieren. Selbst das groß angekündigte
antirassistische Konzert am Samstagabend in der Stadt fiel vergleichsweise bescheiden aus; dafür
strömten am Abend zuvor Scharen von Jugendlichen zu einem Konzert auf dem Gelände selbst.
Die Ausstrahlungskraft des Forums ist mittlerweile so groß, dass auch viele
Gewerkschaftsvorstände, Politiker und Wissenschaftler ihm Tribut zollen. Allein fünf
wissenschaftliche Untersuchungen laufen derzeit. Forschungsprojekte an deutschen, italienischen und
belgischen Universitäten wollen das Profil, die Motivationen und politischen Vorstellungen der
Teilnehmenden analysieren, die sich in Athen vor Fragebögen kaum retten konnten.
Der Europäische Gewerkschaftsbund
(EGB), dessen griechisches Mitglied, der Dachverband GSEE, einen hohen Anteil am Gelingen des Forums hatte,
hatte am Vorabend der Eröffnung zu einem Europäischen Gewerkschaftsforum eingeladen
erstmals darunter auch solche Gewerkschaften, die nicht Mitglied im EGB sind. Eine Premiere, die auf reges
Interesse stieß etwa 2000 Menschen drängten sich in den Saal. EGB-Vorsitzender John Monks
eröffnete das Forum.
Leider gab es nur vorgestanzte
Stellungnahmen und Erklärungen die Chance, einmal zwanglos eine Debatte über gemeinsame
Probleme der europäischen Gewerkschaftsbewegung zu beginnen, wurde nicht genutzt. So bleibt die
gewerkschaftliche Beteiligung am Sozialforum sehr ungleich: Während sich immer häufiger
hochrangige Gewerkschaftsvertreter auf dem Sozialforum blicken lassen (in Athen die italienische CGIL, fast
alle griechischen Gewerkschaften, und die beiden großen belgischen Gewerkschaftsdachverbände FGTB
und ACV-CSC), andere wie die französischen SUD-Gewerkschaften und die italienische FIOM zu einer
tragenden Säule des Sozialforums geworden sind, tun sich viele Gewerkschaften immer noch schwer damit,
im Sozialforum einen gleichwertigen Platz neben NGOs und sozialen Bewegungen zu finden.
Ob es daran liegt, dass sie hier auch
Kritik einstecken müssen? So erging es der christlichen Gewerkschaft aus Belgien. Der Verband, der 1,7
Millionen Mitglieder zählt, war mit einer Delegation von mehreren Dutzend Mitgliedern angereist,
darunter ihr nationaler Sekretär Marc Becker, der sich munter an der Debatte über die EU-
Verfassung beteiligte. Als er erklärte, der Verfassungsvertrag sei in seiner jetzigen Fassung ein
Fortschritt gegenüber dem Status quo, erntete er von der überwiegenden Anzahl der Teilnehmenden
jedoch laute Buhrufe und scharfe Kritik.
Sein Kollege Monks vom EGB war da schon
gewitzter: Er sprach in Athen darüber, wie wichtig es für die Gewerkschaften sei, mit den
sozialen Bewegungen zusammenzuarbeiten, hütete sich jedoch davor, seine bis heute anhaltende
Unterstützung der EU-Verfassung zu erwähnen.
Vertreter linker Parteien hatten es da einfacher. Sie traten in Athen so offen und zahlreich auf, wie
nie zuvor und organisierten als Parteien auch eigene Seminare ein klarer Widerspruch zur Charta von
Porto Alegre, der zu einer Gefahr für das Sozialforum werden kann. In der Hauptsache zeigten sich
Vertreter der Europäischen Linkspartei sowie radikale linke Gruppen aller Couleur.
Aber auch der Sprecher der Linksfraktion
PRS in der französischen Sozialistischen Partei, der Senator Jean Luc Mélenchon, saß
zusammen mit Radikaldemokraten, Trotzkisten und Vertretern sozialer Bewegungen auf einem Podium. Als
konsequenter Vertreter eines "Neins" zur EU-Verfassung genoss er die Sympathie vieler
Zuhörer.
Er und Tobias Pflüger belegten
überzeugend, dass die Institutionen der EU fast unverändert den Neuaufguss der EU-Verfassung
planen; sie beschworen die Teilnehmenden, es müsse vom ESF ein klares Signal für die
Wiederaufnahme einer europaweiten Kampagne für das Nein zu dieser Verfassung ausgehen.
Zum Thema Europa gab es sehr viele gut
besuchte Seminare, die sich auch mit Alternativen beschäftigten und nicht davor zurückschreckten,
heikle Fragen anzuschneiden: die Reformierbarkeit der UNO und der internationalen Institutionen, Sinn und
Möglichkeit von Blauhelmeinsätzen, der Kampf gegen den Terror als Aufgabe der Linken, Fragen nach
kollektiver und individueller Identität und das Selbstbestimmungsrecht der Völker usw.
Der erste Entwurf für eine Charta der
Grundsätze für ein anderes Europa, der in Athen vorlag, wurde dort breit zur Kenntnis genommen
und entlang seiner Inhalte diskutiert. Das Netzwerk, das diese Arbeit angestoßen hat, hat jedoch
darauf verzichtet, das Sozialforum als Plattform zu nutzen, um die Charta als Alternative zu EU-Verfassung
zu lancieren, weil es dagegen im griechischen Vorbereitungskomitee starken Widerstand gab.
Dort vertraten einige einen Standpunkt, den
man sonst eher in Skandinavien und in Großbritannien findet: nämlich raus aus der EU. Diese
Gruppen hatten damit gedroht, widrigenfalls eine Großveranstaltung mit dieser Stoßrichtung zu
organisieren, die dann nach außen dem ESF das Gepräge einer antieuropäischen Veranstaltung
gegeben hätte.
So wurde die Debatte über die Charta
in das allgemeine Programm eingeordnet. Doch ist man in der inhaltlichen Arbeit ein gutes Stück weiter
gekommen. Eine Redaktionsgruppe wird über den Sommer aus den bisherigen Bruchstücken einen
stringenten und abgerundeten Text machen. Er soll auf einer europäischen Konferenz "Alternativen
zur EU" im Dezember in Paris vorgestellt werden.
Weitere Schwerpunkte des ESF waren die Ausweitung der Prekarisierung, Lateinamerika und der Krieg in
Nahost. Die Seminare zur Prekarisierung haben eine Grundtendenz des Forums verdeutlicht, die auch an
anderer Stelle zutage getreten ist. Die Tatsache, dass seit London den europäischen
Vorbereitungstreffen regelmäßig ein Tag vorgeschaltet wird, an dem sich die europäischen
Netzwerke treffen (und das sind mittlerweile fast 20), führt zu einer wachsenden Stabilisierung und
Kontinuität der Arbeit. Die Seminare auf dem ESF können daher auf etwas aufbauen und müssen
nicht alle zwei Jahre die Welt neu erklären. Das Niveau und der Konkretionsgrad der Debatten hat davon
ungeheuer profitiert.
Positiv fiel in diesem Zusammenhang auf,
dass allmählich auch Seminare über Themen angeboten werden, die näher an der betrieblichen
Wirklichkeit liegen: So hatte die IG Metall eins zum Thema Produktionsverlagerungen angestoßen,
für das auch Kollegen aus polnischen und britischen Betrieben gewonnen werden konnten. Das war eine
der seltenen Gelegenheiten, konkret über die Überwindung der Ost-West-Spaltung zu reden.
So konnten auf dem Sozialforum eine Reihe
von Verabredungen getroffen werden, die nur teilweise in die Erklärung der Versammlung sozialer
Bewegungen eingegangen sind. Dazu gehören u.a. der Aufbau eines europäischen Netzwerks gegen
Prekarisierung, die Mobilisierung nach Heiligendamm im Juni 2007, unterstützt von Märschen gegen
Prekarisierung und für gleiche soziale Rechte quer durch Europa.
Der Krieg in Nahost spielte wieder eine
große Rolle. Den bei weitem größten Zulauf hatten jedoch Seminare über Lateinamerika.
Vor allem junge Menschen registrieren in Europa sehr aufmerksam die neuen Chancen, die sich dort auftun
und die dazu angetan sind, den durch den Zusammenbruch 1989 arg gebeutelten alten Kontinent wieder
aufzurütteln.
Für das 5.ESF ist die EU-Hauptstadt
Brüssel im Gespräch. Allerdings muss das Belgische Sozialforum noch darüber befinden. Das
europäische Bilanztreffen im Herbst, das in Kiew stattfinden soll, wird voraussichtlich eine
Entscheidung treffen.
Gerhard Klas/Angela Klein
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