SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2006, Seite 15

>USA - Führungsloser Mainstream

Der Mehrheitsmeinung fehlt eine politische Vertretung

Selten klaffen die veröffentlichte Meinung und die tatsächliche Mehrheitsmeinung so auseinander wie in den USA.

Der Town Meeting Day in Vermont ist einer der seltenen Momente, wo Demokratie wirklich stattfindet. An diesem Tag ist es Tradition in den Staaten Neu-Englands, dass die Bewohner zusammenkommen, um Haushalte zu verabschieden und Prioritäten zu setzen. Im vergangenen März beschlossen die guten Leute von Hubbardton, 20000 Dollar auszugeben, um das Dach einer Garage zu ersetzen. In Waterbury-Duxbury wurde entschieden, die erforderlichen 97200 Dollar für einen neuen Theatervorhang nicht aufzubringen, und die Bewohner in Middlesex sprachen sich gegen neue Wahlmaschinen aus.
Fünf kleine Vermonter Gemeinden beschlossen mehrheitlich George Bush anzuklagen, weil er über den angeblichen irakischen Besitz von Massenvernichtungswaffen Lügen verbreitet und Folter genehmigt hat. Die Einwohner von Newfane stimmten mit 121 zu 29 Stimmen dafür, den einzigen Vertreter des Staates im Repräsentantenhaus zu beauftragen, Anklage gegen den Präsidenten einzureichen, weil er die Nation mit dem Krieg in den Irak in die Irre geführt und illegale Bespitzelung im Inland betrieben habe. "Das geht uns hier am Ort direkt an", so ein Bewohner. "Es sind unsere Söhne und Töchter, unsere Väter und Mütter, die sterben."
Vermont lässt sich leicht als schrullige Ausnahme abtun. Der Bundesstaat, der zusammen mit Maine bei den Wahlen von 1936, als Franklin D. Roosevelt einen erdrutschartigen Sieg davontrug, als einziger gegen ihn gestimmt hatte, lässt sich kaum als ein Vorreiter bezeichnen. Aber die Stimmen dieser kleinen Gemeinden — von denen wenige mehr als 2000 Seelen zählen — enthüllen eine in der Bevölkerung verbreitete Enttäuschung über den Präsidenten und den Krieg im Irak. Doch die Stimmung muss darum kämpfen, einen politischen Ausdruck zu finden.
Eine jüngste Umfrage zeigt, dass 51% der Befragten dafür sind, Bush anzuklagen, sollte er in Bezug auf den Irak gelogen haben. Das ist ein höherer Prozentsatz als bei Bill Clintons Affäre mit Monica Lewinsky. Solche Stimmen hört man auf lokaler Ebene immer häufiger. Aber auch nur eine Minderheit von Politikern zu finden, die ihnen auf nationaler Ebene Ausdruck verleihen, ist nahezu unmöglich.
Eine bemerkenswerte Ausnahme ist Russ Feingold. Der Senator aus Wisconsin brachte jüngst einen Misstrauensantrag gegen den Präsidenten ein, weil dieser illegal Telefone hatte anzapfen lassen, ohne eine gerichtliche Genehmigung einzuholen. Eine Umfrage ergab eine knappe Mehrheit in der Bevölkerung für einen solchen Misstrauensantrag. Die Antwort der Demokratischen Partei darauf war peinliches Schweigen.
Auf den Antrag angesprochen, sagte Senator Barack Obama aus Illinois: "Ich habe ihn nicht gelesen." Der frühere Präsidentschaftskandidat John Kerry äußerte: "Ich kann da jetzt wirklich nichts zu sagen." In den drei Jahren, in denen ich jetzt aus Amerika berichte, war dies der hervorstechende Zug in den politischen Verhältnisse: die Diskrepanz zwischen der politischen Kultur der Bevölkerung und der der politischen Klasse. Die Meinungen der Bevölkerungsmehrheit spiegeln sich in der Mainstream-Politik nicht wieder. Die Amerikaner führen bereichernde und progressive Gespräche, die einfach nicht in die Medien oder in den Kongress gelangen und somit selten im eigenen Land oder im Ausland vernehmbar sind.
Wenige Monate, nachdem ich im Januar 2003 in die USA gekommen war, hatten die Republikaner zusätzliche Sitze im Senat errungen und das Repräsentantenhaus fest im Griff. Sie kontrollierten alle staatlichen Institutionen, mit Ausnahme der Justiz, die dennoch die demokratischen Wünsche der Bewohner Floridas ignorierte und Bush inthronisierte. Aber das Bild war damit nicht das vollständige. Ich wusste, dass eine Menge Amerikaner gegen Bushs Politik war. Was ich jedoch nicht begriffen hatte, bevor ich hierher kam, war, dass ihre Anzahl bereits eine kritische Masse erreicht hatte, die sich mehr und mehr in eine ansehnliche radikale Stimmung verwandelte — ohne Führer, Partei oder andere Anzeichen eines organisatorischen Zusammenhalts.
Als ich hier eintraf, hatten 72 Stadtparlamente, darunter Philadelphia, Austin, Chicago, Baltimore und Cleveland, Antikriegsresolutionen verabschiedet. Die Mitgliedschaft in der bekanntesten Bürgerrechtsorganisation des Landes, der American Civil Liberties Union (ACLU), ist seit 2001 um ein Fünftel gestiegen. Die Mitgliedschaft im Umweltschutzverband Sierra Club ist seit 2000 um 16% gestiegen. Die Leserschaft der linksgerichteten Zeitung The Nation hat sich verdoppelt. Umfragen zeigten, dass nur eine Minderheit der Bevölkerung den Krieg im Irak ohne UNO-Deckung unterstützte.
Doch die ganze Stimmungsmache — die Medien, das Flaggenschwenken, der Truppenaufmarsch — suggerierte eine unkritische und anscheinend unbeirrbare Unterstützung für den Krieg, für Bush und alles damit Verbundene. Es war ein ständiger Kampf, die mediale Version der Realität mit dem in Übereinstimmung zu bringen, was in den USA wirklich vor sich ging. In fast jeder zentralen Frage, vom Krieg bis zur Anklage gegen den Präsidenten, ist die Nation zutiefst gespalten. Wenn es wirklich antiamerikanisch ist, gegen Bush zu sein und gegen das, wofür er steht, wie die Rechte behauptet, dann macht sich die Hälfte der Nation dessen schuldig.
Dies ist nicht die übliche, wenngleich gerechtfertigte Klage darüber, Anliegen und Kämpfe der Basis würden in den Medien nicht berücksichtigt. Hier geschieht Fragwürdigeres. Es waren nicht nur Minderheitsmeinungen, von denen ich fühlte, man müsse sie an die Öffentlichkeit bringen. Mehr und mehr werden Kampagnen und Ansichten marginalisiert, die eine Mehrheit der Bevölkerung vertritt. Ein verbreitetes und ermutigend fortschrittliches öffentliches Bewusstsein wird aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt, noch bevor es sich richtig herausgebildet hat. Kommentatoren und Politiker schreiben die Geschichte um, bevor die Ereignisse sich ereignet haben.
Das ist nicht einfach Wunschdenken meinerseits. Wenn die gesamte Nation sich von einem gewaltigen militaristischen Taumel hätte ergreifen lassen, hätte mich dies traurig gemacht, aber es hätte mich nicht überrascht. Doch fast überall, wo ich hinging, stellte ich eindeutig Spannungen im lokalen politischen und kulturellen Gewebe fest, die sich auch auf nationaler Ebene bemerkbar machten.
Rocky Anderson, der Bürgermeister von Salt Lake City — der größten Stadt in Utah, dem republikanischsten aller Bundesstaaten —, ist für die Schwulenehe und gegen den Krieg und setzt sich dafür ein, dass die städtischen Fahrzeuge auf alternative Treibstoffe umgerüstet werden, um bis 2012 die Anforderungen des Kyoto-Protokolls zu erfüllen. "Man muss standfest bleiben, auch auf die Gefahr hin, Wahlen zu verlieren", sagte er mir. "Manche Dinge sind wichtiger als Wahlsiege." Aber er hat weiterhin Erfolg.
Die Schwulen-Gemeinde in Springfield, Missouri, leistet Widerstand gegen Homophobie. "Wir machten eine Haus-zu-Haus-Kampagne", sagt Randy Doennig, der Vorsitzende von Promo, der örtlichen Gruppe für die Rechte der Schwulen. Damit mobilisierten sie gegen ein Referendum, mit dem gleichgeschlechtliche Ehen in Missouri verboten werden sollten. "Das war das erste Mal, das wir so eine Kampagne geführt haben. Sie haben uns bisher nicht ernst genommen, weil wir sie nicht aufgefordert haben, uns ernst zu nehmen."
Es gibt eine effektive, aktive Opposition. Aber da sie kein Sprachrohr im politischen Establishment findet, taucht sie entweder auf der Straße auf — wie jüngst die gewaltigen Demonstrationen gegen die Einwanderungsgesetze; bei Meinungsumfragen — die Opposition gegen den Krieg wächst weiter, während die Unterstützung für Bush weiter abnimmt; oder in einzelnen Akten wie Howard Deans Kandidatur bei den demokratischen Vorwahlen.
Diese Bewegungen umfassen keine Mehrheit, sondern eine stimmgewaltige, engagierte und energische Minderheit, die in der Lage ist, eine große Anzahl für eine Sache zu mobilisieren, an die sie glaubt. Das macht die christliche Rechte auch. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied. Die christliche Rechte ist mit einer Partei verbunden, die ein strategisches Konzept von der Kräftekoalition hat, die sie für den Gewinn und den Erhalt der Macht benötigt, und die die Notwendigkeit versteht, mit ihrer Basis eine symbiotische Beziehung einzugehen. Die Progressiven tun dies nicht.
Am Fehlen dieses wahlpolitischen Einflusses sind zwei Dinge bemerkenswert; das gewaltige Potenzial für den Aufbau einer progressiven Alternative zur Bush-Politik und die Unfähigkeit der Demokraten, davon zu profitieren. Von Neuenglands Radikalen in Vermonts Rathäusern bis zu den "Sans Papiers" auf den Straßen von Los Angeles gibt es eine ermutigende Konstellation sozialer Bewegungen, die jedoch ohne Führung sind. Die Antwort der Demokratischen Partei auf Russ Feingolds Misstrauensantrag zeigt, dass die formale Opposition keine Grundsätze hat und opportunistisch ist. Erstere haben Bush verwundbar gemacht, letztere glauben, er sei unbesiegbar.

Gary Younge

Gary Younge ist seit 2003 Korrespondent des Londoner Guardian in New York. (Übersetzung: Hans- Günter Mull.)



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