SoZ - Sozialistische Zeitung |
Die für Gewerkschaften und soziale Bewegungen gemeinsamen Herausforderungen durch den Neoliberalismus können ohne Übertreibung als
epochal bezeichnet werden.
Erstens betreibt die herrschende Politik im Bündnis mit der
außerparlamentarischen Macht des Großen Geldes in sämtlichen Regierungskoalitionen seit der deutschen Vereinigung einen regelrechten
gesellschaftspolitischen Systemwechsel. Der Sozialstaat wird systematisch zerstört, um einer Art Wettbewerbsstaat Platz zu machen, der einseitig den
Interessen des Kapitals und der Vermögensbesitzer verpflichtet ist, während die Lebensinteressen des Großteils der abhängig
Beschäftigten und all derer, die auf leistungsfähige soziale Sicherungssysteme angewiesen sind, auf der Strecke bleiben. Daher besteht
Veranlassung zu der Frage, ob nicht Art.20 Abs.4 Grundgesetz berührt ist. Der sichert allen Bürgerinnen und Bürgern wenn andere
Abhilfe nicht möglich ist das Recht auf Widerstand gegen jeden, der es unternimmt, die sozialstaatliche Ordnung zu beseitigen.
Zweitens ist diese Entwicklung keine deutsche Spezialität, auch wenn Deutschland da
auf manchen Gebieten eine Vorreiterrolle übernommen hat, sondern sie findet unter Koordinierung durch europäische Institutionen europaweit statt.
Drittens finden wir in der parlamentarischen Politik keine Kräfte mehr vor, von denen
wir mit Aussicht auf Erfolg erwarten könnten, dass sie in absehbarer Zeit einen neuen Richtungswechsel für Sozialstaat und soziale
Gerechtigkeit gleichsam stellvertretend für die Zivilgesellschaft durchsetzen. Wir haben eine grundlegende Krise der demokratischen,
parlamentarischen Repräsentanz des Sozialen, die aus der parteiförmigen Politik selbst heraus nicht mehr überwindbar ist.
Daraus folgt viertens dass allein mit einem gesellschaftlichen Aufbruch von
unten, mit einer starken sozialen Bürgerbewegung, an der vorbei und über die hinweg am Ende nicht mehr regiert werden kann, neue Chancen
eröffnet werden können. Um auf die Höhe ihrer Aufgabe zu kommen, sollte sich eine solche Bewegung von vornherein auch um eine
europäische Perspektive bemühen das heißt zunächst: um Kommunikation mit ähnlichen Bestrebungen in anderen
europäischen Ländern.
Die Herausforderung ist natürlich enorm. Es geht ja nicht nur um eine Korrektur
einzelner gesetzgeberischer oder tarifpolitischer Maßnahmen, sondern buchstäblich um alles. Es geht um die Richtung gesellschaftlicher
Entwicklung insgesamt also letztlich um die Frage, in welcher Sorte Staat und Gesellschaft wir zukünftig leben wollen. Das ist nicht zu
bewältigen mit der einen oder anderen Großdemo, und auch nicht mit vielen Demoaufrufen zu allen möglichen Anlässen. Das wird sich
über Jahre hinweg aufbauen und entwickeln müssen, sich seine eigenen Organisationsformen, Infrastrukturen und Instrumente für
Aufklärung und Gegenöffentlichkeit schaffen müssen.
Ich habe allerdings keinen Zweifel, dass das Potenzial für eine starke soziale
Bewegung in der Gesellschaft vorhanden ist. Erhebliche Teile unserer Bevölkerung lehnen den Sozialabbau ab. Die Angst vor sozialem Abstieg und dem
Verlust der sozialen Existenz wenn nicht der Eltern, dann der Kinder reicht tief in die Mitte der Gesellschaft hinein.
Es mangelt allerdings an glaubwürdigen Angeboten, um Opposition auch
öffentlich ausdrücken zu können in solidarischen Aktionen, an denen man sich beteiligt, weil sich damit die Hoffnung verbindet, dass
es besser wird. Es ist nicht zuletzt dieser Mangel an greifbaren solidarischen Antworten von unten auf die Koalitionen von Kapital und Kabinett, der dem
Rechtsextremismus seine Entfaltungsräume eröffnet.
Das hat maßgeblich zu tun mit einer langjährigen Krise der sozialen
Interessenvertretung durch die großen zivilgesellschaftlichen Organisationen, von denen man normalerweise erwarten würde, dass sie den
neoliberalen Systemwechsel mit gesellschaftlicher Gegenwehr beantworten und eine öffentliche Debatte um Richtungsalternativen erzwingen. Damit sind
nicht nur aber doch in besonderer Weise die gewerkschaftlichen Führungen angesprochen. Eine rückwärts gewandte
Diskussion über dieses Organisationsversagen sollten wir uns hier aber nicht leisten.
Es muss jetzt darum gehen, wie die Kräfte innerhalb und außerhalb der
Gewerkschaften, die verstanden haben, worums geht, gemeinsam weiterkommen. Und das geht vorerst nach dem Motto: "Es rettet uns kein
höhres Wesen." Weder Frank Bsirske, noch Jürgen Peters von Michael Sommer ganz zu schweigen. Was zu tun ist, muss man
selber tun.
Dabei wird man sich aber systematisch darum zu bemühen haben, schließlich
auch die Spitzen einiger großer Gewerkschaften ins Boot zu kriegen. Denn eine durchsetzungsfähige Bewegung ist ohne deren Mitwirkung kaum
vorstellbar. Nicht nur wegen der materiellen Möglichkeiten, die die Infrastrukturen der Gewerkschaften bieten. Sondern vor allem deshalb, weil unter allen
gesellschaftlichen Organisationen allein Gewerkschaften die Fähigkeit besitzen, mit Mitteln des Arbeitskampfs in den ökonomischen Organismus
der Gesellschaft einzugreifen und dort materielle Gegenmacht zu entwickeln. Und nach Lage der Dinge werden wir darauf angewiesen sein, dass Ziele eines
sozialen Richtungswechsels auch mit Mitteln der Tarifpolitik und des Arbeitskampfes verfolgt werden.
Ohnehin kann man soziale Bewegungen und Gewerkschaften nicht umstandslos
gegenüberstellen. Gewerkschaften sind ja unbestreitbar die älteste organisierte soziale Bewegung im Kapitalismus. Und nach wie vor beruht das,
was sie an Gestaltungsmacht für sich reklamieren, auf der Bereitschaft von Beschäftigten, für gewerkschaftliche Ziele unter Hinnahme von
Einkommenseinbußen in offenem Konflikt mit der Unternehmerseite in den Streik zu treten. Das ist schon was anderes, als mal samstags auf eine Demo zu
fahren. Auch wenn es richtig ist, dass sich gewerkschaftliche Interessenvertretung in Jahrzehnten institutioneller und sozialpartnerschaftlicher Routinen stark
institutionalisiert und bürokratisiert hat, so wärs doch falsch, die Gewerkschaften nur als Apparat und Institution und nicht auch zugleich als
unmittelbare Organisationsform der abhängig Beschäftigten, als zumindest potenzielle soziale Bewegung zu verstehen.
Was die Entwicklung sozialer Bewegung zu allererst braucht, sind glaubwürdige
Angebote an alle, die sie nutzen wollen, um von unten in die Auseinandersetzung um die Richtung gesellschaftlicher Entwicklung einzugreifen.
Glaubwürdigkeit erreichen weder Initiativen, die im Verdacht stehen, hauptsächlich ein Sammelbecken für Gruppen aus der politischen
Linken zu sein, noch punktuelle Großaktionen der Gewerkschaften, die im Verdacht stehen, dass da mal Dampf abgelassen werden soll, um danach weiter
zu machen wie vorher.
Starke soziale Bewegungen basieren auf dem wie man heute sagt
"bürgerschaftlichen Engagement" vieler Menschen vor Ort, in Gemeinden, in Wohnvierteln, in Betrieben und Verwaltungen, die da einen
Gutteil ihrer Freizeit und Kraft für die gemeinsame Sache opfern, weil sie glauben, dass sich das lohnt. Und sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie Frauen
und Männer aus ganz verschiedenen weltanschaulichen Richtungen, parteipolitischen Präferenzen, sozialen Milieus und politischen Kulturen zu
gemeinsamem Handeln über den Tag hinaus zusammenführen. Das fordert allen Akteuren ein hohes Maß an Toleranz, an Verzicht auf
gegenseitige Missionierungsversuche und Bereitschaft zur Konzentration auf die gemeinsame Sache ab.
Das muss nun nicht heißen, dass alle in ein und derselben Basisinitiative
zusammenhocken und sich da mühsam ertragen müssen. Es ist durchaus sinnvoll, eigenständige Basisinitiativen in Betrieb und Gewerkschaft,
im Wohnviertel oder an der Uni zu bilden. Aber die brauchen dann einen verbindlichen Organisationszusammenhang, mit dem sie sich gemeinsame
Handlungsfähigkeit sichern.
Soziale Bewegungen brauchen stets ein hohes Maß an basisdemokratischer
Selbstorganisation. Die sich da freiwillig engagieren, brauchen die Gewissheit, dass ihr Tun nicht von Dritten gesteuert und kontrolliert wird, sondern von ihnen
selbst. Und sie brauchen Räume der offenen Debatte, wo aus der Verschiedenheit der Meinungen handlungsorientierte Konsense entwickelt werden
können. Großorganisationen, die sich an der Bewegung beteiligen, müssen das respektieren. Sie können und sie sollen Einfluss nehmen
aber nicht mit Kontrolle und Kommando, sondern indem sie ihre Mitglieder zum Mitmachen ermutigen, was ihnen entsprechendes Gewicht unter den
Aktiven gibt, und indem sie für ihre Vorschläge auch in kontroversen Diskussionen werben.
Die Ziele einer Bewegung für soziale Gerechtigkeit sind solche, die man im politischen
Raum auf der Linken verorten würde. Es liegt in der Natur der Sache, dass dabei Fragen der Verteilungsgerechtigkeit einen hohen Stellenwert einnehmen
müssen. Und ich halte es für die vornehmste aller politischen Aufgaben der Linken, die Entwicklung einer starken sozialen Bewegung systematisch
zu ermutigen.
Aber die Bewegung selbst kann nicht im politischen Sinne links sein. Sie muss offen sein
nicht nur für Mitstreiter, die SPD-Mitglieder sind, sondern etwa auch für solche, die sich in der CDU in der Tradition von Blüm und
Geißler verorten und bereit sind, sich für die gemeinsamen Ziele der Bewegung zu engagieren. Nur so wird sie die Chance haben, gesellschaftliche
Hegemoniefähigkeit, Meinungsführerschaft, zu entwickeln.
Die bündnispolitische Öffnung der Gewerkschaften bei den
Großdemonstrationen am 3.4.2004 und die bündnispolitische Botschaft des Perspektivenkongresses vom Mai 2004 in Berlin waren hoffnungsvolle
und vielversprechende Ansätze. Sie waren auch deshalb möglich, weil die sozialen Bewegungen nicht zuletzt in Gestalt von Attac
damals ein vergleichsweise hohes Maß an eigenständiger Mobilisierungsfähigkeit bewiesen hatten. Dass das mittlerweile nachgelassen hat, ist
sicher auch ein Grund für die fehlende Bündnisbereitschaft des DGB beim 21.10. Und zu den Faktoren, die zur Schwächung der
eigenständigen Bewegungsansätze beigetragen haben, gehört nach meiner Wahrnehmung auch, dass nicht wenige der Aktiven den
Schwerpunkt ihres Engagements von der Arbeit an sozialer Bewegung auf die Arbeit an einem neuen Parteiprojekt verlagert haben.
Auch hier bitte keine rückwärts gewandten Debatten. Aber mit Blick nach vorne
meine ich: Der Wert eines linken Parteiprojekts erweist sich heute weniger in Wahlkämpfen und Wahlergebnissen als vielmehr darin, was es zwischen den
Wahlkämpfen zur Entwicklung eigenständiger sozialer Bewegung beiträgt und zwar ohne das Projekt Bewegung parteipolitisch
prägen zu wollen.
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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