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Den Sommer über verhinderten die Widerstände von französischen
Eltern, Lehrern, Schülern und von in Kollektiven des "Netzwerks Bildung ohne Grenzen" (RESF
Réseau Education sans frontières) zusammengeschlossenen Aktiven, dass es in
größerer Zahl zur Abschiebung schulpflichtiger Kinder und Jugendlicher kam. Um sie herum hatte
sich in den letzten Monaten eine breite Mobilisierung gebildet.
Im Juli und August kam es so
"nur" zu vier Abschiebungen von Schülern an französischen Gymnasien, die bereits die
Volljährigkeit erreicht hatten. Dabei löste vor allem die Abschiebung des 19-jährigen Jeff
Babatundé-Shittu nach Nigeria, wo seinen Angaben zufolge vor zwei Jahren seine Mutter aus politischen
Gründen ermordet worden war, Proteste aus. Sie konnte leider nicht verhindert werden, obwohl um die 50
Menschen am Flughafen protestierten und zehn Passagiere des Flugzeugs sich weigerten, sich auf ihren Sitzen
niederzulassen und ihre Sicherheitsgurte anzulegen, solange sich der unfreiwillige Passagier an Bord
befinde.
Normalerweise kann in einem solchen Falle
der Pilot grundsätzlich die Durchführung der Abschiebung verweigern, da er sich aufgrund des
"Durcheinanders" an Bord auf Sicherheitsgründe berufen kann, ohne dafür dienstlich
belangt werden zu können. In diesem Falle aber war die Regierung auf Nummer Sicher gegangen: Als
Bordkommandanten auf dem Air-France-Linienflug hatte man der bekanntes Mitglied der konservativen
Regierungspartei UMP ausgewählt, Labaune, der auch schon ein Bürgermeisteramt für die Partei
bekleidet hatte. Statt aus Sicherheitsgründen die Abschiebung zu verweigern, ließ er die Polizei
an Bord rufen, die zwei unwillige Passagiere festnahm und abführte.
Im Frühsommer dieses Jahres hatte sich
gezeigt, dass die Ankündigung, der im Herbst 2005 durch Sarkozy infolge von Protesten gegen
Abschiebungen von Minderjährigen mit ihren Familien bis zum Ende des vergangenen Schuljahres
gewährte Abschiebeschutz werde auslaufen, in breiten Kreisen Proteste auslöste. Auch in
bürgerlichen Milieus wurden humanistisch oder christlich begründete Einwände laut, und Teile
der Linken mobilisierten sich gegen drohende Abschiebungen in den Ferien. Während andere am Strand
liegen, müssen einige versteckt leben: Diese Vorstellung erschien vielen unerträglich. Die
Proteste weiteten sich aus.
Im Juni hatte Innenminister und
Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy daher angeboten, einen Teil der betroffenen Familien mit
schulpflichten Kindern oder Jugendlichen zu "legalisieren", ihnen also eine Erlaubnis zum legalen
Aufenthalt zu verschaffen, auf der Grundlage mehrerer Kriterien. Dazu gehörte das (dehn- und
auslegbare) Merkmal der "guten Integration in die französische Gesellschaft" sowie das
Kriterium der französischen Sprachkenntnisse. Bis zum 13.August hatten die betroffenen Familien Zeit,
ihre Dossiers bei den Präfekturen zu hinterlegen.
Bereits im Juli dieses Jahres hatte Sarkozy erklärt, er rechne damit, dass 20000 Anträge
gestellt würden und dass am Ende 6000 Aufenthaltserlaubnisse erteilt würden. Nun hat sich
herausgestellt, dass es ungefähr ein Drittel mehr "Legalisierungs"anträge geworden
waren. Doch Sarkozy blieb trotzdem bei seinen Zahlen. Auch nach dem Ende der Antragsfrist sprach er von
6000 zu erwartenden Aufenthaltsgenehmigungen. Nicht mehr und nicht weniger. Dies klingt bereits
einmal mehr wie in Sollzahlen gefasste Anordnung an die ihm unterstehenden Präfekten; ein
für Sarkozy typisches Vorgehen, denn in ähnlicher Form legt er alljährlich die Sollzahlen
von bis zum Jahresende erfolgen müssenden Abschiebungen für seine Untergebenen fest.
Tatsächlich zeigt die Erfahrung aus
den einzelnen Schulen und Stadtbezirken in den vergangenen Wochen, dass offensichtlich ziemlich
systematisch alle Dossiers abgelehnt worden sind, die im August bei den Ausländerbehörden
eingingen gleichgültig, ob die betroffenen Familien die aufgestellten Kriterien zu
erfüllen schienen oder nicht. Anscheinend war die von Sarkozy aufgestellte Quote, die sich in der
Zahlenvorgabe "6000" ausdrückte, schon voll.
Aber die Gleichgewichtsübung ging noch
weiter. Das Motto lautet offenkundig: Die einen ins Töpfchen für die humanistisch gesinnten
Wähler; und die anderen ins Kröpfchen, damit die eher rassistischen oder autoritär
veranlagten Wähler sich berücksichtigt fühlen dürfen. Alles eine Frage der Dosierung:
Gerechtigkeit und Härte, respektive "Standfestigkeit und Humanität", das ist Sarkozys
selbsterklärte Devise. "Besorgt, sich nur ja keine Unterstützung für die kommende
Präsidentschaftswahl entgehen zu lassen", so analysierte die linksliberale Tageszeitung
Libération in ihrer Ausgabe vom 18.August, "glaubt er, bei den sensiblen Themen ein Gleichgewicht
zu finden, indem er in eine Richtung losschlägt, sobald er denkt, dass er in einer anderen Richtung
konziliant war ... Nachdem er am Dienstag [15.August] bekannt gegeben hatte, dass er ungefähr 6000
illegalen Einwanderern mit schulpflichtigen Kindern in Frankreich eine Aufenthaltserlaubnis geben
würde, musste er nach seiner Logik (anderswo) kräftig zuschlagen, um seinen Wählern den
Eindruck zu geben, dass er unnachgiebig bleibe."
Am 17.August ließ Innenminister
Sarkozy deshalb das größte besetzte Gebäude in Frankreich räumen. Es handelt sich um
ein ehemaliges Stundentenwohnheim in Cachan, einer Vorstadt 5 Kilometer südlich von Paris. Das
regionale Studentenwerk möchte es abreißen und stattdessen einen Parkplatz errichten lassen. Aber
seit mehreren Jahren lebten 7001000 in dem Großbau, die meisten von ihnen Einwanderer
mehrheitlich Afrikaner, einige Maghrebiner, in jüngerer Zeit auch Menschen aus Osteuropa. Einige von
ihnen sind Sans Papiers, also "illegale" Immigranten. Andere leben und arbeiten völlig
"legal" in Frankreich, haben aber auf dem sog. freien Wohnungsmarkt keine Chancen aufgrund der
riesigen Anforderungen: Mietpreise, Einkommensnachweise, Bürgen und Garanten.
Nicolas Sarkozy interessierte vor allem,
dass er zu Beginn des Vorwahlkampfs durch die Räumung einen "Coup" in den Medien landen
konnte. Den "legalen Ausländern" unter den Bewohnern wurde eine kurzfristige
Übergangslösung angeboten, die für die meisten Familien unakzeptabel war. Oft handelt es
sich um Zimmer in heruntergekommenen Hotels, wo man nicht kochen kann und die nicht kindergerecht sind. 200
bis 250 Menschen besetzten daraufhin eine Turnhalle in Cachan, dessen sozialdemokratischer
Bürgermeister zunächst nicht die Polizei rufen, sondern verhandeln wollte weshalb Sarkozy
ihn in seiner Rede beim Unternehmerverband MEDEF am 31.August (wo er auch seine Pläne für eine
Einschränkung des französischen Streikrechts darlegte) öffentlich verspottete. Die
versammelten Besser- und Bestverdienenden lachten und prusteten, als Sarkozy verkündete: "Der
Bürgermeister von Cachan wollte die Geräumten in einer Turnhalle aufnehmen. Jetzt hat er ein
Problem."
Joseph Rossignol, Bürgermeister der
Nachbarstadt Limeil-Brevannes, schlug am zweiten Wochenende im September eine Lösung vor: Per
Rathausverordnung beschlagnahmte er die riesigen, leerstehenden Gebäude des Verteidigungsministeriums,
die auf dem Boden seiner Kommune liegen. Der Präfekt als Vertreter des Zentralstaats hinderte die
Kommunalvertreter jedoch am Betreten des Gebäudes und hat angekündigt, gegen den Rathausbeschluss
zu klagen am Montag. Auch Tage später war die Klage jedoch nicht eingereicht worden. Die
Situation blieb allerdings bis zum Redaktionsschluss dieser SoZ-Ausgabe blockiert, während die Pariser
Abendzeitung Le Monde am 14.September auf einer vollen Seite schilderte, die hygienischen und
sanitären Zustände in der Turnhalle von Cachan würden allmählich unerträglich.
Liliane Thuram, Abwehrspieler der
französischen Fussballnationalmannschaft, und Patrick Vieira, der neue Kapitän des Teams,
gönnten den Zwangsgeräumten wenige Tage zuvor eine Atempause. Sie luden 80 von ihnen, auf eigene
Kosten, auf reservierte Plätze beim Länderspiel FrankreichItalien ein. Die Rechte aller
Schattierungen tobte. Der Sarkozy-Freund und UMP-Abgeordnete Yves Jégo urteilte, man könne
"ein großer Sportler, aber in der Politik ein armseliges Individuum" sein, und der
rechtskatholische Graf (und Präsidentschaftskandidat) Philippe de Villiers echauffierte sich über
"Fußballmilliardäre, die der Gesellschaft Morallektionen erteilen wollen".
Aber drei Viertel der französischen
Bevölkerung erklärten bei einer Umfrage, "nichts Schockierendes" an der Einladung zu
entdecken. Gut 10000 Menschen demonstrierten unterdessen am 9.September, einem Sonnabend, in Paris für
Solidarität mit den Zwangsgeräumten. Schauspieler, Komiker und Sportler fuhren in den Tagen zuvor
nach Cachan, um dort ihre Unterstützung zu bekunden.
Bernhard Schmid, Paris
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