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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2006, Seite 19

"Kein fertiges Projekt"

Knut Mellenthin über seine Holocaust-Chronologie

Seit kurzem steht im Netz eine umfangreiche Homepage, die sich zum Ziel setzt, die tägliche Chronik der nationalsozialistischen Holocaustpolitik zu dokumentieren (www.holocaust-chronologie.de). Die SoZ sprach darüber mit Knut Mellenthin, dem politischen Journalisten und Verfasser der Seite.

Du hast mit deiner Online-Holocaust-Chronologie ein ausgesprochen umfangreiches Datengerüst und viel Quellenmaterial zum Holocaust vorgelegt. Was genau wurde aufgenommen und was nicht? Und wie begründet sich diese Auswahl?

Eine Auswahl habe ich nicht wirklich vorgenommen. Wenn Dinge in der Chronologie fehlen — noch fehlen, muss man sagen —, dann nicht, weil mir etwas unwesentlich erschien, sondern weil ich es noch nicht einarbeiten konnte. Es gibt eine Materialversion der Chronologie, die zwei- bis dreimal so umfangreich ist wie das, was jetzt im Netz steht. Ich hoffe, künftig mehr Zeit zu finden, um an der Internetchronologie weiterarbeiten zu können, ohne aktuelle politische Themen zu vernachlässigen, die mir wichtig sind — das ist seit dem 11.September 2001 vor allem das neokonservative Projekt eines neuen Weltkriegs, wie sie selbst es nennen.
Die Chronologie in der jetzt veröffentlichten Form enthält u.a. die gesamte auf die "Judenfrage" bezogene Gesetzgebung des NS-Staats, entweder in Zusammenfassungen des Inhalts oder vielfach auch durch Zitieren der wichtigsten Passagen im Wortlaut. Vielleicht finde ich irgendwann auch einmal die Zeit, direkte Links zu den vollen Gesetzestexten anzulegen. Aufgenommen in die Chronologie habe ich bspw. auch sämtliche Äußerungen führender NS-Politiker, angefangen natürlich bei Hitler, in denen sie sich zur "Judenfrage" geäußert haben — für den gesamten Zeitraum 1933—1945. Auch das ist zunächst einmal eine arbeitsökonomische Eingrenzung. Irgendwann würde ich gern auch den davor liegenden Zeitraum einarbeiten.
Darüber hinaus enthält die Chronologie sehr viele Auszüge oder Zusammenfassungen aus der deutschen diplomatischen Korrespondenz in Zusammenhang mit der "Judenpolitik" und etwas später dann der "Endlösung" in den besetzten ebenso wie in den verbündeten Staaten. Ich habe versucht, auch die "Judenpolitik" des italienischen Faschismus und der mit Deutschland verbündeten Staaten wie Rumänien und Bulgarien einzuarbeiten. Alles, soweit ich es zeitlich schaffen konnte. Die Chronologie ist kein fertiges Produkt, das Vollständigkeit beanspruchen will und kann, sondern soll weiter in Arbeit bleiben.

Aus welcher Motivation und mit welchem Ziel hast du 15 Jahre Arbeitskraft in dieses Projekt gesteckt?

Ich habe die Arbeit mit der Intention begonnen, Material zu einer politischen Geschichte des Holocaust zusammenzutragen, auch mit dem Gedanken, die politische Logik der NS-"Judenpolitik" und ihrer Entwicklung zur "Endlösung" während des Krieges fassbarer zu machen. Als ich 1994 zum ersten Mal in meinem Leben "arbeitslos" wurde — dies dauerte mit kurzen Unterbrechungen bis 1998 — habe ich die Zeit genutzt, um das angehäufte Material am PC zu erfassen und in eine gewisse Form zu bringen.
Zum Glück gab es damals die Schändlichkeiten wie 1-Euro-Jobs und ähnliche Formen von Disziplinierung noch nicht, mit denen "Arbeitslose" heutzutage entweder sinnlos ihre Zeit totschlagen oder anderen Menschen den Job stehlen müssen. Ich hatte wirklich Zeit, etwas Sinnvolles zu tun, was mir auch geholfen hat, nicht in ein "schwarzes Loch" zu fallen.

Soll es irgendwann eine Buchfassung geben?

Ja, hoffentlich. Ich habe die Arbeit ja einmal mit der Perspektive einer Buchveröffentlichung begonnen. Die jahrelange Suche nach einem Verlag, zuletzt sogar mit Hilfe einer professionellen Agentin, war allerdings leider vergeblich. Das dümmste Argument aus einem Verlag war, dass ich wesentlich anders vorgegangen bin als die Bücher, die es schon gibt. Das ist nicht mehr kommentierbar. Ich muss aber auf der anderen Seite sagen, dass die jetzt gefundene Form der Veröffentlichung im Internet auch große Vorzüge hat. Als ich die Arbeit an der Chronologie anfing, gab es diese technischen Möglichkeiten ja noch gar nicht.
Es gäbe diese Veröffentlichung jetzt auch nicht ohne das riesige Engagement der Hamburg-Wiener Kooperative Pixel-Melange, die das sehr zeitaufwendige und normalerweise auch sehr teure Projekt zu einem "Freundschaftspreis" konzipiert, redaktionell bearbeitet, grafisch gestaltet und technisch umgesetzt hat. Ein Engagement, das nur möglich war, weil die beiden Beteiligten, Eileen Heerdegen und Jürgen Bartl, das Projekt zu ihrer eigenen Sache gemacht haben. Dies zur Frage, wer das hunderttorige Theben erbaut hat, um Bert Brecht zu zitieren.

Der Holocaust ist in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem zentralen Mittel politischer Legitimation geworden, sowohl in der herrschenden wie in der oppositionellen linken Kultur. Deiner Meinung zu Recht oder zu Unrecht?

Gar keine Frage: ganz zu Unrecht und sehr zum Schaden der Erinnerungsarbeit. Jede Relativierung des Holocaust ist von Übel. Ganz egal, aus welchen politischen Motiven. Ganz egal, ob es die israelische Kriegführung im Libanon ist, die mit den NS-Verbrechen und
-Verbrechern verglichen wird, oder der iranische Präsident Ahmadinejad. Es gibt eine Grenze. Da ich seit 40 Jahren politisch aktiv bin, sage ich das auch selbstkritisch. Einige Einsichten, was die Schädlichkeit solcher Analogiebildungen angeht, habe ich erst im Lauf der Jahre gewonnen.
Wenn vor einigen Monaten ein deutsches Gericht — im Streitfall Melzer gegen Broder — verkündete, es sei eine zulässige Meinungsäußerung, beliebige politische Kontrahenten mit Hitler gleichzusetzen, so sehe ich einen Tiefpunkt erreicht.

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