SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2006, Seite 26

Dialog der Kulturen

Solidarprinzip vor Marktprinzip

Leo Gabriel (Hg.): Politik der Eigenständigkeit. Lateinamerikanische Vorschläge für eine neue Demokratie, Wien: Mandelbaum Verlag, 2006, 440 Seiten, 15,80 Euro

Ist multikulturelle Autonomie eine Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung? Mit dieser sperrigen Frage beschäftigte sich vier Jahre lang das von der EU gesponserte und vom Wiener Ludwig-Boltzmann-Institut für zeitgenössische Lateinamerikaforschung koordinierte Forschungsprojekt Latautonomy (Autonomías indígenas en América Latina: Nuevas formas de convivencia política: www.latautonomy. org).
Untersucht wurden zwölf verschiedene Regionen in acht Ländern: Oaxaca und Chiapas in Mexiko, die Regionen Atlantikküste Nord und Süd in Nikaragua, der Landkreis Kuna Yala in Panama, die Region Alto Rio Negro in Brasilien, die andinen Zonen Otavalo und Cotopaxi sowie das Amazonastiefland in Ecuador, der Trópico de Cochabamba in Bolivien, Katalonien im Spanischen Staat, Tschetschenien und Dagestan in der Russischen Föderation.
Das Buch präsentiert die Ergebnisse der Feldforschungen und weitergehende Analysen und bietet einen schematischen Vergleich der untersuchten Regionen und der Forschungsergebnisse, eine ausführliche Präsentation der Methodologie, eine vergleichende Analyse der Forschungsergebnisse im Lichte der Projekthypothesen und schließlich die Falluntersuchungen Dagestan/ Tschetschenien und Baskenland als Testfälle für eine Übertragbarkeit der lateinamerikanischen Erfahrungen. Im Zentrum stehen dabei Netzwerke von Gemeinden, deren politische Entscheidungsfindung auf dem Konsensprinzip beruht, bei deren wirtschaftlichem Handeln das Solidaritätsprinzip vor dem Marktprinzip kommt, und wo eine mediative Justiz herrscht, die mehr den Ausgleich sucht als Strafe und Nullsummenspiele.
Die Lektüre des 440 Seiten starken Buches ist eine Herausforderung, zumal die einzelnen Beiträge nicht immer perfekt aufeinander abgestimmt sind, was die Suche nach dem roten Faden erschwert. Doch es lohnt sich, die facettenreichen Antworten kennenzulernen, die die Forscher rund um die Ausgangsfrage des Projekts geben. Die Geschichte wird zeigen, so ihre These, ob die multikulturellen Autonomien nachhaltig sind. Und dies wird vor allem davon abhängen, ob sich ihre Gegner durchsetzen.
Ist multikulturelle Autonomie eine Voraussetzung für Nachhaltigkeit? Die Antwort auf diese Frage bleibt den Leserinnen und Lesern überlassen. Doch nur scheinbar ist dies ein dünnes Ergebnis, denn nach der ausführlichen Analyse der autonomen Regionen steht fest, "dass in jedem Fall die Unterbindung der eigenständigen Entwicklung im Sinne einer multikulturellen Autonomie eine nachhaltige Entwicklung verunmöglicht". Erarbeitet wurde so ein Strukturkonzept von Autonomie, das nicht Modell sein kann und will, sondern "ein Vorschlag Lateinamerikas für andere Weltregionen", wie Leo Gabriel in seinem Vorwort schreibt.
Latautonomy versteht sich als Beginn. Als Beginn der Auslotung eines neuen politischen Paradigmas, das tief in den alten Kulturen unseres Planeten verwurzelt ist: Der Kampf der Völker nicht für unabhängige Nationalstaaten, sondern für ein würdiges und selbstbestimmtes Leben innerhalb von regionalen Autonomieprozessen. Samuel Huntingtons These vom "Zusammenstoß der Kulturen" stellt Latautonomy einen "Dialog der Kulturen" entgegen.

Robert Lessmann

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