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Seit kurzem steht im Netz eine umfangreiche Homepage, die sich zum Ziel setzt, die tägliche Chronik
der nationalsozialistischen Holocaustpolitik zu dokumentieren (www.holocaust-chronologie.de). Die SoZ
sprach darüber mit Knut Mellenthin, dem politischen Journalisten und Verfasser der Seite.
Du hast mit deiner Online-Holocaust-Chronologie ein ausgesprochen umfangreiches Datengerüst und
viel Quellenmaterial zum Holocaust vorgelegt. Was genau wurde aufgenommen und was nicht? Und wie
begründet sich diese Auswahl?
Eine Auswahl habe ich nicht wirklich vorgenommen. Wenn Dinge in der Chronologie fehlen noch
fehlen, muss man sagen , dann nicht, weil mir etwas unwesentlich erschien, sondern weil ich es noch
nicht einarbeiten konnte. Es gibt eine Materialversion der Chronologie, die zwei- bis dreimal so
umfangreich ist wie das, was jetzt im Netz steht. Ich hoffe, künftig mehr Zeit zu finden, um an der
Internetchronologie weiterarbeiten zu können, ohne aktuelle politische Themen zu vernachlässigen,
die mir wichtig sind das ist seit dem 11.September 2001 vor allem das neokonservative Projekt eines
neuen Weltkriegs, wie sie selbst es nennen.
Die Chronologie in der jetzt
veröffentlichten Form enthält u.a. die gesamte auf die "Judenfrage" bezogene
Gesetzgebung des NS-Staats, entweder in Zusammenfassungen des Inhalts oder vielfach auch durch Zitieren der
wichtigsten Passagen im Wortlaut. Vielleicht finde ich irgendwann auch einmal die Zeit, direkte Links zu
den vollen Gesetzestexten anzulegen. Aufgenommen in die Chronologie habe ich bspw. auch sämtliche
Äußerungen führender NS-Politiker, angefangen natürlich bei Hitler, in denen sie sich
zur "Judenfrage" geäußert haben für den gesamten Zeitraum 19331945.
Auch das ist zunächst einmal eine arbeitsökonomische Eingrenzung. Irgendwann würde ich gern
auch den davor liegenden Zeitraum einarbeiten.
Darüber hinaus enthält die
Chronologie sehr viele Auszüge oder Zusammenfassungen aus der deutschen diplomatischen Korrespondenz
in Zusammenhang mit der "Judenpolitik" und etwas später dann der "Endlösung"
in den besetzten ebenso wie in den verbündeten Staaten. Ich habe versucht, auch die
"Judenpolitik" des italienischen Faschismus und der mit Deutschland verbündeten Staaten wie
Rumänien und Bulgarien einzuarbeiten. Alles, soweit ich es zeitlich schaffen konnte. Die Chronologie
ist kein fertiges Produkt, das Vollständigkeit beanspruchen will und kann, sondern soll weiter in
Arbeit bleiben.
Aus welcher Motivation und mit welchem Ziel hast du 15 Jahre Arbeitskraft in dieses Projekt
gesteckt?
Ich habe die Arbeit mit der Intention begonnen, Material zu einer politischen Geschichte des Holocaust
zusammenzutragen, auch mit dem Gedanken, die politische Logik der NS-"Judenpolitik" und ihrer
Entwicklung zur "Endlösung" während des Krieges fassbarer zu machen. Als ich 1994 zum
ersten Mal in meinem Leben "arbeitslos" wurde dies dauerte mit kurzen Unterbrechungen bis
1998 habe ich die Zeit genutzt, um das angehäufte Material am PC zu erfassen und in eine
gewisse Form zu bringen.
Zum Glück gab es damals die
Schändlichkeiten wie 1-Euro-Jobs und ähnliche Formen von Disziplinierung noch nicht, mit denen
"Arbeitslose" heutzutage entweder sinnlos ihre Zeit totschlagen oder anderen Menschen den Job
stehlen müssen. Ich hatte wirklich Zeit, etwas Sinnvolles zu tun, was mir auch geholfen hat, nicht in
ein "schwarzes Loch" zu fallen.
Soll es irgendwann eine Buchfassung geben?
Ja, hoffentlich. Ich habe die Arbeit ja einmal mit der Perspektive einer Buchveröffentlichung
begonnen. Die jahrelange Suche nach einem Verlag, zuletzt sogar mit Hilfe einer professionellen Agentin,
war allerdings leider vergeblich. Das dümmste Argument aus einem Verlag war, dass ich wesentlich
anders vorgegangen bin als die Bücher, die es schon gibt. Das ist nicht mehr kommentierbar. Ich muss
aber auf der anderen Seite sagen, dass die jetzt gefundene Form der Veröffentlichung im Internet auch
große Vorzüge hat. Als ich die Arbeit an der Chronologie anfing, gab es diese technischen
Möglichkeiten ja noch gar nicht.
Es gäbe diese Veröffentlichung
jetzt auch nicht ohne das riesige Engagement der Hamburg-Wiener Kooperative Pixel-Melange, die das sehr
zeitaufwendige und normalerweise auch sehr teure Projekt zu einem "Freundschaftspreis"
konzipiert, redaktionell bearbeitet, grafisch gestaltet und technisch umgesetzt hat. Ein Engagement, das
nur möglich war, weil die beiden Beteiligten, Eileen Heerdegen und Jürgen Bartl, das Projekt zu
ihrer eigenen Sache gemacht haben. Dies zur Frage, wer das hunderttorige Theben erbaut hat, um Bert Brecht
zu zitieren.
Der Holocaust ist in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem zentralen Mittel politischer Legitimation
geworden, sowohl in der herrschenden wie in der oppositionellen linken Kultur. Deiner Meinung zu Recht oder
zu Unrecht?
Gar keine Frage: ganz zu Unrecht und sehr zum Schaden der Erinnerungsarbeit. Jede Relativierung des
Holocaust ist von Übel. Ganz egal, aus welchen politischen Motiven. Ganz egal, ob es die israelische
Kriegführung im Libanon ist, die mit den NS-Verbrechen und
-Verbrechern verglichen wird, oder der
iranische Präsident Ahmadinejad. Es gibt eine Grenze. Da ich seit 40 Jahren politisch aktiv bin, sage
ich das auch selbstkritisch. Einige Einsichten, was die Schädlichkeit solcher Analogiebildungen
angeht, habe ich erst im Lauf der Jahre gewonnen.
Wenn vor einigen Monaten ein deutsches
Gericht im Streitfall Melzer gegen Broder verkündete, es sei eine zulässige
Meinungsäußerung, beliebige politische Kontrahenten mit Hitler gleichzusetzen, so sehe ich einen
Tiefpunkt erreicht.
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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