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Über die Jahrzehnte hinweg hat sich der Historiker Karl Heinz Roth mit
seinen politischen Interventionen einen besonderen Platz auf der deutschen Linken erarbeitet.
Als im Frühjahr 2004 der
außerparlamentarische Kampf gegen die Agenda 2010 die Hoffnungen vieler beflügelte, intervenierte
Roth mit einem vielbeachteten Beitrag zum deutschen Sozialkahlschlag und den Perspektiven einer radikalen
Linken (vgl. SoZ 5/04). Vor einem Jahr, die kleine APO war von der Straße verschwunden, die Hoffnungen
waren auf die Formierung der neuen Wahlalternative gerichtet, vertiefte Roth seine Thesen mit einem kleinen
Büchlein zum Zustand der Welt (vgl. SoZ 9/05), in dem er auf diesen Formierungsprozess jedoch nur am
Rande einging.
Nun, ein weiteres Jahr später, hat er
sich erneut mit einem längeren Beitrag zu Wort gemeldet und warnt vor der vor uns stehenden
großen Desillusionierung, "weil der Weg der vereinigten Linkspartei mit sozialistischen
Perspektiven nichts zu tun hat". Ein hartes Urteil, das nicht wenige empört zurückweisen
werden, die sich in diesem Neuformierungsprozess, so oder so, engagieren.
Abermals bezeugt Roth jedoch ein
Problembewusstsein, das ernst genommen und diskutiert werden sollte. Zu diesem Zweck sollen seine Thesen
hier zumindest kurz vorgestellt werden.
Die Exponenten und Funktionäre der im
Aufbau befindlichen neuen Linkspartei hätten, so Roth, das herausragende Bundestagswahlergebnis der
Bündnisliste von LPDS und WASG im vergangenen September als "Ermächtigung" benutzt,
"das Wahlbündnis so zügig wie möglich in eine den Normen der repräsentativen
Demokratie unterworfene politische Partei umzuwandeln und der neuen Bundestagsfraktion einen entsprechenden
politischen Unterbau zu verschaffen". Trotz erheblicher Kritik aus den Reihen sowohl der
WASG wie der LPDS hätten diese Führungsgruppen damit an einem Kurs festgehalten, mit dem sie
"wesentliche Kräfte des jüngsten sozialen Aufbruchs aus dem politischen Formierungsprozess
aus[schließen]": "Sie zerstören in diesen Wochen die vor etwa zwei Jahren aufgekeimten
Hoffnungen auf eine Konsolidierung des sozialen Widerstands gegen die Folgen des gegenwärtigen
kapitalistischen Zyklus. Für viele beginnt jetzt einmal mehr eine Periode des Rückzugs, der
Schadensbegrenzung und der Suche nach alternativen Wegen."
Doch was genau ist da eigentlich schief
gegangen, in der Sicht von Karl Heinz Roth? Da der "soziale Widerstand zwischen Rhein und Oder ...
über zersplitterte Regungen und Manifestationen einfach nicht hinauskommen will", sei die
Formierung zur neuen Linkspartei wesentlich eine Sache von Führungs- und Funktionseliten, genauer: von
zwei ganz bestimmten.
Im Osten Deutschlands haben wir jene Intellektuellen und politischen Kader, die durch den Anschluss mehr
oder weniger latent ausgegrenzt wurden und sich daraufhin in den Nischen der neuen ostdeutschen
Behördenstrukturen und parlamentarischen Körperschaften, in den Kommunal- und Kreisverwaltungen,
eine Möglichkeit gesichert haben, ihre "anhaltende Marginalisierung zu konterkarieren, den Status
einer nachgeordneten Elite des Anschlussgebiets zu überwinden und schließlich in Augenhöhe
anzukommen. Dem PDS-Archipel sind inzwischen etwa 8000 bis 10000 Kader zuzurechnen, die sich in
der ostdeutschen Exekutive und Legislative gut etabliert haben und mit ihrem autoritären
Effizienzdenken die sozialökonomischen Deregulierungsprozesse umzusetzen helfen." Im Westen sind
es die gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen "Traditionskeynesianer", die mit der
Aufkündigung des Klassenkompromisses ihre soziale und politische Grundlage als Funktionselite dieses
Sozialkompromisses verloren haben.
Der soziale wie politische Charakter beider
Funktionseliten werde von der tiefgreifenden Krise der Lohnarbeitsgesellschaft geprägt, und beide
fordern in dieser Krisensituation keine revolutionäre Abkehr von der Arbeitsgesellschaft, sondern die
Erneuerung des Sozialstaats: "Auf die disziplinierende Ethik der kapitalistisch verwerteten
Arbeitsverausgabung mögen sie beide nicht verzichten. Für die gewerkschaftlichen Keynesianer ist
und bleibt die Lohnarbeitsgesellschaft elementare Grundlage ihrer Bemühungen um die Re-
Regulierung des Sozialen, und das sicher auch deshalb, weil sie dadurch auch selbst als
Tarifspezialisten und Arbeitsmarktpolitiker wieder re-reguliert werden."
Roth sieht in der programmatischen
Begrenzung auf die Re-Regulation des deregulierten Kapitalismus ein Festhalten am klassisch
sozialdemokratischen Integrationsmodell des nachfrage- und beschäftigungsaktivierenden Sozialstaat,
der über einen sozialen Liberalismus nicht hinauskomme, während es Sozialisten doch darum gehen
müsse, ein "handlungsorientiertes Gesellschaftsmodell" zu entwickeln, "das normativ auf
die Selbstbefreiung all jener Menschen fokussiert ist, die ihr Arbeitsvermögen entäußern
oder feilhalten müssen, um leben zu können. Diese Selbstemanzipation ist nur möglich, wenn
die Ausgebeuteten sich die bislang vom Kapital vergegenständlichten materiellen Voraussetzungen ihres
Lebens sozial aneignen und in demokratische Selbstverwaltung übernehmen."
Gegen den vermeintlich vorherrschenden Mix
aus sozialer Marktwirtschaft und gemäßigtem Keynesianismus stellt er die Abkehr "von den
Vorstellungen eines sozialstaatlichen Zurück zur Lohnarbeitsgesellschaft und einer damit
verknüpften Wiederherstellung ihrer kollektiven Repräsentationen in Gestalt von nationaler
Einheitsgewerkschaft und politischer Partei", denn ein neuer keynesianischer Sozialstaat sei nur
jenseits des Nationalstaates, nur weltweit denkbar und entsprechend utopisch.
Die von Roth dagegen geforderte
Klassenformierung von unten setzt stattdessen auf soziale Aneignungsprozesse, die wesentlich auf der
kommunalen Ebene abzulaufen haben, und zentriert sich um die Übergangsforderungen "Umverteilung
der Arbeit durch radikale Arbeitszeitverkürzung, Existenzsicherung durch die Durchsetzung
obligatorischer Mindestlöhne und Überwindung des normativen Arbeitszwangs durch die
Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens".
Denkbar ist ein solcher Prozess allerdings
nur, "wenn sich die drei derzeit vorhandenen Impulsgeber (neue Sozialbewegungen, der linke Flügel
der alten gewerkschaftlichen Sozialbewegungen und die verschiedenen sozialistischen
Gruppierungen des politischen Felds) auf ihn verständigen". Doch danach sehe es wegen der
tiefsitzenden und kaum überwindbaren Ressentiments und der sozialen und politischen Interessen der
beiden Funktionseliten nun nicht mehr aus.
Auch wenn man den Neuformierungsprozess
für gleichermaßen widersprüchlicher und offener hält; auch wenn man Roths Pessimismus
deswegen als tendenziell voreilig betrachten mag; auch wenn man selbst einiges gegen einzelne Theoreme
Roths einzuwenden hätte und bspw. massive Probleme mit jenem notorischen Antiinstitutionalismus hat,
der ihn immer wieder die realgeschichtlichen Vermittlungsprobleme von Theorie und Praxis unzulässig
und hilflos verkürzen lässt seine Analyse der sozialen und politischen Motive und
Strategien der "Alternativeliten" bietet eine überaus interessante Erklärung für
die Blockierungen des Neuformierungsprozess der deutschen Linken.
Es scheint nicht untypisch zu sein, dass im
selben Supplement Joachim Bischoff und Christoph Lieber eine umfangreiche Antwort an Roth
veröffentlichen, die die zentralen Fragen nach dem organisatorischen und politisch-programmatischen
Charakter der aufzubauenden Bewegung umgehen. Sie flüchten sich (ausgesprochen weitschweifig) auf jene
Metaebene, wo es um den Nationalstaat als solchen, das postfordistische Akkumulationsregime usw.usf. geht,
ohne dies jedoch mit den konkret aufgeworfenen Fragen des Parteibildungsprozesses zu vermitteln. So gelingt
ihnen die eine und andere Teilkritik, das Ganze verfehlen sie jedoch. Auch dies nicht untypisch für
die Debatten um die Neuformierung.
Christoph Jünke
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