SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2006, Seite 21

Mord & Todschlag

Robert Littell: Die Kalte Legende, Scherz 2006, 447 S., 19,90 Euro

Bildet die Wahrheit nicht das Rückrat einer jeden Legende? Martin Odum war ein Meister der Legendenexistenz. Für den ehemaligen CIA-Agenten waren es nicht die unterschiedlichen Pässe, die ihm eine angenommene Identität verschafften, sondern seine besondere Fähigkeit, systematisch Biografien,Verhaltensweisen und psychische Strukturen zu entwickeln und anzunehmen. Als Dante Pippen bildete er Hizbollahkämpfer für Bombenanschläge aus, als Lincoln Dittmann organisierte er Waffendeals mit Osama Bin Laden.
Was auf den ersten Blick als enormes schauspielerisches Talent erscheint, erhält seine Kehrseite durch die Herausbildung einer Multiplen Persönlichkeitsstörung: Aus einem Legendenmantel zur Tarnung geheimdienstlicher Aktivitäten hat sich eine aufgespaltene Identität entwickelt, die ihre eigenen Wege geht. So ist aus dem Lincoln Dittmann, der sich als Historiker des amerikanischen Bürgerkriegs versucht hat, ein Lincoln Dittmann geworden, der als Pinkertons Agent an der Schlacht von Fredericksburg teilgenommen haben will. Und er ist so glaubwürdig, dass seine Psychologin ihm auch das persönliche Zusammentreffen mit dem Dichter Walt Whitman abnimmt.
Martin Odum ist ein Aussteiger, in Brooklyn schlägt er seine Zeit als Privatdetektiv tot. Mit seiner Vergangenheit wird er konfrontiert, als eine Frau ihn bittet, in Israel nach dem verschwundenen Ehemann ihrer Schwester zu suchen, um ihn um die Auflösung einer nichtvollzogenen Ehe zu bitten. Kaum hat Stella Kastner das Büro verlassen, taucht Odums ehemalige Führungsagentin auf, die ihn drohend davor warnt, den Auftrag anzunehmen. Doch ihre Erscheinung wirkt auf ihn wie ein Zündfunke. Odum begibt sich auf die Reise nach Israel, nach London und Prag, zu einer aufgegeben Biowaffenentwicklungsstation in Russland und zu einem kleinen Ort zwischen Moskau und St.Petersburg, gehetzt von der CIA und den bundscheckigen Profiteuren des Zusammenbruchs der osteuropäischen Gesellschaften.
"Multiple Persönlichkeitsstörung", belehrt die Psychologin Bernice Treffler ihren Patienten, "ist funktional, sie ermöglicht dem Patienten, ein Trauma zu überleben." Martin Odum gelingt es, sich zu erinnern und auf die Ursache seines Traumas zu stoßen. Wie sehr dieses persönliche Schicksal mit der Traumatisierung ganzen Gesellschaften verbunden ist, daraus macht Robert Littell in Die Kalte Legende einen umwerfend packenden und dichten Thriller, dessen Qualität alles hinter sich lässt, was in den letzten Jahren in diesem Genre geschrieben worden ist. Und vielleicht ist es doch eine verspätete Zustimmung Littells zum ersten Satz von John Le Carrés Bilanz von 1989: Die Falschen haben den Kalten Krieg gewonnen. Die Falschen haben den Kalten Krieg verloren.

Udo Bonn

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