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Seit zwanzig Jahren graben türkische und deutsche Archäologen in Anatolien nach
den Ursprüngen der europäischen Kultur. Der Leiter der Ausgrabungen in der Nähe der Stadt Urfa, Klaus
Schmidt, hat die Ergebnisse dieser Arbeit in einem spannenden Buch dargelegt, das sich an ein breites Publikum wendet.
Sein Fazit: Wir müssen an unserem Geschichtsbild manches korrigieren.
Einfache Vorstellungen der Geschichte haben mit Verschwörungstheorien eines gemeinsam: Sie pressen
Ausschnitte der historischen Entwicklung in eine genehme Form, um ein Weltbild zu schaffen, das in der Regel die eigene
Weltanschauung reproduziert. Das gilt nicht nur für die jüngere Geschichte, sondern erstreckt sich bis zum sog.
missing link, der Verbindung zwischen dem Menschen und seinen tierischen Vorfahren. Eine besondere Epoche sowohl der
Forschung als auch der Spekulation stellt das Neolithikum dar, also die Zeit, in der Landwirtschaft und Töpferei
entwickelt wurden. Bis ins 20.Jahrhundert war der Übergang von der älteren Steinzeit (Paläolithikum) zur
jüngeren Steinzeit (Neolithikum) klar. Vor 8000 Jahren begannen demnach die Menschen sich zuerst in Dörfern
niederzulassen, erfanden den Gartenbau, die Keramik und starteten so die erste große Revolutionierung des
menschlichen Lebens. Andere Zeitgenossen halten an dem Bild fest, dass zu diesem Zeitpunkt der Mensch erst erschaffen
wurde.
In den 1950er Jahren stieß die Archäologin
Kathleen Kenyon in Jericho auf eine erste Bauschicht, die als jungsteinzeitlich eingeschätzt werden könnte,
hätten nicht sämtliche Hinweise auf eine Keramik gefehlt. Andere ähnliche Siedlungsreste wurden entdeckt
und nach einem Fundort im Wadi Natuf, Natufien genannt. Diese Siedlungsschichten stammen aus dem 10. und 9.Jahrtausend
v.u.Z. und sind somit an die 3000 Jahre älter als die Funde aus "keramischen" Siedlungen, die bisher als
Ursprung der Sesshaftigkeit galten.
Eine weitere Auseinandersetzung ist die Frage von
Geschichtsepochen und Gesellschaften mit matriarchalischer und mit patriarchalischer Struktur. Kaum mehr angezweifelt
wird, dass dies keine lineare Entwicklung war. Doch hartnäckig hält sich das Bild vom jagenden Mann und der mit
Gebären, Kinderaufzucht und Haushalt beschäftigten Frau. Während seit langem feministische Studien jagende
Frauen belegt haben, tragen sie in der Regel den zweiten Teil der Aussage bis heute mit. So wird, quasi als Spiegelung
der eigenen Erfahrungen, auch schon die steinzeitliche Frau zur doppelt belasteten Person. Da liegt der Rückschluss
zur alles überragenden gebärenden Göttin nicht weit. So wurde eine Wandmalerei in Catal Höyük,
einer ebenfalls durch vorkeramische Kultur gegründete Stadt, von ihren Entdeckern gleich als "gebärende
Göttin" gelesen.
Das Dorf als Siedlung, in dem die matriarchalische
Führung durch den Ackerbau und Viehzucht betreibenden Mann in Frage gestellt wird, gehört zu diesem
Geschichtsbild. Genauso die ersten Städte, die sich aus diesen Dörfern mittels der Herrschaft des Mannes und
seiner jetzt über 8000 Jahre alten Kriege entwickelten. Dies sind Sichtweisen, die zunehmend in Frage gestellt
werden.
Einer der Mosaiksteine der Problematisierung dieses
Geschichtsbilds befindet sich in Südostanatolien in der Nähe von Urfa. Der Göbekli Tepe (Nabelberg)
verbarg imposante Bildnisse, die von der Natur abgeschaut sind. Die unterschiedlichen Tierarten müssen im Jagdrevier
der Steinzeitmenschen gelebt haben. Die Handwerker schufen die realistischen Werke in einer Zeit, als es weder
Metallmeißel noch Hammer gab. Ob Fuchs oder Wildschwein warum die Abbildungen besonders auf den Pfeilern
innerhalb der Mauern so zahlreich auftauchen, lässt sich noch nicht lückenlos nachvollziehen.
Die über 11000 Jahre alten T-förmigen Pfeiler
und ihre Verzierungen werfen insgesamt Fragen auf, die noch einige Zeit in Anspruch nehmen werden, bis sie wenigstens zum
Teil befriedigend beantwortet sind. Zu einer Zeit, als die Menschen die Landwirtschaft noch nicht erfunden hatten und es
noch Tausende von Jahren bis zur ersten Keramik dauert, wurde am Göbekli Tepe ein Ort geschaffen, der so gar nicht
dem Bild von "primitiven Gesellschaften" entspricht. Der Bau der Anlage erforderte komplexe
Organisationsformen. Klaus Schmidt schätzt, dass bis zu 500 Menschen nötig waren, um die 10 bis 20 Tonnen (im
Einzelfall auch 50 Tonnen) schweren Pfeiler in den Steinbrüchen der Umgebung zu brechen und 100500 Meter weit
zu transportieren. Wohngebäude wurden bislang keine gefunden, wohl aber "Sondergebäude", die
wahrscheinlich für rituelle Zusammenkünfte genutzt wurden.
Zu Anfang des 8.Jahrtausends v.u.Z. verlor die Anlage
ihre Bedeutung. Mit der Durchsetzung einer Gesellschaft, die ihre Lebensmittel vor allem durch Ackerbau und Viehzucht
erzeugte, scheinen auch die Kultstätten der Gesellschaft, in der vor allem das Sammeln und Jagen den Lebensunterhalt
sicherte, ihre Bedeutung verloren zu haben. Die Anlage ist aber nicht einfach in Vergessenheit geraten und im Laufe der
Zeit durch die Kräfte der Natur verschüttet worden. Sie wurde vielmehr planmäßig mit 300500 m3
Erde zugeschüttet. Warum dies geschah, ist eine der offenen Fragen.
Aber dass auch in diesem Fall lustig klingende
Erklärungen daherkommen, war zu erwarten. Eine sehr schöne stammt von Jochen Magerfleisch, dem Autor des Romans
Adam, Eva und Co. Er vermutet, dass der Clan Adams seine Hände mit im Spiel hatte und die Verschüttung in engem
Zusammenhang mit der "Vertreibung aus dem Paradies" steht.
In einem Buch, das zuweilen spannend wie ein
Kriminalroman daherkommt, stellt Schmidt die Funde in den Zusammenhang mit anderen Funden im Bereich des
"fruchtbaren Halbmonds", der sich von der syrischen Mittelmeerküste bis zum Persischen Golf erstreckt.
Dabei wird den Leserinnen und Lesern nachdrücklich klargemacht, dass "die Reduzierung der neolithischen
Symbolwelt auf die Prinzipien Frau, Mann, Leben und Tod vielleicht etwas zu schlicht" ist. "Sollten wir den
Menschen der Nacheiszeit nicht ein wenig mehr zutrauen? Verfügten sie nicht möglicherweise doch bereits
über entwickelte mythische Bilderwelten, die über den Rahmen der wenn auch unbezweifelbar
hochbedeutenden Konstanten allen Lebens hinausreichten, sodass sie in ihren Darstellungen nicht immer nur diese
hätten monoton wiederholen müssen? Laufen wir nicht Gefahr, uns andernfalls in der Rückspiegelung eigener
Vorstellungen vom Primitiven diese Welt à la mode zurechtzudenken? Die hier unvermeidliche Feststellung,
dass solche Mythen wohl nie mehr zu rekonstruieren sein werden, mag entmutigen, doch … erlaubt bereits das
Betrachten der Kulissen die Feststellung, dass hier einmal großes Theater und nicht nur
schlichte Einakter gespielt wurden, auch wenn die Dramaturgie auf immer verloren ist."
Nach einer Einordnung der Funde in die nacheiszeitliche
Geschichte beschreibt Schmidt sehr detailliert die einzelnen bisher ausgegrabenen Pfeiler. Dabei warnt er ein ums andere
Mal vor voreiligen Interpretationen. Neben den Tierzeichnungen und den Reliefs sind auf den Pfeilern abstrakte Zeichen
angebracht, die immer wiederkehren. "Am Göbekli Tepe sind die Zeichen nicht flüchtig in eine Felswand
eingeritzt oder auf Kieselsteine aufgemalt, sie sind monumental auf T-Pfeilern in Relieftechnik ausgeführt und in
einem Fundkontext angetroffen worden, der dem Bedeutungsgehalt des Wortes hieros heilig ohne Zweifel
gerecht wird. Diese Zeichen bestehen aus konkreten wie abstrakten Motiven. Sie sind in einer Weise aneinandergereiht, die
eine logische Verknüpfung der Zeichenfolge sehr wahrscheinlich macht."
Also nicht nur Bauten, die in diesem Umfang in so
früher Zeit nicht vermutet wurden, sondern auch noch Vorformen einer Schrift in einer Gesellschaft, deren Bild vom
knüppelschwingenden Unhold nur schwer getilgt werden kann. Aber auch die "gebärende Göttin"
stellt Schmidt in Frage. Die Zeichnung, die der Archäologe James Meelart in Catal Höyük anfertigte,
besitzt weder Kopf noch Hände oder Füße. Dabei ähnelt sie so sehr dem Hochrelief eines
reptilförmigen Tieres, das am Göbekli Tepe gefunden wurde. Interessant ist, dass der Mensch auf den 30000 Jahre
alten Felszeichnugen, etwa im Süden Frankreichs eine größere Rolle spielt, als bei den jüngeren
Reliefs am Göbekli Tepe. Hier finden wir fast ausschließlich Tiermotive: Schlangen sind das häufigste
Motiv, gefolgt vom Fuchs. Spinnen sind abgebildet, die sich auch im keramischen Neolithikum wiederfinden.
Im letzten Teil des Buches wagt sich Klaus Schmidt an
eine erste Interpretation. Hier beweist er, dass die Archäologie nicht nur auf penibel akribische Kleinarbeit
angewiesen ist, sondern auch intelligente Fantasie gefragt ist. Klaus Schmidt als bekennender "Nicht-
Esoteriker" wagt sich erfreulicherweise selten zu weit in das Reich der Spekulation. Allerdings gibt es auch bei ihm
Sichtweisen, die hinterfragt werden müssen. So spricht er von einer Initiation in der Steinzeit, in der "dem
altsteinzeitlichen Knaben … noch so manche Folter im Ritus nicht erspart" blieb. Weder ist ein solcher Ritus,
noch seine folterartige Durchführung durch nur eine Ausgrabung belegt.
Dennoch spricht sehr vieles für seine Sichtweise,
nach der die Ausgrabungsstätte ein Treffpunkt verschiedener Wildbeuterclans war. Denn diese haben wohl aus kaum mehr
als dreißig Personen bestanden. Außerdem ist ihm in seiner Ansicht zu folgen, dass zum Zweck der Errichtung
dieser Kunstwerke, Mitglieder der Gesellschaften von der Arbeit, die den Lebensunterhalt sicherte, freigestellt wurden,
und dies wahrscheinlich sogar über einen längeren Zeitraum. Die Kultstätte als Ort, an dem sich
verschiedene Clans treffen? Das legt nahe, dass dies ebenfalls ein Ort war, an dem Erfahrungen und Güter
ausgetauscht wurden. So nähert sich Schmidt den unter Althistorikern als Provokation verstandenen Thesen von Lewis
Mumford, nach denen nicht das Dorf der historische Ursprung der Stadt gewesen sei, sondern der Versammlungsplatz bzw. das
Heiligtum. Die neueren Forschungen auch zu Catal Höyük, ebenso wie zu Göbekli Tepe, haben allerdings Kult
und Wohnstätte der Menschheit zu Tage gebracht, die in das Schema DorfStadt sehr wenig passen. Ob am
Göbekli Tepe nun eine Kultstätte bestanden hat und welcher Kult dort ausgeübt wurde, ist noch lange nicht
geklärt, aber mit Sie bauten die ersten Tempel liegt ein reich illustriertes Buch über eine Ausgrabung vor, die
unser Geschichtsbild nachhaltig verändern wird.
Thomas Schroedter
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