SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2006, Seite 15

Kolumbien

Der Para-Präsident als Friedensengel

Noch am Abend seines Wahlsieges am 28.Mai, der seine zweite Präsidentschaftsperiode einleitete, setzte der kolumbianische Präsident Álvaro Uribe Vélez — vorerst noch im Geheimen — erste Schritte, um mit der FARC-Guerilla Friedensverhandlungen aufzunehmen.

Vielleicht war es ein historischer Paukenschlag, als Uribe Vélez am Abend des 28.Mai, jenem Tag, als er mit 62% der gültigen Stimmen seinen zweiten Wahlsieg einfuhr, sich mit seinem Friedenskommissär Luis Carlos Restrepo und seinem Berater Fabio Valencia zurückzog und ihnen seinen Plan unterbreitete, mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC), Friedensgespräche aufnehmen zu wollen. Die kommunistische Guerilla, älteste und stärkste Aufstandsbewegung Lateinamerikas, von Uribe bisher nur als Terroristen beschimpft, die er in seiner ersten Präsidentschaft militärisch zu besiegen versprach, soll nunmehr ohne Vorbedingungen an den Verhandlungstisch gebracht werden.
Unmittelbar danach begannen Restrepo und Valencia mit einer Reihe von vertraulichen Gesprächen mit Persönlichkeiten des politischen Lebens, um ihre Vorstellungen über Verhandlungen und auch ihre mögliche Unterstützung dabei zu sondieren. Eine dieser Personen ist Carlos Lozano, Herausgeber der kommunistischen Wochenzeitung Voz und bekannt für seine guten Kontakte zur FARC, eine der am meisten von den Paramilitärs und militärischen Geheimdiensten bedrohten Personen des politischen Lebens. Auch die Botschaften von Frankreich, Spanien und der Schweiz werden in den Versuch, ein Gesprächsklima mit den FARC aufzubauen, einbezogen.
In der ersten Amtszeit des rechtsautoritären Präsidenten Álvaro Uribe Vélez, die im August 2002 begann, stand die Verbesserung der Sicherheitslage im Land und die Demobilisierung der Paramilitärs im Mittelpunkt seiner Politik. Er hatte die Wahlen mit dem Versprechen gewonnen, mit "starker Hand und großem Herz" — so sein Wahlslogan — durch den militärischen Sieg über die Guerilla nach einem 40-jährigen Dauerkonflikt Kolumbien wieder den Frieden zu bringen. Der beste Wahlhelfer dabei war die Tatsache, dass wenige Monate vor den Wahlen nach dreijährigen Friedensgesprächen zwischen der Regierung Pastrana und den FARC die Verhandlungen geplatzt waren. Damit war die Guerilla auf einen Tiefpunkt ihrer Sympathiewerte in der Bevölkerung gesunken. In ihren Augen war nun die Zeit reif für einen Staatschef, der mit starker Hand für Ordnung sorgte.
Das Ziel, die Guerilla zu besiegen oder zumindest so weit zu schwächen, dass sie sich zu Verhandlungen unter vom Präsidenten diktierten Bedingungen bereit erklärt, hat Uribe bei weitem nicht erreicht. Durch eine massive Aufstockung von Militär und Polizei und dem Aufbau eines breiten Informanten-, d.h. Spitzelwesens hat er jedoch einen Rückgang der politischen Gewalt, vor allem der Entführungen, und auch der allgemeinen Kriminalität erreicht, was der kriegs- und gewaltmüden Bevölkerung das Gefühl von mehr Sicherheit und Bewegungsfreiheit vermittelte.
Ein äußerst fadenscheiniger und fragwürdiger Demobilisierungsprozess der rechtsextremen paramilitärischen Gruppen, die für einen Großteil der schweren Menschenrechtsverletzungen in den letzten zwei Jahrzehnten und der Vertreibung von über drei Millionen Menschen von ihrem Lebensraum verantwortlich sind, konnte gerade noch kurz vor dem Ende der ersten Amtszeit abgeschlossen werden.
Statt der anfänglich geschätzten 16000 Kämpfer demobilisierten sich schließlich über 30000, wobei nur jeder zweite Demobilisierte seine Waffe abgab. Diese wundersame Vermehrung der Paramilitärs, kurz Paras genannt, ergab sich daraus, dass die paramilitärischen Führer in die Demobilisierungslisten, die sie den Behörden übergaben, auch zahlreiche Kriminelle aufnahmen, damit diese in den Genuss der staatlichen Begünstigungen kommen.
Doch ein großer Teil der Bevölkerung zeigte sich zufrieden mit diesem Demobilisierungsprozess und die internationale Staatengemeinschaft applaudierte. Dass die Paramilitärs, die in den 80er Jahren als Söldner von Drogenhändlern, Großgrundbesitzern, Viehzüchtern und Wirtschaftsunternehmen begannen und später ihr eigenes rechtskonservatives politisches Projekt entwickelten, nur deswegen dem Entwaffnungsprozess zustimmten, da sie in vielen Regionen des Landes bereits die soziale und politische Kontrolle ausüben, dass sie ihre Einheiten nicht vollständig abrüsteten und dass nun wieder neue Gruppen entstehen — man spricht bereits von einem Para-Recycling —, darüber schweigen die USA und die EU.

Uribes Wahlsieg
Im Jahr 2006 standen zwei Wahlgänge an, die beide für das politische Überleben und den Fortgang des politischen Projekts von Präsident Uribe von entscheidender Bedeutung waren: die Parlamentswahlen vom 12.März und die Präsidentschaftswahlen vom 28.Mai.
Vor allem die Legislativwahlen standen von Anfang unter dem Zeichen des Demobilisierungsprozesses und der Versuche des Paramilitarismus, noch stärker im Kongress Fuß zu fassen. Sie endeten mit einem großen Sieg der Uribe-Parteien, zu denen nun auch die Konservative Partei gezählt werden muss, die praktisch im Uribismus aufging.
Noch nie in der jüngeren Geschichte des Landes hatte die Exekutive eine derart starke Unterstützung im Senat und Repräsentantenhaus erlangt, wo die Anhänger des Präsidenten an die 70% der Sitze einnehmen. Einige bekannte Gesichter der Paramilitärs sind nicht mehr im Parlament vertreten, dafür sind andere, weniger bekannte, neu eingezogen. Es wird geschätzt, dass die Paramilitärs ihren Einfluss von etwa 30% in den Legislativkammern zumindest bewahren konnten.
Der Wahlsieg Uribes bei den Präsidentschaftswahlen von Ende Mai stand eigentlich schon seit Oktober 2005 fest, als der Verfassungsgerichtshof jene Verfassungsreform billigte, die die direkte Wiederwahl des Staatschefs zulässt. Nicht einmal die Tatsache, dass Uribe sich die Zustimmung im Kongress durch den Kauf von Abgeordneten gesichert hatte, konnte die Verfassungsrichter zu einer Ablehnung der Reform bewegen. Zu stark war der Druck der Öffentlichkeit und fast der Gesamtheit der Medien in Richtung Wiederwahl.
So wurde also der 28.Mai 2006 zum Tag der triumphalen Wiederwahl von Àlvaro Uribe Vélez. 7,6 Millionen Menschen sprachen sich für seinen Verbleib im Amt aus, das ist zwar weniger als ein Drittel der 26,7 Millionen Wahlberechtigten, aber immerhin 1,5 Millionen mehr als bei der Wahl von 2002 und mehr als 62% der gültigen Stimmen. Wenn man allerdings die Zahl der Stimmenthaltungen und der ungültigen Stimmen zusammenzählt, ergibt sich, dass gerade 28% der stimmberechtigten Bevölkerung für den Präsidenten stimmte — bei den Kongresswahlen vom März waren sogar wegen der noch höheren Stimmenthaltung gerade 18% auf die uribistischen Parteien entfallen.
Nach Meinung vieler Beobachter brachten die Präsidentschaftswahlen vom Mai 2006 auch einen zweiten Sieger hervor: Carlos Gaviria vom Polo Democrático Alternativo (PDA). Nach einem mühsamen Vereinigungsprozess des traditionellerweise zersplitterten linken Spektrums und Primärwahlen im März (gegen den früheren M-19- Führer Antonio Navarro Wolf) war der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichtshofs und Senator zum unwidersprochenen Führer der demokratischen Linken aufgestiegen. Mit den 22% der Stimmen hat Gaviria das klare Mandat erhalten, die politische Opposition gegen Uribe anzuführen. (Bei den Liberalen ist nach dem erfolglosen Abschneiden bei den Wahlen von 2006 noch offen, ob sie sich mehrheitlich dem Uribismus zuwenden oder sich im Oppositionslager positionieren wollen.)
Angesichts der satten Mehrheit des Uribismus in den beiden Kongresskammern wird der PDA stark auf die außerparlamentarische Karte setzen müssen: auf die Öffentlichkeit und die sozialen Bewegungen. Als erstes großes Thema bietet sich hier die Mobilisierung gegen die Ratifizierung des Freihandelsabkommens (TLC) mit den USA an. Eine wichtige und nicht einfache Aufgabe für Gaviria wird es auch sein, die Einheit der Linken zu konsolidieren und im großen Potenzial der Wahlverweigerer zu fischen.
Unter Uribe hat die Stimmenthaltung seit den Zeiten der Nationalen Front nie wieder erlebte Höhen erlangt. Viele Menschen gehen nicht wählen, weil ihnen die Stimmabgabe materiell keine Vorteile bringen würde, aus politischer Apathie oder aus Enttäuschung über fehlgeschlagene politische Abenteuer der Linken.
Uribes Versicherungen, die FARC militärisch zu besiegen oder zumindest an den Verhandlungstisch zu zwingen, blieben Luftblasen. Was die Regierung und regierungsnahe Medien immer wieder beteuern — eine empfindliche Schwächung der Kampfkraft der FARC —, ist schwer zu beweisen. Sie haben wohl die Kontrolle über viele Regionen zumindest teilweise verloren, vor allem nahe den städtischen Zentren, dafür aber ihre Präsenz in anderen Landesteilen erhöht. Den quantitativen Rückgang von Kampfhandlungen erklärt die Guerilla mit einem taktischen Rückzug. Sie setzt offensichtlich auf Zeit und ist zuversichtlich, auch eine weitere Regierungsperiode Uribes auszuhalten.
Die große Frage ist allerdings, welche politischen Zugeständnisse Uribe den FARC im Rahmen der geplanten Friedensgespräche für eine Demobilisierung anbieten würde. Wenn die Guerilla weiterhin solche Forderungen stellt wie beim Verhandlungsprozess mit Pastrana, kann der Präsident nicht zustimmen, ohne sein Gesellschaftsprojekt akut zu gefährden. Dass die FARC-Chefs keine besonders kompromissbereiten Unterhändler sind, haben sie in der Vergangenheit auch schon zur Genüge gezeigt. Es ist also schwer vorstellbar, dass die Regierung Uribe den FARC derart umfassende politische Reformen garantiert, dass diese mehr als vierzig Jahre des bewaffneten Kampfes aufgeben.
Ein Abkommen mit der Nationalen Befreiungsarmee (ELN), mit der seit Herbst 2005 Gespräche laufen, u.a. in Havanna, wäre wohl ein propagandistischer Erfolg für Uribe, sicherheitspolitisch jedoch ohne Bedeutung, da diese zweite kolumbianische Guerillabewegung schon seit längerem militärisch inaktiv war und mit ihrer Rückkehr zum bewaffneten Kampf kaum zu rechnen ist.

Vision eines korporativen Staates
Uribes gesellschaftspolitische Visionen gehen in Richtung autoritärer korporativer Staat mit starker Einbindung gremialer Interessensvertretungen, ähnlich dem italienischen Faschismus Mussolinis und dem österreichischen Ständestaat der 30er Jahre — verbunden mit einem radikalen Neoliberalismus.
Das Projekt jener paramilitärischen Führer, die nicht den Drogenhandel in den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen stellen, sieht einen ebenfalls autoritären konservativ-katholischen Staat vor, der die nationalen Interessen — bei gleichzeitiger Verteidigung des Privateigentums — in den Vordergrund stellt. Was läge näher, als diese beiden Tendenzen zu einem einzigen, rechtskonservativen bis faschistoiden Gesellschaftsprojekt zusammenzuführen?
Widerstand wird es dabei nicht nur aus den Reihen der Linksopposition und der sozialen Bewegungen geben; auch in Kreisen des Unternehmertums und des Establishments wächst die Besorgnis. Uribe war und ist ihr Kandidat, doch geht er zu weit, wenn er das politische System in seinem Kern verändern will — das hat seit den Zeiten von General Rojas Pinilla vor einem halben Jahrhundert kein Präsident versucht.
Außenpolitisch wird Uribe weiterhin die Unterstützung der USA genießen. Für Washington spielt Kolumbien eine wichtige geopolitische Rolle, ist es doch der wichtigste Verbündete in dem ehemaligen Hinterhof, der nun dabei ist, eine neue, selbstständige Identität zu finden. Dass Kolumbien unter Uribe Vélez auch ein verlässlicher Verbündeter bleibt, das garantiert das Wissen des Weißen Hauses um die befleckte Vergangenheit des Präsidenten.
Im September 1991 hatte das US- Verteidigungsministerium eine Liste von 106 Personen erstellt, die seiner Auffassung nach mit dem Drogenkartell von Medellín verbunden sind. Dieses Dokument wurde kürzlich deklassifiziert und gelangte in den Besitz des "Archivs der Nationalen Sicherheit", einer NGO mit Sitz in Washington.
Pablo Escobar führt natürlich die Liste an, auf der auch Panamas Expräsident Noriega erscheint, auf Platz 66. Unter der Nummer 82 findet sich jedoch ein erstaunlicher Hinweis: "Àlvaro Uribe, kolumbianischer Politiker und Senator, der von einer hohen Regierungsebene aus mit dem Medellín-Kartell zusammenarbeitet. Uribe ist mit drogenhändlerischen Aktivitäten in den USA verknüpft ... Uribe arbeitet für das Medellín-Kartell und ist ein intimer Freund von Pablo Escobar Gaviria."
Uribe gehörte damals auch zu jenen Politikern, die sich der Auslieferung von Drogenhändlern in die USA entgegenstellten — auch wenn er später als Präsident mehreren Auslieferungsbegehren von US-Behörden zustimmte und zum wichtigsten lateinamerikanischen Verbündeten in Washingtons Drogenbekämpfungspolitik wurde.
Die zweite Amtszeit des kolumbianischen Präsidenten hält viele Stolpersteine für ihn bereit, angefangen von den Nachwirkungen des Potjomkin‘schen Demobilisierungsprozesses der Paramilitärs, der eigentlich eine Legalisierung der Todesschwadronen darstellt, bis hin zu dem geplanten Friedensprozess mit den FARC. Uribe ist ein gewiefter Taktiker und Populist; wenn er es schafft, die FARC in Friedensverhandlungen einzubinden, die nicht wieder platzen wie die unter seinem Vorgänger Andrés Pastrana, so könnte er als Staatsmann in die Geschichte eingehen, der die kolumbianische Quadratur des Kreises entdeckt hat.

Werner Hörtner

Der Autor ist Redakteur der in Wien erscheinenden Zeitschriften Südwind und Lateinamerika anders. Anfang Oktober erscheint im Schweizer Rotpunktverlag sein Buch Kolumbien verstehen — Geschichte und Gegenwart eines zerrissenen Landes.



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