SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2006, Seite 21

Mord & Todschlag

Andrea Maria Schenkel: Tannöd, Edition Nautilus, 2006, 125 S.

Eine junge Frau kehrt zehn Jahre nach Kriegsende in ein süddeutsches Dorf zurück, das mittlerweile zum "Morddorf" geworden ist. In einer Nacht ist eine Familie und deren Dienstmagd auf dem Tannöd-Hof umgebracht worden. Andrea Maria Schenkel lässt die Leute erzählen, was sie über die getöteten Menschen denken, die fernab der Dorfgemeinschaft auf dem Einödhof lebten — ein Berichts- und Erkenntnisprozess wie die Zusammensetzung eines Mosaiks.
Die kleine Betty erzählt von ihrer Freundin Marianne und ihrem Streit über die Existenz eines Zauberers und die Rohrnudeln, die Betty selber essen musste, als Marianne eines Tages nicht mehr in der Schule auftaucht.
Es ist eine strenge Welt, in der kleine Kinder schon zu Gehässigkeiten fähig sind, in denen Schwestern nicht in der Lage sind, sich Obdach zu bieten, weil es dem Ehemann nicht passt. Der Dorfpfarrer versteckt hinter religiöser Fürsorge seine Hartherzigkeit, und der Bürgermeister will mit den Geschehnissen während des Krieges nicht zu tun haben; es ist eine neue Zeit und jetzt muss man Chruschtschows Kommunisten bekämpfen. Über die Danners wurde schon immer gemunkelt, über Gewalttätigkeiten des Bauern, inszestiöse Beziehungen, den Ehemann und den Liebhaber der Dannerstochter. Aber wer kann zu einer solchen Tat fähig sein? Den Mörder sieht der Leser beim Verrichten alltäglicher Dinge, er kann kein Fremder sein. Zunehmend gibt es Ahnungen, aber die ganze Tragödie erschließt sich erst am Ende des Romans.
Was Andrea Maria Schenkel hier auf 125 Seiten geschrieben hat, ist ganz große Literatur: die knappen Befragungen, aus denen die Persönlichkeiten der Dorfbewohner herausschimmern, die Schilderung, wie aus ganz normalen Menschen böswillige Gestalten werden, die packende Düsterkeit des Lebens auf Tannöd. So etwas gab es lange nicht zu lesen. Und was sich nach 125 Seiten anbietet: Wieder von vorne mit dem Lesen zu beginnen.

Udo Bonn



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