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Vor 60 Jahren, am 21.April 1946, starb der britische Ökonom, Politiker
und Autor John Maynard Keynes. Als Leiter der britischen Delegation bei den internationalen Verhandlungen
in Bretton Woods 1944 trug er zur Schaffung der außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen bei, innerhalb
derer sich in den folgenden drei Jahrzehnten ein historisch beispielloser Wirtschaftsaufschwung entfalten
sollte.
Seit der Nachkriegsboom in den 70er Jahren von einer Periode geringeren Wachstums bei zunehmender
Arbeitslosigkeit und Inflation abgelöst wurde, streiten Ökonomen darüber, ob die
Einführung einer keynesianischen Wirtschaftspolitik in den 70er Jahren nach anfänglichen Erfolgen
zum Anstieg der Inflation, des Staatsdefizits und der Verschuldung geführt und deshalb eine
wirtschaftspolitische Neuorientierung erforderlich gemacht habe, oder ob umgekehrt der Strategiewechsel hin
zu neoliberaler Politik im Interesse des Finanzkapitals Ende der 70er Jahre für die anhaltende
Wirtschaftsschwäche und Arbeitslosigkeit verantwortlich sei.
Mit der erstgenannten Position
begründen Zentralbanken ihren harten Kurs gegen tatsächliche oder auch nur vermutete
inflationäre Entwicklungen. Regierungen bemühen dieselbe Argumentation, um ihre Politik der
Haushaltskonsolidierung und des Schuldenabbaus zu begründen.
Die zweite Position, mithin eine
Fortsetzung keynesianischer Beschäftigungspolitik, fordern Gewerkschaften und ihnen nahe stehende
politische Strömungen allerdings mit deutlich geringerer Präsenz in der
Öffentlichkeit.
Im Wissenschaftsbetrieb plädiert man
in letzter Zeit öfters für eine Synthese keynesianischer und neoliberaler Positionen. Um
Inflation zu vermeiden, soll demnach an der Schwächung gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht
festgehalten werden, eine weniger zurückhaltende Haushaltspolitik aber gleichzeitig Wachstum und
Beschäftigung anregen. In den USA sei dieser Politikmix in den letzten Jahren mit einigem Erfolg
angewendet worden. In der Tat haben sowohl der Demokrat Clinton als auch der Republikaner Bush
Ökonomen zu wirtschaftspolitischen Beratern ernannt, die sich selbst als Keynesianer verstehen, ohne
als gewerkschaftsnah zu gelten.
Diese Debatte verweist auf zwei zentrale
Aspekte in der wirtschaftspolitischen Diskussion über den Keynesianismus. Entgegen der verbreiteten
Ansicht, Keynes wirtschaftspolitische Vorstellungen ignorierten internationale Wirtschaftsbeziehungen
und seien deshalb in einer globalisierten Welt selbst dann nicht umsetzbar, wenn politische Mehrheiten in
einem Lande dies wünschten, ist der Keynesianismus zur Stabilisierung der kapitalistischen
Weltwirtschaft konzipiert worden.
Zweitens versprach der Keynesianismus
stets, widerstreitende politische Strategien und soziale Interessen miteinander zu versöhnen. Von
Anfang an wurde er deshalb mit unterschiedlichem Erfolg dazu benutzt, nationale Klassenkompromisse zu
organisieren. Dass das Verhältnis von internationaler Konkurrenz und nationalem Korporatismus
wechselvoll war und nunmehr offen ist, kann am Beispiel Deutschlands gezeigt werden.
Auf der bereits erwähnten Konferenz von Bretton Woods wurde Wirtschaftstheorie
geschichtsmächtig. Keynes Argument, die Stabilisierung von Wachstum und Beschäftigung in
den Einzelstaaten erfordere eine außenwirtschaftliche Absicherung durch feste und politisch
garantierte Wechselkurse, fand die Anerkennung der internationalen Diplomatie und schuf den Rahmen für
die weltwirtschaftliche Integration der folgenden drei Jahrzehnte.
Als Ökonom triumphierte Keynes in
Bretton Woods, als organischer Intellektueller der britischen Bourgeoisie musste er allerdings anerkennen,
dass die USA die Rolle der kapitalistischen Führungsmacht von den Briten übernommen hatten. Die
Verträge von Bretton Woods führten nicht nur zur Institutionalisierung keynesianischer
Wirtschaftstheorie; sie legten auch den Grundstein für die Durchdringung des Weltmarkts mit US-
amerikanischen Waren und Kapital. Ergänzt durch ein militärkeynesianisches Programm, das dem
Weltmarkt dauerhafte Nachfrageimpulse gab und zugleich politische Macht demonstrierte, konnte ein US-
Imperium aufgebaut werden, das die Konkurrenz der europäischen Imperialmächte neutralisierte.
Die westdeutsche Bourgeoisie gliederte sich
mit einer exportorientierten Wachstumsstrategie in dieses Imperium ein. Die dabei erzielten Einkommens- und
Produktivitätszuwächse bildeten die ökonomische Basis eines Verteilungskompromisses mit den
Gewerkschaften und des Ausbaus des Sozialstaats.
Wirtschaftswunder und sozialer Ausgleich
hingen somit in hohem Maße von der keynesianischen Politik der USA ab. Der italienische Operaist Mario
Tronti charakterisierte Keynes deshalb zutreffend als "amerikanischen Ökonom". In der
deutschen Öffentlichkeit und Wissenschaft der 50er und 60er Jahre wurde dies jedoch kaum wahrgenommen.
Ein ausgeglichener Staatshaushalt und Geldwertstabilität nach der monetaristischen
Konterrevolution Ende der 70er Jahre das wirtschaftspolitische Mantra aller imperialistischen Mächte,
mit der allerdings nicht ganz unwichtigen Ausnahme der USA wurden in Deutschland schon während
des keynesianisch geprägten Nachkriegsbooms gepredigt.
Erst als sich dieser Ende der 60er Jahre
seinem Ende zuneigte und die politischen Reserven des Adenauer-Staats erschöpft waren, hielt mit der
Großen Koalition die keynesianische Botschaft von der politischen Regulierbarkeit kapitalistischer
Entwicklung Einzug in die westdeutsche Politik.
Unter dem Eindruck von Vollbeschäftigung und hohen Wachstumsraten stellten Teilen der
Arbeiterklasse Lohnforderungen, die deutlich über die Produktivitätsfortschritte hinausgingen und
insofern einen Angriff auf die Profite darstellten. Unter diesen Bedingungen schien es geboten,
Sozialdemokratie und Gewerkschaften über den Weg der Regierungsbeteiligung und der Konzertierten
Aktion in die Politik der Exportförderung einzubinden, um sinkende Profitraten oder den Verlust
internationaler Wettbewerbsfähigkeit zu verhindern.
Letzterer wäre eingetreten, wenn die
Nominallohnerhöhungen durch höhere Preise (erhöhte Inflationsraten) kompensiert worden
wären, um die Profite zu stabilisieren. Lohnzurückhaltung (Lohnleitlinien) und die Vermeidung
inflationärer Überhitzung durch korporatistische Abkommen gehören genauso zum
keynesianischen Programm wie das Versprechen, im Falle eines Konjunkturabschwungs durch eine expansive
staatliche Ausgabenpolitik Arbeitsplätze zu schaffen. Dabei ist unterstellt, dass im Abschwung die
Inflationsrate sinkt und es daher nicht notwendig ist, einem steigenden Preisniveau politisch
entgegenzuwirken.
Diese Bedingung war zu Beginn der 70er
Jahre nicht mehr erfüllt. Von Leistungsbilanzdefiziten geplagt, gaben die USA die in Bretton Woods
vereinbarte Wechselkursbindung des Dollar auf. Zusammen mit steigenden Ölpreisen und militanten
Arbeitskämpfen schuf dies einen inflationären Druck. Unternehmen sorgten sich um
Überkapazitäten, die auf dem Weltmarkt, insbesondere durch die Exporterfolge Deutschlands und
Japans, entstanden waren. Die USA, die die keynesianische Nachkriegsordnung maßgeblich durchgesetzt
hatten, erwiesen sich nunmehr als unfähig, den kapitalistischen Weltmarkt zu stabilisieren.
Als Stagnation, Arbeitslosigkeit und
Inflation gleichzeitig auftraten, entschied sich die sozialliberale Koalition in Deutschland gegen den
Widerstand des linken Flügels der SPD, Inflation und Staatsverschuldung mit einer restriktiven
Ausgabenpolitik auch um den Preis weiter steigender Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. In der zweiten
Hälfte der 70er Jahre wurde zwar nochmals ein keynesianisches Beschäftigungsprogramm aufgelegt
pikanterweise unter Druck der USA , angesichts eines neuen Inflationsschubs jedoch schnell
wieder fallengelassen.
Im Zeichen der Hegemoniekrise der USA
entfaltete die sozialliberale Koalition eine Stop-and-Go-Politik, die die internationale Instabilität
nicht wirksam neutralisieren konnte. Angesichts ihres Scheiterns wandten sich die Bourgeoisie ebenso wie
Teile der Stammwählerschaft von der SPD ab und ebneten einer konservativ-liberalen Regierung den Weg.
In der Regierungszeit Helmut Kohls wurde der Keynesianismus praktisch völlig aufgegeben. Unter den
Imperativen von Haushaltskonsolidierung und Exportsteigerung wurden das Sicherungs- und Leistungsniveau des
Sozialstaats in Deutschland langsam aber stetig abgebaut.
In den USA hingegen folgte den während
des Nachkriegsaufschwungs merklich gewachsenen Ansprüchen der Arbeiterklasse an Einkommen und
Arbeitsbedingungen ein brutaler Abbau des Sozialstaats und der Gewerkschaftsrechte; sie wurden den
Erfordernissen der Kapitalakkumulation untergeordnet.
Von gewerkschaftlichen und autonomen
Arbeiterforderungen weitgehend unbehelligt konnten die USA nunmehr einen keynesianischen Expansionskurs
einschlagen, der in großer Zahl billige Arbeitskräfte in die Mehrwertproduktion integrierte und
durch beständige Leistungsbilanzdefizite weltwirtschaftliches Wachstum anregte.
Dabei wurde das Instrument der staatlichen
Defizit- und Ausgabenpolitik zunehmend durch die Deregulierung der Finanzmärkte und niedrige
Zentralbankzinsen ergänzt, sodass private Haushalte und Unternehmen ihre Ausgaben über billige
Kredite und die Ausgabe von Wertpapieren nahezu unbegrenzt finanzieren konnten.
Von diesem Keynesianismus ohne bzw. mit
immer weniger Sozialstaat, dafür begleitet von exzessiver Börsenspekulation, konnte die deutsche
(Export-)Wirtschaft enorm profitieren. Dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland und anderen
westeuropäischen Ländern trotzdem deutlich über dem US-Niveau verharrte, erklärt ein
theoretisch modifizierter Keynesianismus mit dem Konzept der "inflationsstabilen
Arbeitslosenrate". Demnach führen soziale Standards, die in den meisten westeuropäischen
Ländern deutlich über denen der USA liegen, zu höheren Lohnansprüchen, die ohne eine
ausreichend große industrielle Reservearmee eine Lohn-Preis-Spirale auslösen würden.
Zwischen diesem, die Imperative der
Kapitalakkumulation strikt anerkennenden Rechtskeynesianismus und einem auf den Aufbau gewerkschaftlicher
Gegenmacht zielenden Linkskeynesianismus versuchte die SPD im ideologischen Gewand der Neuen Mitte einen
Kompromiss zu finden. Wenig erfolgreich, wie sich bald nach Amtsantritt der rot-grünen Koalition
erweisen sollte. Als Mehrheitsbeschaffer war der gewerkschaftlich und sozialstaatlich orientierte
Flügel der SPD zwar willkommen, von der Gestaltung der Regierungspolitik sollte er aber ferngehalten
werden.
In der Linkspartei versucht der
Keynesianismus nun, mit ungewissem Ausgang eine neue Heimat zu finden. Derweil fragen sich
Rechtskeynesianer in den USA, ob private und öffentliche Verschuldung und das Leistungsbilanzdefizit
unter Präsident Bush nicht solche Ausmaße angenommen haben, dass nur eine wirtschaftspolitische
Kontraktion mit den entsprechenden negativen Folgen für Weltwirtschaft und Beschäftigung einen
Zusammenbruch des Finanzsystems vermeiden könnte.
Der Keynesianismus ist in politisch und
wirtschaftlich turbulenten Zeiten als Mittel der kapitalistischen Stabilisierung entstanden. Ob er zu
diesem Zweck noch einmal erfolgreich angewandt werden kann, ob er sich zu einem linkskeynesianisch-
sozialistischen Projekt weiterentwickeln kann oder sich alsbald aus der Geschichte verabschieden wird, ist
gegenwärtig völlig offen.
Ingo Schmidt
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