SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2006, Seite 14

4.Europäisches Sozialforum, Athen

Heiter, gelassen, praxisorientiert- Eindrücke, Fortschritte, Probleme

Samstag, 6.Mai. In der Innenstadt von Athen demonstrieren mehrere zehntausend Menschen mit Sprechchören und bunten Transparenten am Rande des 4.Europäischen Sozialforums (ESF) gegen den drohenden Krieg gegen den Iran und für ein anderes, ein soziales, ökologisches und gerechtes Europa.
An die Spitze der Demonstration haben sich etwas mehr als hundert schwarzgekleidete Vermummte gedrängt. Sie werfen die Schaufenster einer Filiale der Citibank ein und attackieren die italienische, britische und US-Botschaft mit Steinen. Am Platz der Abschlusskundgebung brennen sie noch einen leeren Mannschaftswagen ab — Bilder, die von internationalen Berichterstattern begierig aufgegriffen werden und rund um die Welt gehen: die Globalisierungskritiker als Randalierer.
In Griechenland selbst gibt man sich weniger aufgeregt. Am Samstagabend sagt der griechische Minister für Recht und öffentliche Ordnung, der Konservative Vyron Polydoros, in mehreren Fernsehsendern, er sei mit dem Verlauf der Demonstration des ESF zufrieden. Es hätte nur am Rande einige kleinere Ausschreitungen gegeben. 7 Kilometer lang sei der Demonstrationszug gewesen, so die Polizei, der größte der vergangenen zehn Jahre, bestätigen griechische Journalisten einhellig.
Phasenweise fühlt man sich an Genua erinnert: Einige Vermummte verschwinden nämlich unbehelligt hinter den Polizeiketten und halten dort (mit ihren Kollegen?) ein Schwätzchen, während die Polizei gelassen zuschaut, wie Autos in Flammen aufgehen. Doch wenn dies der Versuch gewesen sein sollte, ein Klima des Terrors zu schaffen, um das Sozialforum zu kriminalisieren, ging die Rechnung nicht auf.

Kontaktbörse

Das Wesentliche ereignet sich ohnehin auf dem Sozialforum selbst. Es findet auf einem Teil des ehemaligen Olympiageländes statt, das in Griechenland zu einem Symbol der globalisierten Eventkultur geworden ist. Heute ist das riesige Gelände eine architektonische Leiche, die seit 2004 kaum genutzt wird und deshalb von der Stadtverwaltung kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Viele Areale sind abgesperrt und für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Sie sollen an private Investoren verkauft werden, aber es gibt keine Interessenten. Zumindest das Fecht- und Basketballareal wurde deshalb in der ersten Maiwoche von Globalisierungskritikern, Gewerkschaftern und zahlreichen linken Organisationen und sozialen Bewegungen mit Leben erfüllt.
Mehr als 20000 Menschen aus ganz Europa bevölkern die Hallen, Seminarräume und das weitläufige Gelände am Meer. Mehrere Tausend schlafen im Hangar des alten Flughafens und tanzen am Abend zu griechischer, spanischer und italienischer Musik. Darunter sind 400 Besucher aus Deutschland, das größte Kontingent stellen jedoch nicht die Griechen, sondern die Türken. Für die benachbarten Balkanländer ist es eine einmalig günstige Gelegenheit, ein Sozialforum zu erleben, und auch die etwa 2000 Bewohner anderer osteuropäischer Staaten hatten eine vergleichsweise kurze und preiswerte Reise.
Mehr als früher bildeten die vielen Seminare, die von den sozialen Bewegungen ausgerichtet werden, das Herz des Athener Sozialforums. Nach den negativen Erfahrungen von London und auch im Einklang mit der Entwicklung des Weltsozialforums hatte sich der europäische Vorbereitungskreis darauf verständigt, dass das Sozialforum stärker von den Netzwerken, deren Aktivitäten und Initiativen als von spektakulären Massenevents geprägt sein sollte.
So war es in Athen, und dies hat der Atmosphäre wie auch dem Niveau der Debatte sichtlich gut getan. Versuche einiger politischer Gruppen, dies zu unterlaufen und jeden Abend ein neues Massenevent durch die Stadt zu jagen, scheiterten zu Glück am Mangel an Geld und Personal, dies zu organisieren. Selbst das groß angekündigte antirassistische Konzert am Samstagabend in der Stadt fiel vergleichsweise bescheiden aus; dafür strömten am Abend zuvor Scharen von Jugendlichen zu einem Konzert auf dem Gelände selbst.

Gewerkschaften

Die Ausstrahlungskraft des Forums ist mittlerweile so groß, dass auch viele Gewerkschaftsvorstände, Politiker und Wissenschaftler ihm Tribut zollen. Allein fünf wissenschaftliche Untersuchungen laufen derzeit. Forschungsprojekte an deutschen, italienischen und belgischen Universitäten wollen das Profil, die Motivationen und politischen Vorstellungen der Teilnehmenden analysieren, die sich in Athen vor Fragebögen kaum retten konnten.
Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), dessen griechisches Mitglied, der Dachverband GSEE, einen hohen Anteil am Gelingen des Forums hatte, hatte am Vorabend der Eröffnung zu einem Europäischen Gewerkschaftsforum eingeladen — erstmals darunter auch solche Gewerkschaften, die nicht Mitglied im EGB sind. Eine Premiere, die auf reges Interesse stieß — etwa 2000 Menschen drängten sich in den Saal. EGB-Vorsitzender John Monks eröffnete das Forum.
Leider gab es nur vorgestanzte Stellungnahmen und Erklärungen — die Chance, einmal zwanglos eine Debatte über gemeinsame Probleme der europäischen Gewerkschaftsbewegung zu beginnen, wurde nicht genutzt. So bleibt die gewerkschaftliche Beteiligung am Sozialforum sehr ungleich: Während sich immer häufiger hochrangige Gewerkschaftsvertreter auf dem Sozialforum blicken lassen (in Athen die italienische CGIL, fast alle griechischen Gewerkschaften, und die beiden großen belgischen Gewerkschaftsdachverbände FGTB und ACV-CSC), andere wie die französischen SUD-Gewerkschaften und die italienische FIOM zu einer tragenden Säule des Sozialforums geworden sind, tun sich viele Gewerkschaften immer noch schwer damit, im Sozialforum einen gleichwertigen Platz neben NGOs und sozialen Bewegungen zu finden.
Ob es daran liegt, dass sie hier auch Kritik einstecken müssen? So erging es der christlichen Gewerkschaft aus Belgien. Der Verband, der 1,7 Millionen Mitglieder zählt, war mit einer Delegation von mehreren Dutzend Mitgliedern angereist, darunter ihr nationaler Sekretär Marc Becker, der sich munter an der Debatte über die EU- Verfassung beteiligte. Als er erklärte, der Verfassungsvertrag sei in seiner jetzigen Fassung ein Fortschritt gegenüber dem Status quo, erntete er von der überwiegenden Anzahl der Teilnehmenden jedoch laute Buhrufe und scharfe Kritik.
Sein Kollege Monks vom EGB war da schon gewitzter: Er sprach in Athen darüber, wie wichtig es für die Gewerkschaften sei, mit den sozialen Bewegungen zusammenzuarbeiten, hütete sich jedoch davor, seine bis heute anhaltende Unterstützung der EU-Verfassung zu erwähnen.

Europa

Vertreter linker Parteien hatten es da einfacher. Sie traten in Athen so offen und zahlreich auf, wie nie zuvor und organisierten als Parteien auch eigene Seminare — ein klarer Widerspruch zur Charta von Porto Alegre, der zu einer Gefahr für das Sozialforum werden kann. In der Hauptsache zeigten sich Vertreter der Europäischen Linkspartei sowie radikale linke Gruppen aller Couleur.
Aber auch der Sprecher der Linksfraktion PRS in der französischen Sozialistischen Partei, der Senator Jean Luc Mélenchon, saß zusammen mit Radikaldemokraten, Trotzkisten und Vertretern sozialer Bewegungen auf einem Podium. Als konsequenter Vertreter eines "Neins" zur EU-Verfassung genoss er die Sympathie vieler Zuhörer.
Er und Tobias Pflüger belegten überzeugend, dass die Institutionen der EU fast unverändert den Neuaufguss der EU-Verfassung planen; sie beschworen die Teilnehmenden, es müsse vom ESF ein klares Signal für die Wiederaufnahme einer europaweiten Kampagne für das Nein zu dieser Verfassung ausgehen.
Zum Thema Europa gab es sehr viele gut besuchte Seminare, die sich auch mit Alternativen beschäftigten und nicht davor zurückschreckten, heikle Fragen anzuschneiden: die Reformierbarkeit der UNO und der internationalen Institutionen, Sinn und Möglichkeit von Blauhelmeinsätzen, der Kampf gegen den Terror als Aufgabe der Linken, Fragen nach kollektiver und individueller Identität und das Selbstbestimmungsrecht der Völker usw.
Der erste Entwurf für eine Charta der Grundsätze für ein anderes Europa, der in Athen vorlag, wurde dort breit zur Kenntnis genommen und entlang seiner Inhalte diskutiert. Das Netzwerk, das diese Arbeit angestoßen hat, hat jedoch darauf verzichtet, das Sozialforum als Plattform zu nutzen, um die Charta als Alternative zu EU-Verfassung zu lancieren, weil es dagegen im griechischen Vorbereitungskomitee starken Widerstand gab.
Dort vertraten einige einen Standpunkt, den man sonst eher in Skandinavien und in Großbritannien findet: nämlich raus aus der EU. Diese Gruppen hatten damit gedroht, widrigenfalls eine Großveranstaltung mit dieser Stoßrichtung zu organisieren, die dann nach außen dem ESF das Gepräge einer antieuropäischen Veranstaltung gegeben hätte.
So wurde die Debatte über die Charta in das allgemeine Programm eingeordnet. Doch ist man in der inhaltlichen Arbeit ein gutes Stück weiter gekommen. Eine Redaktionsgruppe wird über den Sommer aus den bisherigen Bruchstücken einen stringenten und abgerundeten Text machen. Er soll auf einer europäischen Konferenz "Alternativen zur EU" im Dezember in Paris vorgestellt werden.

Verabredungen

Weitere Schwerpunkte des ESF waren die Ausweitung der Prekarisierung, Lateinamerika und der Krieg in Nahost. Die Seminare zur Prekarisierung haben eine Grundtendenz des Forums verdeutlicht, die auch an anderer Stelle zutage getreten ist. Die Tatsache, dass seit London den europäischen Vorbereitungstreffen regelmäßig ein Tag vorgeschaltet wird, an dem sich die europäischen Netzwerke treffen (und das sind mittlerweile fast 20), führt zu einer wachsenden Stabilisierung und Kontinuität der Arbeit. Die Seminare auf dem ESF können daher auf etwas aufbauen und müssen nicht alle zwei Jahre die Welt neu erklären. Das Niveau und der Konkretionsgrad der Debatten hat davon ungeheuer profitiert.
Positiv fiel in diesem Zusammenhang auf, dass allmählich auch Seminare über Themen angeboten werden, die näher an der betrieblichen Wirklichkeit liegen: So hatte die IG Metall eins zum Thema Produktionsverlagerungen angestoßen, für das auch Kollegen aus polnischen und britischen Betrieben gewonnen werden konnten. Das war eine der seltenen Gelegenheiten, konkret über die Überwindung der Ost-West-Spaltung zu reden.
So konnten auf dem Sozialforum eine Reihe von Verabredungen getroffen werden, die nur teilweise in die Erklärung der Versammlung sozialer Bewegungen eingegangen sind. Dazu gehören u.a. der Aufbau eines europäischen Netzwerks gegen Prekarisierung, die Mobilisierung nach Heiligendamm im Juni 2007, unterstützt von Märschen gegen Prekarisierung und für gleiche soziale Rechte quer durch Europa.
Der Krieg in Nahost spielte wieder eine große Rolle. Den bei weitem größten Zulauf hatten jedoch Seminare über Lateinamerika. Vor allem junge Menschen registrieren in Europa sehr aufmerksam die neuen Chancen, die sich dort auftun — und die dazu angetan sind, den durch den Zusammenbruch 1989 arg gebeutelten alten Kontinent wieder aufzurütteln.
Für das 5.ESF ist die EU-Hauptstadt Brüssel im Gespräch. Allerdings muss das Belgische Sozialforum noch darüber befinden. Das europäische Bilanztreffen im Herbst, das in Kiew stattfinden soll, wird voraussichtlich eine Entscheidung treffen.

Gerhard Klas/Angela Klein

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