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Bildet die Wahrheit nicht das Rückrat einer jeden Legende? Martin Odum war ein Meister der Legendenexistenz.
Für den ehemaligen CIA-Agenten waren es nicht die unterschiedlichen Pässe, die ihm eine angenommene
Identität verschafften, sondern seine besondere Fähigkeit, systematisch Biografien,Verhaltensweisen und
psychische Strukturen zu entwickeln und anzunehmen. Als Dante Pippen bildete er Hizbollahkämpfer für
Bombenanschläge aus, als Lincoln Dittmann organisierte er Waffendeals mit Osama Bin Laden.
Was auf den ersten Blick als enormes schauspielerisches
Talent erscheint, erhält seine Kehrseite durch die Herausbildung einer Multiplen Persönlichkeitsstörung:
Aus einem Legendenmantel zur Tarnung geheimdienstlicher Aktivitäten hat sich eine aufgespaltene Identität
entwickelt, die ihre eigenen Wege geht. So ist aus dem Lincoln Dittmann, der sich als Historiker des amerikanischen
Bürgerkriegs versucht hat, ein Lincoln Dittmann geworden, der als Pinkertons Agent an der Schlacht von
Fredericksburg teilgenommen haben will. Und er ist so glaubwürdig, dass seine Psychologin ihm auch das
persönliche Zusammentreffen mit dem Dichter Walt Whitman abnimmt.
Martin Odum ist ein Aussteiger, in Brooklyn schlägt
er seine Zeit als Privatdetektiv tot. Mit seiner Vergangenheit wird er konfrontiert, als eine Frau ihn bittet, in Israel
nach dem verschwundenen Ehemann ihrer Schwester zu suchen, um ihn um die Auflösung einer nichtvollzogenen Ehe zu
bitten. Kaum hat Stella Kastner das Büro verlassen, taucht Odums ehemalige Führungsagentin auf, die ihn drohend
davor warnt, den Auftrag anzunehmen. Doch ihre Erscheinung wirkt auf ihn wie ein Zündfunke. Odum begibt sich auf die
Reise nach Israel, nach London und Prag, zu einer aufgegeben Biowaffenentwicklungsstation in Russland und zu einem
kleinen Ort zwischen Moskau und St.Petersburg, gehetzt von der CIA und den bundscheckigen Profiteuren des Zusammenbruchs
der osteuropäischen Gesellschaften.
"Multiple Persönlichkeitsstörung",
belehrt die Psychologin Bernice Treffler ihren Patienten, "ist funktional, sie ermöglicht dem Patienten, ein
Trauma zu überleben." Martin Odum gelingt es, sich zu erinnern und auf die Ursache seines Traumas zu
stoßen. Wie sehr dieses persönliche Schicksal mit der Traumatisierung ganzen Gesellschaften verbunden ist,
daraus macht Robert Littell in Die Kalte Legende einen umwerfend packenden und dichten Thriller, dessen Qualität
alles hinter sich lässt, was in den letzten Jahren in diesem Genre geschrieben worden ist. Und vielleicht ist es
doch eine verspätete Zustimmung Littells zum ersten Satz von John Le Carrés Bilanz von 1989: Die Falschen haben
den Kalten Krieg gewonnen. Die Falschen haben den Kalten Krieg verloren.
Udo Bonn
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