SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2006, Seite 24

Neue Ausgrabungen verändern unser Geschichtsbild

"Sie bauten die ersten Tempel"

Seit zwanzig Jahren graben türkische und deutsche Archäologen in Anatolien nach den Ursprüngen der europäischen Kultur. Der Leiter der Ausgrabungen in der Nähe der Stadt Urfa, Klaus Schmidt, hat die Ergebnisse dieser Arbeit in einem spannenden Buch dargelegt, das sich an ein breites Publikum wendet. Sein Fazit: Wir müssen an unserem Geschichtsbild manches korrigieren.

Einfache Vorstellungen der Geschichte haben mit Verschwörungstheorien eines gemeinsam: Sie pressen Ausschnitte der historischen Entwicklung in eine genehme Form, um ein Weltbild zu schaffen, das in der Regel die eigene Weltanschauung reproduziert. Das gilt nicht nur für die jüngere Geschichte, sondern erstreckt sich bis zum sog. missing link, der Verbindung zwischen dem Menschen und seinen tierischen Vorfahren. Eine besondere Epoche sowohl der Forschung als auch der Spekulation stellt das Neolithikum dar, also die Zeit, in der Landwirtschaft und Töpferei entwickelt wurden. Bis ins 20.Jahrhundert war der Übergang von der älteren Steinzeit (Paläolithikum) zur jüngeren Steinzeit (Neolithikum) klar. Vor 8000 Jahren begannen demnach die Menschen sich zuerst in Dörfern niederzulassen, erfanden den Gartenbau, die Keramik und starteten so die erste große Revolutionierung des menschlichen Lebens. Andere Zeitgenossen halten an dem Bild fest, dass zu diesem Zeitpunkt der Mensch erst erschaffen wurde.
In den 1950er Jahren stieß die Archäologin Kathleen Kenyon in Jericho auf eine erste Bauschicht, die als jungsteinzeitlich eingeschätzt werden könnte, hätten nicht sämtliche Hinweise auf eine Keramik gefehlt. Andere ähnliche Siedlungsreste wurden entdeckt und nach einem Fundort im Wadi Natuf, Natufien genannt. Diese Siedlungsschichten stammen aus dem 10. und 9.Jahrtausend v.u.Z. und sind somit an die 3000 Jahre älter als die Funde aus "keramischen" Siedlungen, die bisher als Ursprung der Sesshaftigkeit galten.
Eine weitere Auseinandersetzung ist die Frage von Geschichtsepochen und Gesellschaften mit matriarchalischer und mit patriarchalischer Struktur. Kaum mehr angezweifelt wird, dass dies keine lineare Entwicklung war. Doch hartnäckig hält sich das Bild vom jagenden Mann und der mit Gebären, Kinderaufzucht und Haushalt beschäftigten Frau. Während seit langem feministische Studien jagende Frauen belegt haben, tragen sie in der Regel den zweiten Teil der Aussage bis heute mit. So wird, quasi als Spiegelung der eigenen Erfahrungen, auch schon die steinzeitliche Frau zur doppelt belasteten Person. Da liegt der Rückschluss zur alles überragenden gebärenden Göttin nicht weit. So wurde eine Wandmalerei in Catal Höyük, einer ebenfalls durch vorkeramische Kultur gegründete Stadt, von ihren Entdeckern gleich als "gebärende Göttin" gelesen.
Das Dorf als Siedlung, in dem die matriarchalische Führung durch den Ackerbau und Viehzucht betreibenden Mann in Frage gestellt wird, gehört zu diesem Geschichtsbild. Genauso die ersten Städte, die sich aus diesen Dörfern mittels der Herrschaft des Mannes und seiner jetzt über 8000 Jahre alten Kriege entwickelten. Dies sind Sichtweisen, die zunehmend in Frage gestellt werden.
Einer der Mosaiksteine der Problematisierung dieses Geschichtsbilds befindet sich in Südostanatolien in der Nähe von Urfa. Der Göbekli Tepe (Nabelberg) verbarg imposante Bildnisse, die von der Natur abgeschaut sind. Die unterschiedlichen Tierarten müssen im Jagdrevier der Steinzeitmenschen gelebt haben. Die Handwerker schufen die realistischen Werke in einer Zeit, als es weder Metallmeißel noch Hammer gab. Ob Fuchs oder Wildschwein — warum die Abbildungen besonders auf den Pfeilern innerhalb der Mauern so zahlreich auftauchen, lässt sich noch nicht lückenlos nachvollziehen.
Die über 11000 Jahre alten T-förmigen Pfeiler und ihre Verzierungen werfen insgesamt Fragen auf, die noch einige Zeit in Anspruch nehmen werden, bis sie wenigstens zum Teil befriedigend beantwortet sind. Zu einer Zeit, als die Menschen die Landwirtschaft noch nicht erfunden hatten und es noch Tausende von Jahren bis zur ersten Keramik dauert, wurde am Göbekli Tepe ein Ort geschaffen, der so gar nicht dem Bild von "primitiven Gesellschaften" entspricht. Der Bau der Anlage erforderte komplexe Organisationsformen. Klaus Schmidt schätzt, dass bis zu 500 Menschen nötig waren, um die 10 bis 20 Tonnen (im Einzelfall auch 50 Tonnen) schweren Pfeiler in den Steinbrüchen der Umgebung zu brechen und 100—500 Meter weit zu transportieren. Wohngebäude wurden bislang keine gefunden, wohl aber "Sondergebäude", die wahrscheinlich für rituelle Zusammenkünfte genutzt wurden.
Zu Anfang des 8.Jahrtausends v.u.Z. verlor die Anlage ihre Bedeutung. Mit der Durchsetzung einer Gesellschaft, die ihre Lebensmittel vor allem durch Ackerbau und Viehzucht erzeugte, scheinen auch die Kultstätten der Gesellschaft, in der vor allem das Sammeln und Jagen den Lebensunterhalt sicherte, ihre Bedeutung verloren zu haben. Die Anlage ist aber nicht einfach in Vergessenheit geraten und im Laufe der Zeit durch die Kräfte der Natur verschüttet worden. Sie wurde vielmehr planmäßig mit 300—500 m3 Erde zugeschüttet. Warum dies geschah, ist eine der offenen Fragen.
Aber dass auch in diesem Fall lustig klingende Erklärungen daherkommen, war zu erwarten. Eine sehr schöne stammt von Jochen Magerfleisch, dem Autor des Romans Adam, Eva und Co. Er vermutet, dass der Clan Adams seine Hände mit im Spiel hatte und die Verschüttung in engem Zusammenhang mit der "Vertreibung aus dem Paradies" steht.
In einem Buch, das zuweilen spannend wie ein Kriminalroman daherkommt, stellt Schmidt die Funde in den Zusammenhang mit anderen Funden im Bereich des "fruchtbaren Halbmonds", der sich von der syrischen Mittelmeerküste bis zum Persischen Golf erstreckt. Dabei wird den Leserinnen und Lesern nachdrücklich klargemacht, dass "die Reduzierung der neolithischen Symbolwelt auf die Prinzipien Frau, Mann, Leben und Tod vielleicht etwas zu schlicht" ist. "Sollten wir den Menschen der Nacheiszeit nicht ein wenig mehr zutrauen? Verfügten sie nicht möglicherweise doch bereits über entwickelte mythische Bilderwelten, die über den Rahmen der — wenn auch unbezweifelbar hochbedeutenden — Konstanten allen Lebens hinausreichten, sodass sie in ihren Darstellungen nicht immer nur diese hätten monoton wiederholen müssen? Laufen wir nicht Gefahr, uns andernfalls in der Rückspiegelung eigener Vorstellungen vom ‘Primitiven‘ diese Welt à la mode zurechtzudenken? Die hier unvermeidliche Feststellung, dass solche Mythen wohl nie mehr zu rekonstruieren sein werden, mag entmutigen, doch … erlaubt bereits das Betrachten der ‘Kulissen‘ die Feststellung, dass hier einmal ‘großes Theater‘ und nicht nur schlichte Einakter gespielt wurden, auch wenn die Dramaturgie auf immer verloren ist."
Nach einer Einordnung der Funde in die nacheiszeitliche Geschichte beschreibt Schmidt sehr detailliert die einzelnen bisher ausgegrabenen Pfeiler. Dabei warnt er ein ums andere Mal vor voreiligen Interpretationen. Neben den Tierzeichnungen und den Reliefs sind auf den Pfeilern abstrakte Zeichen angebracht, die immer wiederkehren. "Am Göbekli Tepe sind die Zeichen nicht flüchtig in eine Felswand eingeritzt oder auf Kieselsteine aufgemalt, sie sind monumental auf T-Pfeilern in Relieftechnik ausgeführt und in einem Fundkontext angetroffen worden, der dem Bedeutungsgehalt des Wortes hieros — heilig — ohne Zweifel gerecht wird. Diese Zeichen bestehen aus konkreten wie abstrakten Motiven. Sie sind in einer Weise aneinandergereiht, die eine logische Verknüpfung der Zeichenfolge sehr wahrscheinlich macht."
Also nicht nur Bauten, die in diesem Umfang in so früher Zeit nicht vermutet wurden, sondern auch noch Vorformen einer Schrift in einer Gesellschaft, deren Bild vom knüppelschwingenden Unhold nur schwer getilgt werden kann. Aber auch die "gebärende Göttin" stellt Schmidt in Frage. Die Zeichnung, die der Archäologe James Meelart in Catal Höyük anfertigte, besitzt weder Kopf noch Hände oder Füße. Dabei ähnelt sie so sehr dem Hochrelief eines reptilförmigen Tieres, das am Göbekli Tepe gefunden wurde. Interessant ist, dass der Mensch auf den 30000 Jahre alten Felszeichnugen, etwa im Süden Frankreichs eine größere Rolle spielt, als bei den jüngeren Reliefs am Göbekli Tepe. Hier finden wir fast ausschließlich Tiermotive: Schlangen sind das häufigste Motiv, gefolgt vom Fuchs. Spinnen sind abgebildet, die sich auch im keramischen Neolithikum wiederfinden.
Im letzten Teil des Buches wagt sich Klaus Schmidt an eine erste Interpretation. Hier beweist er, dass die Archäologie nicht nur auf penibel akribische Kleinarbeit angewiesen ist, sondern auch intelligente Fantasie gefragt ist. Klaus Schmidt als bekennender "Nicht- Esoteriker" wagt sich erfreulicherweise selten zu weit in das Reich der Spekulation. Allerdings gibt es auch bei ihm Sichtweisen, die hinterfragt werden müssen. So spricht er von einer Initiation in der Steinzeit, in der "dem altsteinzeitlichen Knaben … noch so manche Folter im Ritus nicht erspart" blieb. Weder ist ein solcher Ritus, noch seine folterartige Durchführung durch nur eine Ausgrabung belegt.
Dennoch spricht sehr vieles für seine Sichtweise, nach der die Ausgrabungsstätte ein Treffpunkt verschiedener Wildbeuterclans war. Denn diese haben wohl aus kaum mehr als dreißig Personen bestanden. Außerdem ist ihm in seiner Ansicht zu folgen, dass zum Zweck der Errichtung dieser Kunstwerke, Mitglieder der Gesellschaften von der Arbeit, die den Lebensunterhalt sicherte, freigestellt wurden, und dies wahrscheinlich sogar über einen längeren Zeitraum. Die Kultstätte als Ort, an dem sich verschiedene Clans treffen? Das legt nahe, dass dies ebenfalls ein Ort war, an dem Erfahrungen und Güter ausgetauscht wurden. So nähert sich Schmidt den unter Althistorikern als Provokation verstandenen Thesen von Lewis Mumford, nach denen nicht das Dorf der historische Ursprung der Stadt gewesen sei, sondern der Versammlungsplatz bzw. das Heiligtum. Die neueren Forschungen auch zu Catal Höyük, ebenso wie zu Göbekli Tepe, haben allerdings Kult und Wohnstätte der Menschheit zu Tage gebracht, die in das Schema Dorf—Stadt sehr wenig passen. Ob am Göbekli Tepe nun eine Kultstätte bestanden hat und welcher Kult dort ausgeübt wurde, ist noch lange nicht geklärt, aber mit Sie bauten die ersten Tempel liegt ein reich illustriertes Buch über eine Ausgrabung vor, die unser Geschichtsbild nachhaltig verändern wird.

Thomas Schroedter

Klaus Schmidt: Sie bauten die ersten Tempel, München: C.H.Beck, 2005, 282 Seiten, mit 106 Abbildungen, 2 Karten, 24,90 Euro



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