SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2006, Seite 17

Frankreich

Breite Protestbewegung

Den Sommer über verhinderten die Widerstände von französischen Eltern, Lehrern, Schülern und von in Kollektiven des "Netzwerks Bildung ohne Grenzen" (RESF — Réseau Education sans frontières) zusammengeschlossenen Aktiven, dass es in größerer Zahl zur Abschiebung schulpflichtiger Kinder und Jugendlicher kam. Um sie herum hatte sich in den letzten Monaten eine breite Mobilisierung gebildet.
Im Juli und August kam es so "nur" zu vier Abschiebungen von Schülern an französischen Gymnasien, die bereits die Volljährigkeit erreicht hatten. Dabei löste vor allem die Abschiebung des 19-jährigen Jeff Babatundé-Shittu nach Nigeria, wo seinen Angaben zufolge vor zwei Jahren seine Mutter aus politischen Gründen ermordet worden war, Proteste aus. Sie konnte leider nicht verhindert werden, obwohl um die 50 Menschen am Flughafen protestierten und zehn Passagiere des Flugzeugs sich weigerten, sich auf ihren Sitzen niederzulassen und ihre Sicherheitsgurte anzulegen, solange sich der unfreiwillige Passagier an Bord befinde.
Normalerweise kann in einem solchen Falle der Pilot grundsätzlich die Durchführung der Abschiebung verweigern, da er sich aufgrund des "Durcheinanders" an Bord auf Sicherheitsgründe berufen kann, ohne dafür dienstlich belangt werden zu können. In diesem Falle aber war die Regierung auf Nummer Sicher gegangen: Als Bordkommandanten auf dem Air-France-Linienflug hatte man der bekanntes Mitglied der konservativen Regierungspartei UMP ausgewählt, Labaune, der auch schon ein Bürgermeisteramt für die Partei bekleidet hatte. Statt aus Sicherheitsgründen die Abschiebung zu verweigern, ließ er die Polizei an Bord rufen, die zwei unwillige Passagiere festnahm und abführte.
Im Frühsommer dieses Jahres hatte sich gezeigt, dass die Ankündigung, der im Herbst 2005 durch Sarkozy — infolge von Protesten gegen Abschiebungen von Minderjährigen mit ihren Familien — bis zum Ende des vergangenen Schuljahres gewährte Abschiebeschutz werde auslaufen, in breiten Kreisen Proteste auslöste. Auch in bürgerlichen Milieus wurden humanistisch oder christlich begründete Einwände laut, und Teile der Linken mobilisierten sich gegen drohende Abschiebungen in den Ferien. Während andere am Strand liegen, müssen einige versteckt leben: Diese Vorstellung erschien vielen unerträglich. Die Proteste weiteten sich aus.
Im Juni hatte Innenminister und Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy daher angeboten, einen Teil der betroffenen Familien mit schulpflichten Kindern oder Jugendlichen zu "legalisieren", ihnen also eine Erlaubnis zum legalen Aufenthalt zu verschaffen, auf der Grundlage mehrerer Kriterien. Dazu gehörte das (dehn- und auslegbare) Merkmal der "guten Integration in die französische Gesellschaft" sowie das Kriterium der französischen Sprachkenntnisse. Bis zum 13.August hatten die betroffenen Familien Zeit, ihre Dossiers bei den Präfekturen zu hinterlegen.

Sorry, die Quote ist voll!



Bereits im Juli dieses Jahres hatte Sarkozy erklärt, er rechne damit, dass 20000 Anträge gestellt würden und dass am Ende 6000 Aufenthaltserlaubnisse erteilt würden. Nun hat sich herausgestellt, dass es ungefähr ein Drittel mehr "Legalisierungs"anträge geworden waren. Doch Sarkozy blieb trotzdem bei seinen Zahlen. Auch nach dem Ende der Antragsfrist sprach er von 6000 zu erwartenden Aufenthaltsgenehmigungen. Nicht mehr und nicht weniger. Dies klingt bereits — einmal mehr — wie in Sollzahlen gefasste Anordnung an die ihm unterstehenden Präfekten; ein für Sarkozy typisches Vorgehen, denn in ähnlicher Form legt er alljährlich die Sollzahlen von bis zum Jahresende erfolgen müssenden Abschiebungen für seine Untergebenen fest.
Tatsächlich zeigt die Erfahrung aus den einzelnen Schulen und Stadtbezirken in den vergangenen Wochen, dass offensichtlich ziemlich systematisch alle Dossiers abgelehnt worden sind, die im August bei den Ausländerbehörden eingingen — gleichgültig, ob die betroffenen Familien die aufgestellten Kriterien zu erfüllen schienen oder nicht. Anscheinend war die von Sarkozy aufgestellte Quote, die sich in der Zahlenvorgabe "6000" ausdrückte, schon voll.
Aber die Gleichgewichtsübung ging noch weiter. Das Motto lautet offenkundig: Die einen ins Töpfchen für die humanistisch gesinnten Wähler; und die anderen ins Kröpfchen, damit die eher rassistischen oder autoritär veranlagten Wähler sich berücksichtigt fühlen dürfen. Alles eine Frage der Dosierung: Gerechtigkeit und Härte, respektive "Standfestigkeit und Humanität", das ist Sarkozys selbsterklärte Devise. "Besorgt, sich nur ja keine Unterstützung für die kommende Präsidentschaftswahl entgehen zu lassen", so analysierte die linksliberale Tageszeitung Libération in ihrer Ausgabe vom 18.August, "glaubt er, bei den sensiblen Themen ein Gleichgewicht zu finden, indem er in eine Richtung losschlägt, sobald er denkt, dass er in einer anderen Richtung konziliant war ... Nachdem er am Dienstag [15.August] bekannt gegeben hatte, dass er ungefähr 6000 illegalen Einwanderern mit schulpflichtigen Kindern in Frankreich eine Aufenthaltserlaubnis geben würde, musste er nach seiner Logik (anderswo) kräftig zuschlagen, um seinen Wählern den Eindruck zu geben, dass er unnachgiebig bleibe."
Am 17.August ließ Innenminister Sarkozy deshalb das größte besetzte Gebäude in Frankreich räumen. Es handelt sich um ein ehemaliges Stundentenwohnheim in Cachan, einer Vorstadt 5 Kilometer südlich von Paris. Das regionale Studentenwerk möchte es abreißen und stattdessen einen Parkplatz errichten lassen. Aber seit mehreren Jahren lebten 700—1000 in dem Großbau, die meisten von ihnen Einwanderer — mehrheitlich Afrikaner, einige Maghrebiner, in jüngerer Zeit auch Menschen aus Osteuropa. Einige von ihnen sind Sans Papiers, also "illegale" Immigranten. Andere leben und arbeiten völlig "legal" in Frankreich, haben aber auf dem sog. freien Wohnungsmarkt keine Chancen aufgrund der riesigen Anforderungen: Mietpreise, Einkommensnachweise, Bürgen und Garanten.
Nicolas Sarkozy interessierte vor allem, dass er zu Beginn des Vorwahlkampfs durch die Räumung einen "Coup" in den Medien landen konnte. Den "legalen Ausländern" unter den Bewohnern wurde eine kurzfristige Übergangslösung angeboten, die für die meisten Familien unakzeptabel war. Oft handelt es sich um Zimmer in heruntergekommenen Hotels, wo man nicht kochen kann und die nicht kindergerecht sind. 200 bis 250 Menschen besetzten daraufhin eine Turnhalle in Cachan, dessen sozialdemokratischer Bürgermeister zunächst nicht die Polizei rufen, sondern verhandeln wollte — weshalb Sarkozy ihn in seiner Rede beim Unternehmerverband MEDEF am 31.August (wo er auch seine Pläne für eine Einschränkung des französischen Streikrechts darlegte) öffentlich verspottete. Die versammelten Besser- und Bestverdienenden lachten und prusteten, als Sarkozy verkündete: "Der Bürgermeister von Cachan wollte die Geräumten in einer Turnhalle aufnehmen. Jetzt hat er ein Problem."
Joseph Rossignol, Bürgermeister der Nachbarstadt Limeil-Brevannes, schlug am zweiten Wochenende im September eine Lösung vor: Per Rathausverordnung beschlagnahmte er die riesigen, leerstehenden Gebäude des Verteidigungsministeriums, die auf dem Boden seiner Kommune liegen. Der Präfekt als Vertreter des Zentralstaats hinderte die Kommunalvertreter jedoch am Betreten des Gebäudes und hat angekündigt, gegen den Rathausbeschluss zu klagen — am Montag. Auch Tage später war die Klage jedoch nicht eingereicht worden. Die Situation blieb allerdings bis zum Redaktionsschluss dieser SoZ-Ausgabe blockiert, während die Pariser Abendzeitung Le Monde am 14.September auf einer vollen Seite schilderte, die hygienischen und sanitären Zustände in der Turnhalle von Cachan würden allmählich unerträglich.
Liliane Thuram, Abwehrspieler der französischen Fussballnationalmannschaft, und Patrick Vieira, der neue Kapitän des Teams, gönnten den Zwangsgeräumten wenige Tage zuvor eine Atempause. Sie luden 80 von ihnen, auf eigene Kosten, auf reservierte Plätze beim Länderspiel Frankreich—Italien ein. Die Rechte aller Schattierungen tobte. Der Sarkozy-Freund und UMP-Abgeordnete Yves Jégo urteilte, man könne "ein großer Sportler, aber in der Politik ein armseliges Individuum" sein, und der rechtskatholische Graf (und Präsidentschaftskandidat) Philippe de Villiers echauffierte sich über "Fußballmilliardäre, die der Gesellschaft Morallektionen erteilen wollen".
Aber drei Viertel der französischen Bevölkerung erklärten bei einer Umfrage, "nichts Schockierendes" an der Einladung zu entdecken. Gut 10000 Menschen demonstrierten unterdessen am 9.September, einem Sonnabend, in Paris für Solidarität mit den Zwangsgeräumten. Schauspieler, Komiker und Sportler fuhren in den Tagen zuvor nach Cachan, um dort ihre Unterstützung zu bekunden.

Bernhard Schmid, Paris

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