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Die wahre Geschichte: gedruckt, gesendet, im Internet abrufbar. Ihre Autorität ist so
unbestreitbar wie jene des Bieres, das gemäß dem legendären Reinheitsgebot gebraut wurde. Dessen Film sich
ausdrücklich auf das "tatsächlich" Geschehene bezieht (meist schon durch einen Verweis im Vorspann),
beginnt mit Einschüchterung und verlangt vom Publikum einen Blankoscheck in Sachen Authentizität. Da ist schon
im Ansatz Hopfen und Malz verloren: "Die Frage, ob ein Film authentisch ist, beinhaltet, dass ich zu keinem Kontakt
im Kino je gezwungen wurde … Die authentische Distanz des Kinoprodukts drückt sich darin aus, dass treffende
Filme zu keinem Zeitpunkt darüber täuschen, dass sie etwas Dargestelltes sind, in das sie den Zuschauer nicht
herüberziehen wollen … Authentizität heißt: dass eine Situation stimmig ist, nicht bloß, dass
ein Sachverhalt oder die Formen stimmen." (Alexander Kluge.)
Wenn sich der fiktive Film "dokumentarisch"
gebärdet, sind meist gezinkte Karten im Spiel. Im Folgenden drei Beispiele von Filmen, die mittels der Bezugnahme
auf "Wahre Geschichten" auf Überwältigung der Rezipienten zielen.
Hier die wahre Geschichte aus der BRD der frühen 70er Jahre: Eine an Epilepsie erkrankte Studentin leidet an
religiösen Wahnvorstellungen und befürchtet, besessen zu sein. Nach einer Folge von Anfällen findet sich
ein Priester, der ihr mit Einverständnis der Familie sowie unter Ausbleiben weiterer medizinischer Versorgung
den Teufel und damit auch den letzten Hauch an Leben austreibt. Die unterlassene Hilfeleistung setzt die Justiz in
Gang.
Die erzählerische Klammer in The Exorcism of Emily
Rose (USA 2005, Regie: Scott Derrickson) anlässlich der Verlegung der "wahren Geschichte" in die USA
bildet ein Sensationsprozess gegen den exorzierenden Priester mit der abschließenden Einsicht, man dürfe sich
nicht nur auf die durch medizinische Gutachten begründete Faktenlage beziehen, sondern müsse metaphysische
Erklärungsversuche als gleichwertige Beweismittel akzeptieren die "true story" als Gleitmittel
fundamentalistischer Ideologie.
Pater Moore, dessen exorzistische Bemühungen die 19-
jährige Studentin Emily Rose nicht überlebt hat, steht wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht. Der
Erzdiözese, die dem Beschwörungsritual zugestimmt hat, ist die leidige Angelegenheit peinlich, sie hofft auf
einen kurzen Prozess, der mit einem Vergleich endet. Zur positiven Erledigung dieses Vorhabens wird Erin Bruner,
Shootingstar der Anwaltsszene und (was der Kirchenbehörde in diesem Fall wichtig ist) Agnostikerin, als
Verteidigerin engagiert, welcher der als "Scharfmacher" bekannte tiefgläubige Methodist Ethan Thomas als
Staatsanwalt gegenübersteht.
Da US-amerikanische Gerichte stets der Wahrheit und
nichts als der Wahrheit verpflichtet sind, erfahren die Geschworenen erst von den fatalen Folgen des priesterlichen
Ratschlags an Emily Rose, die Medikamente zugunsten der seelischen Behandlung abzusetzen, um dann, spät, aber doch,
durch die Aussage von Pater Moore auch in die metaphysischen Aspekte des Falles eingeweiht zu werden. Mittels einer
wundersamen Rückblende, in der die Jungfrau Maria, gewissermaßen als Kronzeugin der Verteidigung, Emily Rose
erscheint und ihr verkündet, die Besessenheit diene einem höheren Zweck, der Sichtbarmachung des Bösen und
seines Treibens in der Welt, erfährt man die wahren Hintergründe. Der Priester wird zu einer milden Strafe
verurteilt, sein Fehlverhalten wäre von gutem, möglicherweise auch berechtigtem Glauben geleitet worden, weder
natürliche noch übernatürliche Ursachen des Todes der Emily Rose seien auszuschließen…
The Exorcism of Emily Rose ist darum bemüht, auf das
seit Friedkins Exorzist (1973) genreübliche Brimborium zu verzichten (sieht man von einigen teuflischen Umtrieben
und der unvermeidlichen "Erscheinung" im Schlussteil ab), um stattdessen auf ein "Sowohl-als-Auch" zu
plädieren. Da wird das interkulturelle Verständnis "Besessenheit" in Afrika, rituelle
"Bewältigung" ebenso bemüht wie die "Natur von Erinnerungen und Wahrheiten"
(Regisseur Scott Derrickson).
Letztlich sei dies "eine Debatte, die seit Beginn
der Menschheit geführt wird. Was glauben wir und was können wir tatsächlich beweisen?" so
Produzent Tripp Vinson. Mit unschuldigem Unterton wird um Fairplay bei der Betrachtung eines vermeidbaren Todesfalls
ersucht. Das (rationale) Argument des sichtbar Monströsen als Folge des Schlafs der Vernunft sei der
"spirituellen Weltsicht" gegenüberzustellen und gleichzusetzen.
Solchermaßen wird The Exorcism of Emily Rose zum
Echo und zur Begleitpropaganda der Kampagne um die Aufnahme der kreationistisch geprägten These des
"intelligenten Designs" als Gegenpol zur Evolutionslehre in die Lehrpläne der US-Schulen.
Da hat einer gelebt und ist doch ein Phantom geblieben: Plötzlich auftauchend, auf gewaltsame Weise früh dem
Leben entrissen das kurze Leben des Kaspar Hauser war und ist für Schriftsteller, Historiker, Theater- und
Filmemacher von Interesse. Ob der 1833 Verstorbene in Wahrheit der durch Intrige und Verschleppung um Anspruch und Erbe
gebrachte badische Erbprinz war, darüber gibt es mittlerweile als unumstößliche Wahrheit bereits zwei
wasserdichte, einander widersprechende genetische Gutachten.
Lange, bevor Hollywood eine gehörlose Schauspielerin
für die besonders glaubwürdige Verkörperung einer Gehörlosen mit dem Oscar auszeichnete, entdeckte
Werner Herzog in Jeder für sich und Gott gegen alle (BRD 1974) den Dopplereffekt: Bruno S., von der Gesellschaft
ausgegrenzt, 23 Jahre in Pflegeheimen interniert, von den Nazis als geistig behindertes, "unwertes" Leben
eingestuft und nur durch Glück der Ermordung durch jene entgangen, wird als Wiedergänger Kaspar Hausers
entdeckt. Werner Herzog, der nicht müde wird, die Herkunft des Kinos vom Jahrmarkt zu betonen, betätigt sich
als Schaubudenbesitzer und stellt die "Kuriosität" Bruno S., alias Kaspar Hauser aus zwei
"wahre Geschichten" verfließen zu einer…
Das Klischee vom "Nicht spielen, vielmehr sein"
befördert in vielen Rezensionen das von Herzog erstrebte Echtheitszertifikat: "Brunos Identifikation mit der
Rolle lässt keine Lücke für falsche Schauspielerei, durch sie kommt, in Abständen verstreut, das
Außergewöhnliche in diesen Film" (SZ, 3.12.74). Harun Farocki hingegen vergleicht Herzogs Film mit
Truffauts Wolfsjungen: "Dort (im Wolfsjungen) sieht man, wie zwei Erwachsene ein wild aufwachsendes
achtjähriges Kind zu zivilisieren suchen. Der Zusammenstoß zwischen Natur und Kultur, eine Darstellung davon,
was Erziehung ist … Bei Werner Herzog ist das Kaspar-Hauser-Thema nur dazu da, um die Rarität eines Menschen,
der nicht den üblichen Erziehungsprozess durchlaufen hat, vorzuführen", und kommt zum Schluss: Jeder
für sich und Gott gegen alle sei "nur dazu da, um Werner Herzog Gelegenheit zu geben, etwas undeutliche Poesie
zu produzieren. Undeutlich, aber natürlich superostentativ" (Konkret, 26.7.75).
Noch 2001, als Herzog Invincible dreht, muss für die
Hauptrolle des "Siegfried, der Eisenkönig" alias "Samson, der starke Jude" der amtierende
"Stärkste Mann der Welt" herhalten. Für die Pianistin Maria Farra, "jung, schön und
ausgestattet mit der Scheu jener, die staatenlos sind" (Drehbuchauszug), wiederum kam selbstverständlich nur
eine "wirkliche" Pianistin in Frage. Kein falscher Boden, kein Auffangnetz, wahre Geschichten am laufenden
Band: Hier sehen sie, was sie noch nie gesehen haben…
Am 5.September 1972, während der Olympischen Spiele in München, überfällt ein Kommando des
"Schwarzen September" das Olympische Dorf und nimmt israelische Sportler als Geiseln. Nachdem ihre Forderung
nach Freilassung politischer Gefangener in Israel abgelehnt wird, verlangen sie von den bundesdeutschen Behörden die
freie Ausreise in ein arabisches Land. Zwei Düsenflugzeuge, die sie und die Geiseln nach Ägypten bringen
sollen, werden bereitgestellt. Auf dem Weg zu den Maschinen werden drei Kommandomitglieder von Scharfschützen
getötet. Die darauf folgende Ermordung der israelischen Sportler schockt die Welt.
Steven Spielbergs München beruft sich im Vorspann im
Plural auf "wahre Geschichten". Hier die zweite: Die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir beauftragt
in einer Geheimsitzung ein Kommando des Mossad mit der Liquidierung der überlebenden Geiselnehmer sowie von deren
Hintermännern.
In Spielbergs Geschichte der "wahren
Geschichten" ist es ein junger, bis dahin Büroarbeiten zugeteilter Mossad-Mitarbeiter, allerdings Sohn eines
Kriegshelden, der mit der Aufgabe betraut wird. Nicht obwohl, vielmehr weil er und die weiteren Mitglieder seines
Kommandos keinerlei operative Erfahrung haben und daher auch im Schutz der Anonymität agieren können, sollen
sie "das Problem" lösen. Je erfolgreicher sie sind, desto mehr plagen den Einsatzleiter Zweifel, ob der
Kreislauf der Gewalt jemals gestoppt werden kann.
Dass der Held des Filmes nicht nur entdeckt, dass die
"Anderen" auch ein Gesicht und eine Geschichte haben, sondern gegen Ende des Filmes sogar über den
Wahrheitsgehalt der "wahren Geschichten" seiner Auftraggeber reflektiert, mag innerhalb der Hollywood-
Konvention nicht alltäglich sein (obgleich "politische Filme" derzeit en vogue sind). Doch der
(behauptete) Anspruch kollidiert mit dem Gewerbe. München funktioniert letztlich wie eine verknappte (und
verfeinerte) Variante der Fernsehserie 24 (vgl. SoZ 3/06), freilich mit einer vagen humanistischen Botschaft versehen,
die lauten könnte: Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortwährend Böses muss gebären.
Oder auch: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
Da ist der Ruf nach ein bisschen Frieden. Und da ist die
Antwort des Box-Office: Gekauft!
Beispiel 1. Chico Marx steht plötzlich, wie aus dem Boden gewurzelt, in der Maske von Groucho Marx vor Margaret
Dumont. Sie traut ihren Augen nicht, denn Groucho hat eben ihr Zimmer verlassen. Dumont: "But Ive seen it with
my own eyes!" Darauf Chico ungerührt: "Whom do you believe? Me or your own eyes?" Dieser Dialog aus
Duck Soup (USA 1933) ist nicht nur angewandter "Marxismus", sondern auch eine Schlüsselszene über das
Kino.
Beispiel 2. Im "Wald der Dämonen" hat ein
Räuber einen Samurai getötet und dessen Frau vergewaltigt (heißt es): Ein Zeuge, der Räuber, die
Frau, sowie, durch den Mund eines Geisterbeschwörers, der tote Samurai, erzählen, was passiert ist. Die vier
Versionen des Ereignisses unterscheiden sich diametral, dennoch ist jede einzelne glaubwürdig... Ob wahr oder
gelogen, entscheidet bei Rashomon (Japan 1950, Regie: Akira Kurosawa) der Zuschauer, dabei möglicherweise eine
fünfte Version entwickelnd.
Beispiel 3. Rosebud: Dem vergeblichen Unterfangen des
Journalisten Thompson, die Bedeutung dieses letzten Wortes des Zeitungsmagnaten Kane zu entschlüsseln, steht das
auseinanderstrebende Zeugnis derer, die Kane kennengelernt haben, gegenüber. Die "wahre Geschichte" des
Pressezaren Hearst ist allenfalls Ausgangsmaterial für die Ablösung vom System der "wahren
Geschichten": "Kane war egoistisch und selbstlos, ein Idealist, ein Windbeutel, ein großer und ein
unbedeutender Mann. Es hängt davon ab, wer von ihm spricht. Er wird nie aus der Objektivität eines Autors
beurteilt, und der Sinn des Films liegt nicht in der Auflösung des Rätsels, sondern in der Art und Weise seiner
Darstellung." (Orson Welles über seinen Film Citizen Kane, 1940.)
Ebenso wenig wie ein Kind dem älteren Herren, der
ihm Süßigkeiten anbietet, folgen sollte, ist Vertrauen in die Dealer der "wahren Geschichten"
angebracht. Die wahren Geschichten des Kinos entziehen sich dem Faktenschwindel, der Besserwisserei und der
Wahrscheinlichkeitskrämerei. Die Wahrheit, so lehren sie uns, verbirgt sich auf der Suche nach ihr, ist eine Frage
der Perspektive, der Fantasie und des fröhlichen Zweifels.
Kurt Hofmann
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