SoZ - Sozialistische Zeitung |
Ich gestehe, Wolrad Bode in den letzten eineinhalb Jahrzehnten aus den Augen verloren zu haben. Das wurde mir schmerzhaft
bewusst, als ich von seinem plötzlichen Tod am 1.September 2006 erfuhr und gebeten wurde, einen Nachruf zu
verfassen. Schon möglich, dass sich nun im Rückblick manches verklärt, zumal sich der Blick auf das Leben
dieses Menschen auf die rund zwei Jahrzehnte verengen muss, in denen ich Weggefährte war. Diejenigen, die Wolrad
über längere Zeiträume kennen, seine frühere Frau M., seine Kinder zumal und die Leute um Hermann
Löffler und den Mabuse-Verlag, für den Wolrad in den letzten 14 Jahren seines Lebens aktiv war, mögen mir
verzeihen, wenn mein Blick auf diesen Menschen ebenso subjektiv wie verkürzt ist.
Wolrad ist für mich die Personifizierung eines
Aktivisten und Internationalisten, wie es sie in jüngerer Zeit nur im Zusammenhang mit der 68er Bewegung gab. Als
wir Anfang der 70er Jahre in Frankfurt am Main die Gruppe Internationale Marxisten (GIM) aufbauten und die Zeitung Was
tun erst als 14-tägig erscheinendes Blatt, dann ab 1976 als Wochenzeitung etablierten, schien uns das ein
kühnes Unterfangen. Doch als Wolrad, ursprünglich aus Frankfurt stammend, zu uns stieß, hatte er bereits
eine internationalistische Aufbauarbeit für einen revolutionär-sozialistischen andere sagten dazu:
trotzkistischen Verlag in Schweden hinter sich. Von dort war er mit seiner schwedischen Frau durch Südamerika
gereist und dann in Chile geblieben, wo 1973 die revolutionären Wogen hochschlugen. Als ich im Jahr 2000 in Santiago
de Chile den verdienten Genossen und Professor Luis Vitale besuchte, erinnerte er sich sehr gut an Wolrad und an dessen
Aktivitäten 1973; Vitale fragte sofort, für welchen sozialistischen Verlag in welchem Land "Paavo"
so Wolrads Deckname denn derzeit arbeiten würde. Mein Verweis auf "Dr. Mabuse" mag da
für den guten alten Freund und Revolutionär einigermaßen verwirrend gewirkt haben.
Nach dem faschistischen Putsch von Augusto Pinochet im
September 1973 flüchteten sich Wolrad und seine Familie für mehrere Wochen in die schwedische Botschaft von
Santiago de Chile. Bei einer heutigen Debatte über diese Situation würde sich mein Blick wohl mehr darauf
konzentrieren, wie mit dieser extrem kritischen Situation verantwortungsvoll auch mit Blick auf die Familie
umzugehen war. Doch 1973/74 fand ich es vor allem beeindruckend, dass Wolrad das sichere Refugium schwedische Botschaft
immer wieder verließ, um Pakete mit revolutionären Büchern aus Chile nach Frankfurt am Main zu senden,
womit die nun bald folgende politische Arbeit in Frankfurt vorbereitet wurde.
Mitte der 70er Jahre war Wolrad dann mehrere Jahre lang
Chef des ISP-Verlags. Der blühte in dieser Periode auf. In kurzer Zeit gab es eine Reihe "ISP-Theorie",
"Rote Hefte" und Einzelveröffentlichungen wie Peter Cardorffs Über den Charakter der chinesischen
Revolution und der KP Chinas. Mit Büchern von Ernest Mandel wie Trotzkis Faschismustheorie konnte
damals selbst der Kleinverlag ISP Auflagen von 5000 bis 10000 Exemplaren erzielen. Im Impressum meines ersten Buchs, das
1976 bei ISP erschien und die "Weltwirtschaftsrezession 1974/75" behandelte, findet sich die Angabe, wonach von
der ersten Auflage 3000 Exemplare gedruckt wurden. Das mag manch einen, der die Verhältnisse heutiger linker Verlage
kennt, erstaunen.
Seine Arbeit für unseren jungen Verlag
"ISP" (der heute weiter ehrenvoll arbeitet, der jedoch o tempora, o mores! seine drei Buchstaben
nicht mehr als "Internationale Sozialistische Publikationen" zu erkennen gibt) erwies sich als eine Art
Durchgangsstation. Für Wolrad gab es in Westdeutschland nur ein Plätschern in linken Bassins.
Die Massenstreiks in Spanien in der Endphase der Franco-
Diktatur wirkten auf Wolrad erneut als Aufbruchsignal. Er zog mit seiner Familie nach Barcelona, engagierte sich dort
beim Aufbau eines revolutionären Verlags, der mit der klandestin arbeitenden Liga Comunista Revolucionaria verbunden
war, und arbeitete in der Buchhandlung Leviatán mit. Bei diesem Engagement kam es zu einem politischen und
geschäftlichen Bruch. Wolrad zog sich zurück und lebte einige Jahre mit seiner Frau und den nun vier
Kindern in den Pyrenäen, wo er auf einem verfallenden Gutshof mit demselben Elan Aufbauarbeit mit Ziegen und Schafen
leistete wie er es zuvor im Verlagswesen getan hatte.
War es falsch, dass ich mir 1980 einbildete, man
müsse einen solchen Rückzug eines "eigentlich" revolutionär gesinnten Menschen aufs Land und ins
Privatleben unterbinden? Schon möglich. Jedenfalls machte ich mich auf, überzeugte Wolrad vor Ort, also auf dem
wunderschönen einsamen Gut in den katalanischen Pyrenäen, dass der Kampf im revolutionär-sozialistischen
Verlagswesen weiter gehe und dass seine Fähigkeiten in erster Linie hier gefragt sein würden. Wolrad kam
zurück nach Frankfurt und arbeitete in den Jahren 1983 bis 1991 erneut als Chef des ISP-Verlags.
Nun kam es zu einer Entwicklung, die kennzeichnend
für einen größeren Teil der westdeutschen linken Bewegung in dieser Zeit war: In dem Maß, wie die bei
ISP verlegten Bücher umfangreicher, "runder" und reifer wurden, sanken die Auflagen und wurden die
Ressourcen enger. Die Gründe dafür waren "externe", und auch die beste sozialistische Verlagsarbeit
konnte gegen diesen Zeitgeist kaum etwas ausrichten. Dennoch gelang es Wolrad und einer Reihe von Genossinnen und
Genossen um den Verlag, ausgesprochen anspruchsvolle Projekte zu realisieren, so ausgewählte Schriften des
peruanischen Marxisten José Carlos Mariátegui (herausgegeben von Eleonore von Oertzen, 1986), den Band
Sandinistas (Interviews mit drei Comandantes aus Nikaragua, 1987), einen Nachdruck des Rotbuchs über den Moskauer
Prozess 1936 von Trotzkis Sohn Leo Sedow und Hermann Webers Buch über die KPD-Opfer der Stalinschen
Säuberungen und ihre Rehabilitierung (zwei Auflagen, 1990). Später kam die Herausgabe von Trotzkis Schriften
hinzu (die anfangs im Verlag Rasch und Röhring erschienen). In den Jahren 1992 bis zu seinem Tod war Wolrad für
den Verlag Dr.med.Mabuse tätig. Er engagierte sich hier vor allem für Literatur, die die Zusammenarbeit
maßgeblicher Kreise der deutschen Medizin und Psychiatrie mit der NS-Diktatur dokumentierte.
Ich weiß nicht, wie Wolrad am Ende seines Lebens die
Zeit unseres revolutionären Engagements bilanzierte. Für mich waren und sind es "gute Zeiten". Ich
gedenke mit guten Gefühlen des "Genossen Paavo".
Winfried Wolf
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