SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2006, Seite 22

Den folgenden Beitrag entnahmen wir dem soeben erschienenen Band Tabus der bundesdeutschen Geschichte, Hannover: Verlag Ossietzky, 2006

Außerparlamentarische Opposition begann nicht erst 1968

Dem derzeit gängigen Geschichtsverständnis nach ist in der Alt-Bundesrepublik eine nennenswerte außerparlamentarische Opposition erstmals in Gestalt der Studentenbewegung um 1968 aufgetreten. In den Jahren davor, so suggeriert es diese Lesart von Geschichte, habe nachhaltiger öffentlicher Protest nicht stattgefunden; die westdeutsche Bevölkerung habe sich in ihrem politischen Engagement aufs Wählen beschränkt und im übrigen den jeweiligen Autoritäten der parteipolitischen Lager disziplinierte Gefolgschaft geleistet. Mit den historischen Realitäten haben solche Annahmen oder Deutungen nichts gemein.

Die 50er Jahre

Schon in den Jahren der Gründung der Bundesrepublik gab es in den industriellen Zentren der britischen und der US-amerikanischen Zone, mit dem Schwerpunkt im Ruhrgebiet, eine Welle von spontanen Streiks und sog. Hungermärschen, organisiert von Betriebsräten, örtlichen Gewerkschaftsgruppen und Aktionsausschüssen. Im März und April 1947 streikten in der Britischen Zone Hunderttausende von Arbeiterinnen und Arbeitern.
Die Besatzungsbehörden versuchten, diese Bewegungen einzudämmen, sie drohten mit Belagerungszustand und Standrecht. Die Gewerkschaftsführungen verhielten sich gegenüber diesem Protest aus der Arbeiterbevölkerung reserviert, die SPD betonte ihre Distanz. Die KPD — vor allem in Nordrhein-Westfalen damals noch ein relevanter politischer Faktor — unterstützte die Demonstrationen, aber diese waren keinesfalls Hervorbringungen kommunistischer Parteitaktik. Antreibend war vielmehr der Zorn über die unzureichende materielle Versorgung, aber auch darüber, dass die alten Inhaber unternehmerischer Macht, die "Kohle- und Stahlbarone", das Heft wieder in die Hand nahmen.
Die demokratisch beschlossene Sozialisierung der Schlüsselindustrien war von den Besatzungsmächten zur Freude des westdeutschen Großbürgertums vereitelt worden; Mitbestimmungsrechte im Betrieb, die von den Belegschaften gleich nach Ende des Krieges durchgesetzt worden waren, wurden schon wieder reduziert. Im Frühjahr und im Herbst 1948 kam es erneut zu größeren spontanen Streiks, im zweiten Zeitraum auch als Reaktion auf die sozialen Ungerechtigkeiten der Währungsreform. Die Gewerkschaftsführungen sahen sich veranlasst, im November 1948 für einen Tag zu einem Generalstreik in der gesamten Bizone anzurufen, um den Unmut an der Basis zu kanalisieren.

Das Dilemma

All diese Vorgänge zeigen: Es gab zu dieser Zeit einen hohen Grad der Bereitschaft zum sozialen und politischen Protest in der Arbeiterbevölkerung — aber zugleich entwickelte sich an der Spitze der Gewerkschaften die Fähigkeit, oppositionelle Bewegungen unter Kontrolle zu bringen, sie zu "zähmen".
Damit ist ein Grundproblem genannt, das sich dann nach der Gründung der Bundesrepublik (1949) bis Anfang der 60er Jahre durch die Geschichte außerparlamentarischer Opposition hindurch zog. Die wichtigsten gesellschafts- und außenpolitischen Weichenstellungen für Westdeutschland riefen jeweils heftige oppositionelle Bewegungen hervor, außerhalb des Parlaments- und Parteienbetriebs und unabhängig von den Operationen der Gewerkschaftsführung: Das gilt für die Restauration kapitalistischer Konzernmacht (in die sich auch das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 einfügte), für die Remilitarisierung Westdeutschlands, die Einbindung in das westliche Militärbündnis und schließlich für den Griff nach atomarer Rüstung.
Die außerparlamentarischen oppositionellen Bewegungen suchten dabei das Bündnis mit den Gewerkschafts"apparaten" und der SPD-Führung; bei diesen Versuchen aber brach sich ihre Eigendynamik, der Protest wurde gebändigt und "verwaltet", dienstbar gemacht für Kompromiss- und Anpassungsstrategien der Gewerkschaftsvorstände und des SPD-Vorstands.
So geschah es in den 50er Jahren zunächst der "Ohne-mich-Bewegung", also dem Protest gegen die Wiederbewaffnung, und dann der Bewegung "Kampf dem Atomtod". Die Gründung der "Gesamtdeutschen Volkspartei" unter Gustav Heinemann und Helene Wessel zielte darauf ab, im Konflikt um die Deutschland- und Militärpolitik dem eben beschriebenen Dilemma durch einen eigenen parteipolitischen Weg zu entgehen; der erhoffte Wahlerfolg stellte sich aber nicht ein.
Unter dem Gesichtspunkt "politischer Sozialisiation" hatten die kanalisierenden und "ruhigstellenden" Eingriffe der Führungen von SPD und Gewerkschaften in die außerparlamentarischen Bewegungen der 50er Jahre höchst nachteilige Folgewirkungen. Insbesondere die Proteste gegen die Remilitarisierung wurden von jungen Menschen in großer Zahl getragen.
Für diese waren sie auch so etwas wie "Aufarbeitung" der Nazi-Vergangenheit; es kam in ihnen die Verachtung jenes "Kommissgeistes" zum Ausdruck, der im hitlerdeutschen Krieg erlebt worden war; der durch bittere Erfahrungen zustande gekommene Widerwille gegen jede Gewaltpolitik erhielt hier seine praktische Konsequenz. Und dann die — bei vielen Menschen zur Abkehr von der Politik führende — Enttäuschung: Die Politgrößen der wiedererstandenen Arbeiterbewegung, eben noch als Volkstribunen vor zigtausenden jungen Gegnern der Remilitarisierung auftretend, machten ihren Burgfrieden mit dem militärsüchtigen westdeutschen Bürgerblock, der Nazi-Generale anwarb...
Andererseits gerieten die damaligen außerparlamentarisch-oppositionellen Aktivitäten immer wieder in Schwierigkeiten durch die deutsche Zweistaatlichkeit.
Naheliegenderweise beteiligten sich westdeutsche Kommunisten (auch nach dem KPD-Verbot 1956) an diesen Aktivitäten, und die Führungsgruppen der DDR interessierten sich für die Opposition im anderen deutschen Staat. So fand der propagandistische Vorwurf der westdeutschen politischen Klasse, die hiesige Opposition betreibe nur das politische Geschäft der Kommunisten bzw. der DDR, immer wieder Anhaltspunkte. Nur zu oft liefen "Hilfsmaßnahmen" aus der DDR für die westdeutsche Opposition im Effekt auf das Gegenteil von Unterstützung hinaus, weil sie machttaktisch-instrumentell angelegt waren und eine Unabhängigkeit der außerparlamentarischen Bewegung in der Bundesrepublik nicht respektierten.

Die 60er Jahre

Die ab 1961 rasch Massenbeteiligung gewinnenden Ostermärsche der Atomwaffengegner (später: Kampagne für Demokratie und Abrüstung) sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass außerparlamentarische Opposition aus ihren eigenen Problemerfahrungen lernen kann.
Auch in dieser neuen Phase des demokratischen politischen Protests wurde um Mitglieder, Funktionäre und Mandatsträger der SPD geworben, und es wurde eifrig daran gearbeitet, Gewerkschaftsgliederungen für die oppositionellen Standpunkte zu gewinnen. Ebenso offen wurden Kommunisten zur Unterstützung der Ostermärsche aufgefordert. Aber nach allen Seiten hin wurde die Unabhängigkeit dieser Kampagne klargestellt — da gab es nichts mehr zu kanalisieren oder zu instrumentalisieren.
Die Ostermärsche regten viele Tausende von Wissenschaftlern, Pädagogen, Kirchenleuten und Schriftstellern dazu an, sich in aller Öffentlichkeit mit dieser politischen Sache zu identifizieren. Ein großer Teil der Arbeiterjugendgruppen machte bei dieser Kampagne mit, die keine "Studentenrevolte" war. Viele kleine politisch-kulturelle Zeitschriften gaben publizistische Unterstützung (so u.a. die Stimme der Gemeinde, die Werkhefte katholischer Laien, Pläne), auch die Tageszeitungen Westdeutsches Tageblatt und Nürnberger Nachrichten halfen dabei, die organisierte Nichtbeachtung der meisten Medien zu durchbrechen. Schon 1964/65 hatten die Ostermärsche eine breite Öffentlichkeit erreicht. Der Protest gegen die atomare Bewaffnung weitete sich zur Kampagne für Demokratie und Abrüstung aus, andere Konfliktthemen wurden einbezogen: die Auseinandersetzung mit den geplanten Notstandsgesetzen, die Kritik der Meinungsmacht des Springer-Konzerns, der Protest gegen den Krieg der USA in Vietnam.
Insofern war "1968" keine überraschende, jähe Wende in der politischen Geschichte der Bundesrepublik. Nachzudenken ist über die Gründe dafür, dass die außerparlamentarische Opposition der Zeit vor 1968 weithin der Vergessenheit anheimgefallen ist.
Dass eine stark vom studentischen Milieu geprägte Rebellion leichter die massenmediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte als die vorhergehenden oppositionellen Bewegungen, ist plausibel erklärbar: Es galt als sensationell, dass die Kinder des Bürgertums Randale machten. Aber noch kaum diskutiert ist, ob möglicherweise der mit "1968" sich verbindende Politikstil längerfristig auch seine nachteiligen Folgen für die gesellschaftliche Opposition in Westdeutschland hatte und Chancen verschleuderte, die mit den oppositionellen Bewegungen der Jahre davor zustande gekommen waren. "Ablenkung durch Revolutionskonsum" ist das (ich weiß: verkürzende) Stichwort zu dieser Frage.

Arno Klönne

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