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Dem derzeit gängigen Geschichtsverständnis nach ist in der Alt-Bundesrepublik
eine nennenswerte außerparlamentarische Opposition erstmals in Gestalt der Studentenbewegung um 1968 aufgetreten. In
den Jahren davor, so suggeriert es diese Lesart von Geschichte, habe nachhaltiger öffentlicher Protest nicht
stattgefunden; die westdeutsche Bevölkerung habe sich in ihrem politischen Engagement aufs Wählen
beschränkt und im übrigen den jeweiligen Autoritäten der parteipolitischen Lager disziplinierte
Gefolgschaft geleistet. Mit den historischen Realitäten haben solche Annahmen oder Deutungen nichts gemein.
Schon in den Jahren der Gründung der Bundesrepublik gab es in den industriellen Zentren der britischen und der
US-amerikanischen Zone, mit dem Schwerpunkt im Ruhrgebiet, eine Welle von spontanen Streiks und sog. Hungermärschen,
organisiert von Betriebsräten, örtlichen Gewerkschaftsgruppen und Aktionsausschüssen. Im März und
April 1947 streikten in der Britischen Zone Hunderttausende von Arbeiterinnen und Arbeitern.
Die Besatzungsbehörden versuchten, diese Bewegungen
einzudämmen, sie drohten mit Belagerungszustand und Standrecht. Die Gewerkschaftsführungen verhielten sich
gegenüber diesem Protest aus der Arbeiterbevölkerung reserviert, die SPD betonte ihre Distanz. Die KPD
vor allem in Nordrhein-Westfalen damals noch ein relevanter politischer Faktor unterstützte die
Demonstrationen, aber diese waren keinesfalls Hervorbringungen kommunistischer Parteitaktik. Antreibend war vielmehr der
Zorn über die unzureichende materielle Versorgung, aber auch darüber, dass die alten Inhaber unternehmerischer
Macht, die "Kohle- und Stahlbarone", das Heft wieder in die Hand nahmen.
Die demokratisch beschlossene Sozialisierung der
Schlüsselindustrien war von den Besatzungsmächten zur Freude des westdeutschen Großbürgertums
vereitelt worden; Mitbestimmungsrechte im Betrieb, die von den Belegschaften gleich nach Ende des Krieges durchgesetzt
worden waren, wurden schon wieder reduziert. Im Frühjahr und im Herbst 1948 kam es erneut zu größeren
spontanen Streiks, im zweiten Zeitraum auch als Reaktion auf die sozialen Ungerechtigkeiten der Währungsreform. Die
Gewerkschaftsführungen sahen sich veranlasst, im November 1948 für einen Tag zu einem Generalstreik in der
gesamten Bizone anzurufen, um den Unmut an der Basis zu kanalisieren.
All diese Vorgänge zeigen: Es gab zu dieser Zeit einen hohen Grad der Bereitschaft zum sozialen und politischen
Protest in der Arbeiterbevölkerung aber zugleich entwickelte sich an der Spitze der Gewerkschaften die
Fähigkeit, oppositionelle Bewegungen unter Kontrolle zu bringen, sie zu "zähmen".
Damit ist ein Grundproblem genannt, das sich dann nach
der Gründung der Bundesrepublik (1949) bis Anfang der 60er Jahre durch die Geschichte außerparlamentarischer
Opposition hindurch zog. Die wichtigsten gesellschafts- und außenpolitischen Weichenstellungen für
Westdeutschland riefen jeweils heftige oppositionelle Bewegungen hervor, außerhalb des Parlaments- und
Parteienbetriebs und unabhängig von den Operationen der Gewerkschaftsführung: Das gilt für die
Restauration kapitalistischer Konzernmacht (in die sich auch das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 einfügte),
für die Remilitarisierung Westdeutschlands, die Einbindung in das westliche Militärbündnis und
schließlich für den Griff nach atomarer Rüstung.
Die außerparlamentarischen oppositionellen
Bewegungen suchten dabei das Bündnis mit den Gewerkschafts"apparaten" und der SPD-Führung; bei diesen
Versuchen aber brach sich ihre Eigendynamik, der Protest wurde gebändigt und "verwaltet", dienstbar
gemacht für Kompromiss- und Anpassungsstrategien der Gewerkschaftsvorstände und des SPD-Vorstands.
So geschah es in den 50er Jahren zunächst der
"Ohne-mich-Bewegung", also dem Protest gegen die Wiederbewaffnung, und dann der Bewegung "Kampf dem
Atomtod". Die Gründung der "Gesamtdeutschen Volkspartei" unter Gustav Heinemann und Helene Wessel
zielte darauf ab, im Konflikt um die Deutschland- und Militärpolitik dem eben beschriebenen Dilemma durch einen
eigenen parteipolitischen Weg zu entgehen; der erhoffte Wahlerfolg stellte sich aber nicht ein.
Unter dem Gesichtspunkt "politischer
Sozialisiation" hatten die kanalisierenden und "ruhigstellenden" Eingriffe der Führungen von SPD und
Gewerkschaften in die außerparlamentarischen Bewegungen der 50er Jahre höchst nachteilige Folgewirkungen.
Insbesondere die Proteste gegen die Remilitarisierung wurden von jungen Menschen in großer Zahl getragen.
Für diese waren sie auch so etwas wie
"Aufarbeitung" der Nazi-Vergangenheit; es kam in ihnen die Verachtung jenes "Kommissgeistes" zum
Ausdruck, der im hitlerdeutschen Krieg erlebt worden war; der durch bittere Erfahrungen zustande gekommene Widerwille
gegen jede Gewaltpolitik erhielt hier seine praktische Konsequenz. Und dann die bei vielen Menschen zur Abkehr von
der Politik führende Enttäuschung: Die Politgrößen der wiedererstandenen Arbeiterbewegung,
eben noch als Volkstribunen vor zigtausenden jungen Gegnern der Remilitarisierung auftretend, machten ihren Burgfrieden
mit dem militärsüchtigen westdeutschen Bürgerblock, der Nazi-Generale anwarb...
Andererseits gerieten die damaligen
außerparlamentarisch-oppositionellen Aktivitäten immer wieder in Schwierigkeiten durch die deutsche
Zweistaatlichkeit.
Naheliegenderweise beteiligten sich westdeutsche
Kommunisten (auch nach dem KPD-Verbot 1956) an diesen Aktivitäten, und die Führungsgruppen der DDR
interessierten sich für die Opposition im anderen deutschen Staat. So fand der propagandistische Vorwurf der
westdeutschen politischen Klasse, die hiesige Opposition betreibe nur das politische Geschäft der Kommunisten bzw.
der DDR, immer wieder Anhaltspunkte. Nur zu oft liefen "Hilfsmaßnahmen" aus der DDR für die
westdeutsche Opposition im Effekt auf das Gegenteil von Unterstützung hinaus, weil sie machttaktisch-instrumentell
angelegt waren und eine Unabhängigkeit der außerparlamentarischen Bewegung in der Bundesrepublik nicht
respektierten.
Die ab 1961 rasch Massenbeteiligung gewinnenden Ostermärsche der Atomwaffengegner (später: Kampagne für
Demokratie und Abrüstung) sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass außerparlamentarische Opposition
aus ihren eigenen Problemerfahrungen lernen kann.
Auch in dieser neuen Phase des demokratischen politischen
Protests wurde um Mitglieder, Funktionäre und Mandatsträger der SPD geworben, und es wurde eifrig daran
gearbeitet, Gewerkschaftsgliederungen für die oppositionellen Standpunkte zu gewinnen. Ebenso offen wurden
Kommunisten zur Unterstützung der Ostermärsche aufgefordert. Aber nach allen Seiten hin wurde die
Unabhängigkeit dieser Kampagne klargestellt da gab es nichts mehr zu kanalisieren oder zu
instrumentalisieren.
Die Ostermärsche regten viele Tausende von
Wissenschaftlern, Pädagogen, Kirchenleuten und Schriftstellern dazu an, sich in aller Öffentlichkeit mit dieser
politischen Sache zu identifizieren. Ein großer Teil der Arbeiterjugendgruppen machte bei dieser Kampagne mit, die
keine "Studentenrevolte" war. Viele kleine politisch-kulturelle Zeitschriften gaben publizistische
Unterstützung (so u.a. die Stimme der Gemeinde, die Werkhefte katholischer Laien, Pläne), auch die
Tageszeitungen Westdeutsches Tageblatt und Nürnberger Nachrichten halfen dabei, die organisierte Nichtbeachtung der
meisten Medien zu durchbrechen. Schon 1964/65 hatten die Ostermärsche eine breite Öffentlichkeit erreicht. Der
Protest gegen die atomare Bewaffnung weitete sich zur Kampagne für Demokratie und Abrüstung aus, andere
Konfliktthemen wurden einbezogen: die Auseinandersetzung mit den geplanten Notstandsgesetzen, die Kritik der
Meinungsmacht des Springer-Konzerns, der Protest gegen den Krieg der USA in Vietnam.
Insofern war "1968" keine überraschende,
jähe Wende in der politischen Geschichte der Bundesrepublik. Nachzudenken ist über die Gründe dafür,
dass die außerparlamentarische Opposition der Zeit vor 1968 weithin der Vergessenheit anheimgefallen ist.
Dass eine stark vom studentischen Milieu geprägte
Rebellion leichter die massenmediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte als die vorhergehenden oppositionellen
Bewegungen, ist plausibel erklärbar: Es galt als sensationell, dass die Kinder des Bürgertums Randale machten.
Aber noch kaum diskutiert ist, ob möglicherweise der mit "1968" sich verbindende Politikstil
längerfristig auch seine nachteiligen Folgen für die gesellschaftliche Opposition in Westdeutschland hatte und
Chancen verschleuderte, die mit den oppositionellen Bewegungen der Jahre davor zustande gekommen waren. "Ablenkung
durch Revolutionskonsum" ist das (ich weiß: verkürzende) Stichwort zu dieser Frage.
Arno Klönne
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