SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2006, Seite 18

J.M.Keynes 1883—1946

Taugt der Keynesianismus noch zur Stabilisierung des Kapitalismus?

Vor 60 Jahren, am 21.April 1946, starb der britische Ökonom, Politiker und Autor John Maynard Keynes. Als Leiter der britischen Delegation bei den internationalen Verhandlungen in Bretton Woods 1944 trug er zur Schaffung der außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen bei, innerhalb derer sich in den folgenden drei Jahrzehnten ein historisch beispielloser Wirtschaftsaufschwung entfalten sollte.

Seit der Nachkriegsboom in den 70er Jahren von einer Periode geringeren Wachstums bei zunehmender Arbeitslosigkeit und Inflation abgelöst wurde, streiten Ökonomen darüber, ob die Einführung einer keynesianischen Wirtschaftspolitik in den 70er Jahren nach anfänglichen Erfolgen zum Anstieg der Inflation, des Staatsdefizits und der Verschuldung geführt und deshalb eine wirtschaftspolitische Neuorientierung erforderlich gemacht habe, oder ob umgekehrt der Strategiewechsel hin zu neoliberaler Politik im Interesse des Finanzkapitals Ende der 70er Jahre für die anhaltende Wirtschaftsschwäche und Arbeitslosigkeit verantwortlich sei.
Mit der erstgenannten Position begründen Zentralbanken ihren harten Kurs gegen tatsächliche oder auch nur vermutete inflationäre Entwicklungen. Regierungen bemühen dieselbe Argumentation, um ihre Politik der Haushaltskonsolidierung und des Schuldenabbaus zu begründen.
Die zweite Position, mithin eine Fortsetzung keynesianischer Beschäftigungspolitik, fordern Gewerkschaften und ihnen nahe stehende politische Strömungen — allerdings mit deutlich geringerer Präsenz in der Öffentlichkeit.
Im Wissenschaftsbetrieb plädiert man in letzter Zeit öfters für eine Synthese keynesianischer und neoliberaler Positionen. Um Inflation zu vermeiden, soll demnach an der Schwächung gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht festgehalten werden, eine weniger zurückhaltende Haushaltspolitik aber gleichzeitig Wachstum und Beschäftigung anregen. In den USA sei dieser Politikmix in den letzten Jahren mit einigem Erfolg angewendet worden. In der Tat haben sowohl der Demokrat Clinton als auch der Republikaner Bush Ökonomen zu wirtschaftspolitischen Beratern ernannt, die sich selbst als Keynesianer verstehen, ohne als gewerkschaftsnah zu gelten.
Diese Debatte verweist auf zwei zentrale Aspekte in der wirtschaftspolitischen Diskussion über den Keynesianismus. Entgegen der verbreiteten Ansicht, Keynes‘ wirtschaftspolitische Vorstellungen ignorierten internationale Wirtschaftsbeziehungen und seien deshalb in einer globalisierten Welt selbst dann nicht umsetzbar, wenn politische Mehrheiten in einem Lande dies wünschten, ist der Keynesianismus zur Stabilisierung der kapitalistischen Weltwirtschaft konzipiert worden.
Zweitens versprach der Keynesianismus stets, widerstreitende politische Strategien und soziale Interessen miteinander zu versöhnen. Von Anfang an wurde er deshalb mit unterschiedlichem Erfolg dazu benutzt, nationale Klassenkompromisse zu organisieren. Dass das Verhältnis von internationaler Konkurrenz und nationalem Korporatismus wechselvoll war und nunmehr offen ist, kann am Beispiel Deutschlands gezeigt werden.

"Amerikanischer Ökonom"

Auf der bereits erwähnten Konferenz von Bretton Woods wurde Wirtschaftstheorie geschichtsmächtig. Keynes‘ Argument, die Stabilisierung von Wachstum und Beschäftigung in den Einzelstaaten erfordere eine außenwirtschaftliche Absicherung durch feste und politisch garantierte Wechselkurse, fand die Anerkennung der internationalen Diplomatie und schuf den Rahmen für die weltwirtschaftliche Integration der folgenden drei Jahrzehnte.
Als Ökonom triumphierte Keynes in Bretton Woods, als organischer Intellektueller der britischen Bourgeoisie musste er allerdings anerkennen, dass die USA die Rolle der kapitalistischen Führungsmacht von den Briten übernommen hatten. Die Verträge von Bretton Woods führten nicht nur zur Institutionalisierung keynesianischer Wirtschaftstheorie; sie legten auch den Grundstein für die Durchdringung des Weltmarkts mit US- amerikanischen Waren und Kapital. Ergänzt durch ein militärkeynesianisches Programm, das dem Weltmarkt dauerhafte Nachfrageimpulse gab und zugleich politische Macht demonstrierte, konnte ein US- Imperium aufgebaut werden, das die Konkurrenz der europäischen Imperialmächte neutralisierte.
Die westdeutsche Bourgeoisie gliederte sich mit einer exportorientierten Wachstumsstrategie in dieses Imperium ein. Die dabei erzielten Einkommens- und Produktivitätszuwächse bildeten die ökonomische Basis eines Verteilungskompromisses mit den Gewerkschaften und des Ausbaus des Sozialstaats.
Wirtschaftswunder und sozialer Ausgleich hingen somit in hohem Maße von der keynesianischen Politik der USA ab. Der italienische Operaist Mario Tronti charakterisierte Keynes deshalb zutreffend als "amerikanischen Ökonom". In der deutschen Öffentlichkeit und Wissenschaft der 50er und 60er Jahre wurde dies jedoch kaum wahrgenommen. Ein ausgeglichener Staatshaushalt und Geldwertstabilität — nach der monetaristischen Konterrevolution Ende der 70er Jahre das wirtschaftspolitische Mantra aller imperialistischen Mächte, mit der allerdings nicht ganz unwichtigen Ausnahme der USA — wurden in Deutschland schon während des keynesianisch geprägten Nachkriegsbooms gepredigt.
Erst als sich dieser Ende der 60er Jahre seinem Ende zuneigte und die politischen Reserven des Adenauer-Staats erschöpft waren, hielt mit der Großen Koalition die keynesianische Botschaft von der politischen Regulierbarkeit kapitalistischer Entwicklung Einzug in die westdeutsche Politik.

Amerikanische Führungskrise

Unter dem Eindruck von Vollbeschäftigung und hohen Wachstumsraten stellten Teilen der Arbeiterklasse Lohnforderungen, die deutlich über die Produktivitätsfortschritte hinausgingen und insofern einen Angriff auf die Profite darstellten. Unter diesen Bedingungen schien es geboten, Sozialdemokratie und Gewerkschaften über den Weg der Regierungsbeteiligung und der Konzertierten Aktion in die Politik der Exportförderung einzubinden, um sinkende Profitraten oder den Verlust internationaler Wettbewerbsfähigkeit zu verhindern.
Letzterer wäre eingetreten, wenn die Nominallohnerhöhungen durch höhere Preise (erhöhte Inflationsraten) kompensiert worden wären, um die Profite zu stabilisieren. Lohnzurückhaltung (Lohnleitlinien) und die Vermeidung inflationärer Überhitzung durch korporatistische Abkommen gehören genauso zum keynesianischen Programm wie das Versprechen, im Falle eines Konjunkturabschwungs durch eine expansive staatliche Ausgabenpolitik Arbeitsplätze zu schaffen. Dabei ist unterstellt, dass im Abschwung die Inflationsrate sinkt und es daher nicht notwendig ist, einem steigenden Preisniveau politisch entgegenzuwirken.
Diese Bedingung war zu Beginn der 70er Jahre nicht mehr erfüllt. Von Leistungsbilanzdefiziten geplagt, gaben die USA die in Bretton Woods vereinbarte Wechselkursbindung des Dollar auf. Zusammen mit steigenden Ölpreisen und militanten Arbeitskämpfen schuf dies einen inflationären Druck. Unternehmen sorgten sich um Überkapazitäten, die auf dem Weltmarkt, insbesondere durch die Exporterfolge Deutschlands und Japans, entstanden waren. Die USA, die die keynesianische Nachkriegsordnung maßgeblich durchgesetzt hatten, erwiesen sich nunmehr als unfähig, den kapitalistischen Weltmarkt zu stabilisieren.
Als Stagnation, Arbeitslosigkeit und Inflation gleichzeitig auftraten, entschied sich die sozialliberale Koalition in Deutschland gegen den Widerstand des linken Flügels der SPD, Inflation und Staatsverschuldung mit einer restriktiven Ausgabenpolitik auch um den Preis weiter steigender Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre wurde zwar nochmals ein keynesianisches Beschäftigungsprogramm aufgelegt — pikanterweise unter Druck der USA —, angesichts eines neuen Inflationsschubs jedoch schnell wieder fallengelassen.
Im Zeichen der Hegemoniekrise der USA entfaltete die sozialliberale Koalition eine Stop-and-Go-Politik, die die internationale Instabilität nicht wirksam neutralisieren konnte. Angesichts ihres Scheiterns wandten sich die Bourgeoisie ebenso wie Teile der Stammwählerschaft von der SPD ab und ebneten einer konservativ-liberalen Regierung den Weg.

Vom Wohlfahrtsstaat zum Börsenkeynesianismus

In der Regierungszeit Helmut Kohls wurde der Keynesianismus praktisch völlig aufgegeben. Unter den Imperativen von Haushaltskonsolidierung und Exportsteigerung wurden das Sicherungs- und Leistungsniveau des Sozialstaats in Deutschland langsam aber stetig abgebaut.
In den USA hingegen folgte den während des Nachkriegsaufschwungs merklich gewachsenen Ansprüchen der Arbeiterklasse an Einkommen und Arbeitsbedingungen ein brutaler Abbau des Sozialstaats und der Gewerkschaftsrechte; sie wurden den Erfordernissen der Kapitalakkumulation untergeordnet.
Von gewerkschaftlichen und autonomen Arbeiterforderungen weitgehend unbehelligt konnten die USA nunmehr einen keynesianischen Expansionskurs einschlagen, der in großer Zahl billige Arbeitskräfte in die Mehrwertproduktion integrierte und durch beständige Leistungsbilanzdefizite weltwirtschaftliches Wachstum anregte.
Dabei wurde das Instrument der staatlichen Defizit- und Ausgabenpolitik zunehmend durch die Deregulierung der Finanzmärkte und niedrige Zentralbankzinsen ergänzt, sodass private Haushalte und Unternehmen ihre Ausgaben über billige Kredite und die Ausgabe von Wertpapieren nahezu unbegrenzt finanzieren konnten.
Von diesem Keynesianismus ohne bzw. mit immer weniger Sozialstaat, dafür begleitet von exzessiver Börsenspekulation, konnte die deutsche (Export-)Wirtschaft enorm profitieren. Dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern trotzdem deutlich über dem US-Niveau verharrte, erklärt ein theoretisch modifizierter Keynesianismus mit dem Konzept der "inflationsstabilen Arbeitslosenrate". Demnach führen soziale Standards, die in den meisten westeuropäischen Ländern deutlich über denen der USA liegen, zu höheren Lohnansprüchen, die ohne eine ausreichend große industrielle Reservearmee eine Lohn-Preis-Spirale auslösen würden.
Zwischen diesem, die Imperative der Kapitalakkumulation strikt anerkennenden Rechtskeynesianismus und einem auf den Aufbau gewerkschaftlicher Gegenmacht zielenden Linkskeynesianismus versuchte die SPD im ideologischen Gewand der Neuen Mitte einen Kompromiss zu finden. Wenig erfolgreich, wie sich bald nach Amtsantritt der rot-grünen Koalition erweisen sollte. Als Mehrheitsbeschaffer war der gewerkschaftlich und sozialstaatlich orientierte Flügel der SPD zwar willkommen, von der Gestaltung der Regierungspolitik sollte er aber ferngehalten werden.
In der Linkspartei versucht der Keynesianismus nun, mit ungewissem Ausgang eine neue Heimat zu finden. Derweil fragen sich Rechtskeynesianer in den USA, ob private und öffentliche Verschuldung und das Leistungsbilanzdefizit unter Präsident Bush nicht solche Ausmaße angenommen haben, dass nur eine wirtschaftspolitische Kontraktion mit den entsprechenden negativen Folgen für Weltwirtschaft und Beschäftigung einen Zusammenbruch des Finanzsystems vermeiden könnte.
Der Keynesianismus ist in politisch und wirtschaftlich turbulenten Zeiten als Mittel der kapitalistischen Stabilisierung entstanden. Ob er zu diesem Zweck noch einmal erfolgreich angewandt werden kann, ob er sich zu einem linkskeynesianisch- sozialistischen Projekt weiterentwickeln kann oder sich alsbald aus der Geschichte verabschieden wird, ist gegenwärtig völlig offen.

Ingo Schmidt

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