SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2006, Seite 19

Erinnern ist Leben

Manfred Wekwerth: Erinnern ist Leben. Eine dramatische Autobiographie, Leipzig: Faber & Faber, 2000, 461 S., 20,40 Euro

Im hiesigen Brecht-Jubiläumsjahr lohnt es sich, auf ein Buch aufmerksam zu machen, das bereits im letzten Jahr des vergangenen Jahrhunderts erschienen ist: Manfred Wekwerths Memoiren Erinnern ist Leben. Wekwerth (Jahrgang 1929) ist einer der bedeutenden Theaterpersönlichkeiten unserer Zeit und war ab 1951 mit Unterbrechungen als Regieassistent, Regisseur und Intendant am berühmten Berliner Ensemble — dem Theater Bertolt Brechts — tätig. Selbstbewusst und mit heiterer Gelassenheit lässt Wekwerth ein bedeutendes Stück Theatergeschichte und ein intellektuelles Panorama von 1950 bis zur Gegenwart Revue passieren, wobei seine Erinnerungen in fünf Kapitel gegliedert sind, die den Akten eines Dramas entsprechen.
Anschaulich schildert der Autor die Atmosphäre am Berliner Ensemble während der DDR-Aufbaujahre, die Rolle Brechts, die Auseinandersetzungen um unterschiedliche künstlerische Konzeptionen, aber auch die persönlichen Querelen unter den Mitarbeitern im Ensemble, in dem er zu Beginn als Regieassistent tätig war.
Aufschlussreich ist vor allem seine Schilderung der Ereignisse um den 17.Juni, insbesondere Brechts Haltung. Von Wekwerth in der Nacht vom 16. auf den 17.Juni 1953 gefragt, was er in dieser Situation tun würde, lautete Brechts Antwort: "Die Streikenden bewaffnen." Brecht zufolge hätten die streikenden Arbeiter bei den Ereignissen des nächsten Tages sich nicht nur gegen die Bevormundung von oben zu wehren, sondern mehr noch gegen den Missbrauch von rechts.
Im Zusammenhang mit dem 1951 erfolgten Verbot von Brechts Oper Das Verhör des Lukullus durch das SED-Regime wendet sich Wekwerth in der Rückschau gegen die auch unter Linken verbreitete irrige Auffassung, derzufolge der Stalinismus "Linksradikalismus" sei, "zu dem jede Revolution neige": "Stalinismus ist nicht eine revolutionäre Verirrung, sondern Zurücknahme der Revolution. Seine Methode ist nicht kommunistische Radikalisierung, sondern Verbürgerlichung ... Die Oper wurde nicht, wie heute oft behauptet wird, abgesetzt, weil die SED ihre revolutionäre Gewalt ... ausübte, sondern weil revolutionäre Kunst gegen verbürgerlichte ausgetauscht werden sollte."
Nach Brechts Tod 1956 leitet Wekwerth gemeinsam mit Peter Palitzsch und Benno Besson das Berliner Ensemble. 1968 kündigt Wekwerth nach Auseinandersetzungen mit Brechts Witwe Helene Weigel über eine nach seiner Auffassung erforderliche künstlerische Neuorientierung.
Wekwerth macht nun Inszenierungen für das DDR-Fernsehen und ist als Regisseur an großen europäischen Bühnen tätig, darunter das Wiener Burgtheater und das Schauspielhaus Zürich. An Laurence Oliviers London National Theatre inszeniert er Shakespeares Coriolan mit Anthony Hopkins in der Titelrolle. Es ist der erste große Erfolg eines Schauspielers, der später mit der Hauptrolle in Das Schweigen der Lämmer zum Weltstar wurde.
Nach Helene Weigels Tod (1971) sinken unter der Intendantin Ruth Berghaus die Zuschauerzahlen des Berliner Ensembles drastisch, und Manfred Wekwerth lässt sich 1978 von Konrad Wolf, dem Akademiepräsidenten, überzeugen, die Intendanz des BE zu übernehmen. Brechts Galilei und Volker Brauns Großer Frieden gehören zu den Aufführungen, bei denen der Intendant Wekwerth selber Regie führt.
In den 80er Jahren spitzen sich die politischen und wirtschaftlichen Probleme der DDR zu. Sie wird zu einem "Land im Zustand des Wartens, das aber nicht mehr genau weiß, auf was" (Robert Weimann). Wekwerth formuliert im November 1988 seine Besorgnis über die Lage. In einem Brief an Stephan Hermlin schreibt er von der "eklatante[n] Entmündigung der Leute": "Brechts ‘List der Vernunft‘ reicht nicht mehr. Wir brauchen die ‘Diktatur der Vernunft‘, jedenfalls bei unseren politischen Größen."
Bereits 1978 hatte Wekwerth in einem Brief an den westdeutschen Bühnenbildner Hans-Ulrich Schmückle die Mechanismen beschrieben, die zum Untergang der DDR beigetragen haben: "Man glaubt sich hier im ‘Besitz‘ der Wahrheit, weil man Marx im Bücherregal hat. Man vergisst, dass für Marx nur wahr ist, was sich täglich als wahr erweist. Das schafft unerträgliche Zufriedenheit: ‘Oben‘, indem man sich dort für das ‘führende‘ Gesetz hält, das unausweichlich Wahrheit produziert, auch wenn man selbst nichts dafür tut; ‘unten‘, da man alles denen ‘da oben‘ überlässt, weil die ja die Wahrheit gepachtet haben. Die Folge: unkontrollierte Macht — kontrollierter Gehorsam."
1989 gehört das BE zu den Initiatoren der großen Protestdemonstration vom 4.November. 1992 wird Wekwerth aufgrund der Entscheidung des Berliner Kultursenators beim Berliner Ensemble "abgewickelt", weil er für die Unterdrückung der künstlerischen Freiheiten in der DDR mitverantwortlich gewesen sei — ein Vorwurf, gegen den sich der Autor im letzten Akt seines Buches überzeugend zu verteidigen weiß.

Hans-Günter Mull

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