SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2006, Seite 23

Mexiko

In die Vergangenheit gestürmt

Kurz vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zeigt der mexikanische Staat zeigt wiedern sein repressives Gesicht. Das Vorgehen gegen sozialen Widerstand erinnert viele an den Staatsterrorismus Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre.

Am 3.Mai kamen Mitglieder des "Volksbündnisses zur Verteidigung des Landes" (FPDT) aus der Kleinstadt San Salvador Atenco Blumenhändlern im Nachbarort Texcoco zur Hilfe, die von der Polizei geräumt worden waren. In dem nahe Mexiko-Stadt gelegenen Atenco spielte sich wenig später eine lange Straßenschlacht zwischen Sicherheitskräften und FPDT-Mitgliedern ab. Ein unbeteiligter 14- jähriger Junge wurde von der Polizei erschossen. Ein protestierender Student starb vor wenigen Tagen an den Folgen einer Kopfverletzung durch eine direkt auf ihn abgefeuerte Tränengasgranate.
Am 4.Mai marschierten 3000 Polizeikräfte frühmorgens in den Ort ein, um "Recht und Ordnung" wieder herzustellen. Es war eine Strafexpedition, die einer Erstürmung von Atenco gleichkam. In ihrem Verlauf zerstörten die Einsatzkräfte Wohnungen, prügelten brutal auf die über 200 Festgenommenen ein, vergewaltigten mehrere Frauen auf dem mehrstündigen Hafttransport und demütigten viele andere Frauen sexuell. "Es war die Hölle", so die Deutsche Samantha Dietmar, die zusammen mit vier weiteren ausländischen Zeugen kurzerhand abgeschoben wurde.
Selbst die nicht besonders radikale Staatliche Menschenrechtskommission (CNDH) hat das Vorgehen der staatlichen Ordnungshüter scharf verurteilt. Ob das genauso wie die zahlreichen nationalen und internationalen Proteste tiefer gehende Folgen haben wird, ist mehr als zweifelhaft.
In seiner lesenwerten Analyse "Atenco und der schmutzige Krieg" legt der mexikanische Historiker und Schriftsteller Carlos Montemayor dar, dass Zeitpunkt, Massenverhaftungen, allgemeine Vorgehensweise und das Übermaß an Gewalt einschließlich der Demütigungen bei Operationen wie diesen nicht zufällig und improvisiert seien, sondern frühzeitig geplant und normalerweise zwischen verschiedenen Sicherheitskräften koordiniert würden — die Aktion in Atenco wurde von der Präventiven Bundespolizei (PFP) und Polizeieinheiten des Bundesstaats Mexiko durchgeführt.
Montemayor schreibt: "Es gibt keine Trennung zwischen polizeilich-militärischer und politischer Gewalt." Dabei stellt er indirekt immer einen Bezug zu dem schmutzigen Krieg vor dreieinhalb Jahrzehnten gegen die militärische und zivile Opposition in Mexiko her: "Die soziale Botschaft, die von solchen Interventionen ausgeht, hat eine solche Bedeutung, dass sie nicht ohne ein Mandat der politischen Autoritäten durchgeführt werden können."
Warum die "soziale Botschaft" gerade in Atenco abgegeben wurde, erklärt ein Blick auf das Volksbündnis zur Verteidigung des Landes (FPDT). Die FPDT gehört nicht nur zu den Unterzeichnern der von den aufständischen Zapatisten initiierten "anderen Kampagne". Die Organisation wurde 2001/2002 weit über San Salvador Atenco hinaus bekannt. Damals war ihr Widerstand maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Regierung das Projekt eines neuen internationalen Großflughafens für Mexiko-Stadt aufgeben musste. Diesem Vorhaben wäre viel Land der Bewohner von Atenco und weiterer bäuerlicher Anliegergemeinden zum Opfer gefallen. Es platzten aber auch die Träume zahlreicher Immobilienspekulanten, selbst in Regierungskreisen. Die FPDT war seitdem immer wieder in sozialen Konflikten präsent und ist als radikale Opposition den Herrschenden ein Dorn im Auge. Ein Exempel gegen sie zu statuieren, ist eine Warnung auch an andere Gruppen des sozialen Widerstands.
Dabei arbeiten die konservative Regierung der Partei der Nationalen Aktion (PAN) unter Präsident Vicente Fox und die den Bundesstaat Mexiko regierende Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI) Hand in Hand. Beide setzen offenbar darauf, kurz vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 2.Juli ein Klima der Angst zu schüren und mit ihrer speziellen Version einer "Law-and-order"-Politik die verunsicherten Bürger hinter sich zu scharen. Kurz vor Atenco hatte es schon bei einem Polizeieinsatz gegen streikende Minenarbeiter im Bundesstaat Michoacán zwei Tote gegeben. Und kurz danach ordnete der PRI-Gouverneur im Bundesstaat Oaxaca einen massiven Polizeieinsatz gegen streikende Lehrer an.
Beschämend ist das Verhalten der links-moderaten Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und ihres aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador. Kaum hörbar fordert sie eine "Dialoglösung" und klammert ansonsten den Atenco-Konflikt aus. Entsprechend gibt es keine Solidarität mit den Opfern. Sie hat Angst, zu den "Radikalen" gezählt zu werden und Wählerstimmen zu verlieren.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die von der EZLN initiierte "andere Kampagne" eine neue Bedeutung. Zapatistensprecher Subcomandante Marcos unterbrach seine im Januar begonnene landesweite Rundreise zur Bündelung antikapitalistischer Kräfte. Er will solange in der Hauptstadt weilen, bis die Gefangenen von Atenco frei sind und nimmt eine wichtige Rolle bei den Protesten ein. Der "Delegierte Null" Marcos hört vor allem zu und stimmt sich im Namen der EZLN in kleinem Kreis mit Hunderten von Organisation ab, die in der traditionellen mexikanischen Parteipolitik keine Perspektive sehen.
Marcos hat auch seine Medienpolitik geändert. Erstmals seit fünf Jahren gibt er wieder Interviews — der Tageszeitung La Jornada und sogar dem Privatsender Televisa, den er in der Vergangenheit immer wieder als einen der Hauptverantwortlichen für die Desinformation der Öffentlichkeit kritisiert hat. Die Reaktion der Zeitungskarikaturisten war beißend — aber die "andere Kampagne" hat dadurch wieder starke Beachtung gefunden.
Inzwischen hat der Subcomandante sein Profil wieder deutlich zurückgenommen, was durchaus wohltuend wirkt. Die Zapatisten aber beschreiten einen schmalen Grat zwischen ihrer grundlegenden Ablehnung aller traditionellen Parteien und ihrer Suche nach einem Bündnis mit einem Teil der linken Zivilgesellschaft in den Städten, für die Präsidentschaftskandidat López Obrador nicht einfach "die linke Hand der Rechten" ist, sondern jemand, mit dem sie gewisse Hoffnungen verbinden. Der Erfolg dieser Gratwanderung wird für ihre Zukunft bedeutend sein.
Kurz vor dem Stichtag 2.Juli läuft alles auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen López Obrador und dem konservativen Präsidentschaftskandidaten Felipe Calderón hinaus. Nachdem die Regierung Fox auf internationaler Ebene jahrelang mit einem Menschenrechtsdiskurs punktete, hat sie nun deutlich gemacht, wie weit es damit her ist. Der von ihr verteidigte "Rechtsstaat" ist autoritär und auf die Kriminalisierung von sozialem Widerstand gerichtet. Es steht in der besten Tradition der im Jahr 2000 beendeten 71- jährigen Herrschaft der PRI. Mit einem Imageschaden in der "internationalen Wertegemeinschaft" ist das nicht unbedingt verbunden. Die 47 Mitgliedstaaten des neu geschaffenen UNO- Menschenrechtsrats mit Sitz in Genf haben Mexiko ohne Gegenstimme den Vorsitz übertragen.

Gerold Schmidt, Mexiko-Stadt

Nähere Informationen siehe Poonal (www.npla.de) und die neue Webseite.



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