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Der Alternativengipfel EuropaLateinamerika, der vom 10. bis 13.Mai in
Wien stattfand, war ein politisches Happening der besonderen Art.
An die 3500 Menschen besuchten die über 70 Veranstaltungen, die gleichzeitig an drei
verschiedenen Schauplätzen stattfanden: dem altehrwürdigen Kongresshaus der Gewerkschaften, in
der funktionalen Wiener Stadthalle und in der Arena, einem abgetakelten, ehemaligen Schlachthof, den die
Studentenbewegung im Jahr 1976 "erobert" hatte, um daraus ein selbstorganisiertes Kulturzentrum
zu machen.
Auch die nicht immer einfachen
Verhandlungen mit den Botschaften von Venezuela, Bolivien und Kuba haben sich für die Veranstalter
gelohnt. Zum ersten Mal in der Geschichte der globalisierungskritischen Sozial(forums)bewegung gab es einen
Schulterschluss zwischen Regierungen und Zivilgesellschaft. Zum ersten Mal gelang es, ein offizielles
Gipfeltreffen von an die 60 Regierungschefs in den medialen Schatten selbst jener Stimmungsmacher zu
stellen, die bereits im Vorfeld von bevorstehenden "Ausschreitungen" gesprochen hatten.
Dabei ließ sich der sog.
"Gegengipfel" zunächst eher gemächlich an. Zeitgleich zur anfänglichen
Pressekonferenz im Kongresshaus strömten nach und nach die ankommenden Teilnehmer in den großen
Saal und lauschten andächtig den mit viel Verve vorgetragenen Erklärungen jener Bezugspersonen,
die während des gesamten Treffens immer wieder in Erscheinung treten sollten: Susan George von Attac
Frankreich, Blanca Chancoso, die Symbolfigur der ecuadorianischen Indígena-Bewegung, der deutsche
Politologe Elmer Altvater und der "spiritus rector" der brasilianischen Landlosenbewegung MST,
João Pedro Stedile.
Letzterer sorgte für den ersten
medialen Eklat, als er angesichts der politischen Linkswende in Südamerika die rhetorische Frage
stellte: "Und was ist los mit Europa? Braucht ihr vielleicht Entwicklungshilfe? Oder haben sich die
Grünen und die Sozialdemokraten hier bereits mit den Neoliberalen an der Macht arrangiert?"
Wie sehr diese provokante Frage ins
Schwarze traf, stellte sich bald heraus, als auf dem sorgfältig vorbereiteten "Tribunal der
Völker" zwei Tage hindurch die Machenschaften europäischer transnationaler Konzerne an den
Pranger gestellt wurden. Trotz der Fülle des Materials, mit dem die eigens zu diesem Zweck aus
Lateinamerika eingeflogenen Zeugen und Sachverständigen über 30 Fallbeispiele aus den
verschiedenen Wirtschaftssektoren (Bodenschätze, Banken, Dienstleistungen, Agrobusiness etc.)
dokumentierten, wurde bald klar, dass der Wahnsinn, mit dem die TNCs heute in Lateinamerika operieren, eine
durchaus verallgemeinerbare Methode hat.
Zunächst treten sie mit neuen
Technologien unter dem Vorwand auf, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, kreieren dann
in Wirklichkeit künstliche Bedürfnisse und kontrollieren aufgrund ihrer Quasimonopolstellung bald
die lokalen und regionalen Märkte, wobei sie einander Marktanteile zuspielen, als wären sie
Bälle auf einem Fußballfeld. Dass sie dabei im Unterschied zum Fußball die
Felder systematisch zerstören, kümmert sie ebenso wenig wie der Umstand, dass sie bei ihren
Beutezügen ganze Bevölkerungen der Arbeitslosigkeit und dem Hunger preisgeben.
Ein Beispiel unter vielen ist eine
Zellulosefabrik, die ein finnischer und ein spanischer Konzern an der Grenze zwischen Uruguay und
Argentinien aufgebaut haben, um so nützliche Dinge wie nicht recycelbare Papiertücher
herzustellen, deren Abfälle den Grenzfluss verseuchen. Die Greenpeace-Aktivistin Evangelina Carrozzo
sorgte beim offiziellen Gipfel für großes Aufsehen, als sie beim offiziellen Fototermin der
Staatschefs im Bikini als Sambamädchen verkleidet mit einem Schild mit einem Transparent auftrat, auf
dem geschrieben stand: "No pulpmill pollution" (Keine Zellstoffverseuchung).
Nicht immer war der Alternativengipfel so
vergnüglich: Am 11. und 12.Mai wurden in den Plenardiskussionen zu den fünf Hauptachsen
Neoliberale Ordnung, Militarisierung und Menschenrechte, Zusammenarbeit, Integration und politischer Dialog
sowie in über 60 Seminaren Konzepte erarbeitet, mit denen in Zukunft die lateinamerikanisch-karibische
und die europäische Zivilgesellschaft der Herrschaft der transnationalen Konzerne entgegentreten
wollen. Das Spektrum reichte von den Forderungen der Mapuche-Indianer, die des "Terrorismus"
angeklagt sind und sich im Hungerstreik befinden, über die Ernährungssouveränität und
den Beteiligungshaushalt bis zum Entwurf des lateinamerikanischen Integrationsmodells ALBA (Alianza
Bolivariana de las Américas), in dessen Mittelpunkt Venezuela, Bolivien und Kuba stehen.
Dieses "Dreigestirn",
personifiziert durch die Staatschefs Hugo Chávez und Evo Morales sowie durch den Vizepräsidenten
des kubanischen Staatsrats Carlos Lage, erregte am letzten Tag des Alternativengipfels besonderes Aufsehen.
Während eines Kulturprogramms (in Lateinamerika sind Kultur und Politik zwei Seiten ein und derselben
Medaille) platzten sie in die bis auf den letzten Platz gefüllte Wiener Stadthalle, um dadurch zu
dokumentieren, dass der Alternativengipfel für sie die Hauptsache vom ganzen Treffen der
Regierungschefs war.
Auch wenn die zweieinhalbstündige Rede
des venzolanischen Staatspräsidenten eindeutig zu lang ausfiel, fiel es den etwa 2000 Zuschauern, die
nach der Abschlussdemonstration auf dem Wiener Heldenplatz in die Stadthalle gekommen waren, wie Schuppen
von den Augen, als dieser sagte: " Wir sind nicht hierher gekommen, um uns bei einem folkloristischen
Ereignis zu vergnügen, sondern um der Frage nachzugehen, wie diese neue Allianz zwischen Regierungen
und Zivilgesellschaft durch die Ausarbeitung konkreter Projekte besiegelt werden könnte."
Gesagt, getan: Noch im August dieses Jahres
wird in Caracas ein Treffen von Vertretern der wichtigsten lateinamerikanischen und europäischen
Netzwerke stattfinden. Auf ihm sollen konkrete Projekte diskutiert werden, in denen die Netzwerke selbst
als Akteure eines neuartigen, solidarwirtschaftlichen Marktgeflechts auftreten. Das politische Projekt
Enlazando Alternativas, das so viele Menschen aus so unterschiedlichen Kulturen in Wien
zusammengeführt hat, wird also weitergehen.
Leo Gabriel, Wien
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