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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2006, Seite 03

Was zu tun ist... ...muss man selber tun

Daniel Kreutz über Gewerkschaften und soziale Bewegungen

Die für Gewerkschaften und soziale Bewegungen gemeinsamen Herausforderungen durch den Neoliberalismus können ohne Übertreibung als epochal bezeichnet werden. Erstens betreibt die herrschende Politik im Bündnis mit der außerparlamentarischen Macht des Großen Geldes in sämtlichen Regierungskoalitionen seit der deutschen Vereinigung einen regelrechten gesellschaftspolitischen Systemwechsel. Der Sozialstaat wird systematisch zerstört, um einer Art Wettbewerbsstaat Platz zu machen, der einseitig den Interessen des Kapitals und der Vermögensbesitzer verpflichtet ist, während die Lebensinteressen des Großteils der abhängig Beschäftigten und all derer, die auf leistungsfähige soziale Sicherungssysteme angewiesen sind, auf der Strecke bleiben. Daher besteht Veranlassung zu der Frage, ob nicht Art.20 Abs.4 Grundgesetz berührt ist. Der sichert allen Bürgerinnen und Bürgern — wenn andere Abhilfe nicht möglich ist — das Recht auf Widerstand gegen jeden, der es unternimmt, die sozialstaatliche Ordnung zu beseitigen.
Zweitens ist diese Entwicklung keine deutsche Spezialität, auch wenn Deutschland da auf manchen Gebieten eine Vorreiterrolle übernommen hat, sondern sie findet unter Koordinierung durch europäische Institutionen europaweit statt.
Drittens finden wir in der parlamentarischen Politik keine Kräfte mehr vor, von denen wir mit Aussicht auf Erfolg erwarten könnten, dass sie in absehbarer Zeit einen neuen Richtungswechsel — für Sozialstaat und soziale Gerechtigkeit — gleichsam stellvertretend für die Zivilgesellschaft durchsetzen. Wir haben eine grundlegende Krise der demokratischen, parlamentarischen Repräsentanz des Sozialen, die aus der parteiförmigen Politik selbst heraus nicht mehr überwindbar ist.
Daraus folgt — viertens — dass allein mit einem gesellschaftlichen Aufbruch von unten, mit einer starken sozialen Bürgerbewegung, an der vorbei und über die hinweg am Ende nicht mehr regiert werden kann, neue Chancen eröffnet werden können. Um auf die Höhe ihrer Aufgabe zu kommen, sollte sich eine solche Bewegung von vornherein auch um eine europäische Perspektive bemühen — das heißt zunächst: um Kommunikation mit ähnlichen Bestrebungen in anderen europäischen Ländern.
Die Herausforderung ist natürlich enorm. Es geht ja nicht nur um eine Korrektur einzelner gesetzgeberischer oder tarifpolitischer Maßnahmen, sondern buchstäblich um alles. Es geht um die Richtung gesellschaftlicher Entwicklung insgesamt — also letztlich um die Frage, in welcher Sorte Staat und Gesellschaft wir zukünftig leben wollen. Das ist nicht zu bewältigen mit der einen oder anderen Großdemo, und auch nicht mit vielen Demoaufrufen zu allen möglichen Anlässen. Das wird sich über Jahre hinweg aufbauen und entwickeln müssen, sich seine eigenen Organisationsformen, Infrastrukturen und Instrumente für Aufklärung und Gegenöffentlichkeit schaffen müssen.
Ich habe allerdings keinen Zweifel, dass das Potenzial für eine starke soziale Bewegung in der Gesellschaft vorhanden ist. Erhebliche Teile unserer Bevölkerung lehnen den Sozialabbau ab. Die Angst vor sozialem Abstieg und dem Verlust der sozialen Existenz — wenn nicht der Eltern, dann der Kinder — reicht tief in die Mitte der Gesellschaft hinein.
Es mangelt allerdings an glaubwürdigen Angeboten, um Opposition auch öffentlich ausdrücken zu können — in solidarischen Aktionen, an denen man sich beteiligt, weil sich damit die Hoffnung verbindet, dass es besser wird. Es ist nicht zuletzt dieser Mangel an greifbaren solidarischen Antworten von unten auf die Koalitionen von Kapital und Kabinett, der dem Rechtsextremismus seine Entfaltungsräume eröffnet.
Das hat maßgeblich zu tun mit einer langjährigen Krise der sozialen Interessenvertretung durch die großen zivilgesellschaftlichen Organisationen, von denen man normalerweise erwarten würde, dass sie den neoliberalen Systemwechsel mit gesellschaftlicher Gegenwehr beantworten und eine öffentliche Debatte um Richtungsalternativen erzwingen. Damit sind nicht nur — aber doch in besonderer Weise — die gewerkschaftlichen Führungen angesprochen. Eine rückwärts gewandte Diskussion über dieses Organisationsversagen sollten wir uns hier aber nicht leisten.
Es muss jetzt darum gehen, wie die Kräfte innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften, die verstanden haben, worum‘s geht, gemeinsam weiterkommen. Und das geht vorerst nach dem Motto: "Es rettet uns kein höh‘res Wesen." Weder Frank Bsirske, noch Jürgen Peters — von Michael Sommer ganz zu schweigen. Was zu tun ist, muss man selber tun.
Dabei wird man sich aber systematisch darum zu bemühen haben, schließlich auch die Spitzen einiger großer Gewerkschaften ins Boot zu kriegen. Denn eine durchsetzungsfähige Bewegung ist ohne deren Mitwirkung kaum vorstellbar. Nicht nur wegen der materiellen Möglichkeiten, die die Infrastrukturen der Gewerkschaften bieten. Sondern vor allem deshalb, weil unter allen gesellschaftlichen Organisationen allein Gewerkschaften die Fähigkeit besitzen, mit Mitteln des Arbeitskampfs in den ökonomischen Organismus der Gesellschaft einzugreifen und dort materielle Gegenmacht zu entwickeln. Und nach Lage der Dinge werden wir darauf angewiesen sein, dass Ziele eines sozialen Richtungswechsels auch mit Mitteln der Tarifpolitik und des Arbeitskampfes verfolgt werden.
Ohnehin kann man soziale Bewegungen und Gewerkschaften nicht umstandslos gegenüberstellen. Gewerkschaften sind ja unbestreitbar die älteste organisierte soziale Bewegung im Kapitalismus. Und nach wie vor beruht das, was sie an Gestaltungsmacht für sich reklamieren, auf der Bereitschaft von Beschäftigten, für gewerkschaftliche Ziele unter Hinnahme von Einkommenseinbußen in offenem Konflikt mit der Unternehmerseite in den Streik zu treten. Das ist schon was anderes, als mal samstags auf eine Demo zu fahren. Auch wenn es richtig ist, dass sich gewerkschaftliche Interessenvertretung in Jahrzehnten institutioneller und sozialpartnerschaftlicher Routinen stark institutionalisiert und bürokratisiert hat, so wär‘s doch falsch, die Gewerkschaften nur als Apparat und Institution und nicht auch zugleich als unmittelbare Organisationsform der abhängig Beschäftigten, als zumindest potenzielle soziale Bewegung zu verstehen.
Was die Entwicklung sozialer Bewegung zu allererst braucht, sind glaubwürdige Angebote an alle, die sie nutzen wollen, um von unten in die Auseinandersetzung um die Richtung gesellschaftlicher Entwicklung einzugreifen. Glaubwürdigkeit erreichen weder Initiativen, die im Verdacht stehen, hauptsächlich ein Sammelbecken für Gruppen aus der politischen Linken zu sein, noch punktuelle Großaktionen der Gewerkschaften, die im Verdacht stehen, dass da mal Dampf abgelassen werden soll, um danach weiter zu machen wie vorher.
Starke soziale Bewegungen basieren auf dem — wie man heute sagt — "bürgerschaftlichen Engagement" vieler Menschen vor Ort, in Gemeinden, in Wohnvierteln, in Betrieben und Verwaltungen, die da einen Gutteil ihrer Freizeit und Kraft für die gemeinsame Sache opfern, weil sie glauben, dass sich das lohnt. Und sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie Frauen und Männer aus ganz verschiedenen weltanschaulichen Richtungen, parteipolitischen Präferenzen, sozialen Milieus und politischen Kulturen zu gemeinsamem Handeln über den Tag hinaus zusammenführen. Das fordert allen Akteuren ein hohes Maß an Toleranz, an Verzicht auf gegenseitige Missionierungsversuche und Bereitschaft zur Konzentration auf die gemeinsame Sache ab.
Das muss nun nicht heißen, dass alle in ein und derselben Basisinitiative zusammenhocken und sich da mühsam ertragen müssen. Es ist durchaus sinnvoll, eigenständige Basisinitiativen in Betrieb und Gewerkschaft, im Wohnviertel oder an der Uni zu bilden. Aber die brauchen dann einen verbindlichen Organisationszusammenhang, mit dem sie sich gemeinsame Handlungsfähigkeit sichern.
Soziale Bewegungen brauchen stets ein hohes Maß an basisdemokratischer Selbstorganisation. Die sich da freiwillig engagieren, brauchen die Gewissheit, dass ihr Tun nicht von Dritten gesteuert und kontrolliert wird, sondern von ihnen selbst. Und sie brauchen Räume der offenen Debatte, wo aus der Verschiedenheit der Meinungen handlungsorientierte Konsense entwickelt werden können. Großorganisationen, die sich an der Bewegung beteiligen, müssen das respektieren. Sie können und sie sollen Einfluss nehmen — aber nicht mit Kontrolle und Kommando, sondern indem sie ihre Mitglieder zum Mitmachen ermutigen, was ihnen entsprechendes Gewicht unter den Aktiven gibt, und indem sie für ihre Vorschläge auch in kontroversen Diskussionen werben.
Die Ziele einer Bewegung für soziale Gerechtigkeit sind solche, die man im politischen Raum auf der Linken verorten würde. Es liegt in der Natur der Sache, dass dabei Fragen der Verteilungsgerechtigkeit einen hohen Stellenwert einnehmen müssen. Und ich halte es für die vornehmste aller politischen Aufgaben der Linken, die Entwicklung einer starken sozialen Bewegung systematisch zu ermutigen.
Aber die Bewegung selbst kann nicht im politischen Sinne links sein. Sie muss offen sein nicht nur für Mitstreiter, die SPD-Mitglieder sind, sondern etwa auch für solche, die sich in der CDU in der Tradition von Blüm und Geißler verorten und bereit sind, sich für die gemeinsamen Ziele der Bewegung zu engagieren. Nur so wird sie die Chance haben, gesellschaftliche Hegemoniefähigkeit, Meinungsführerschaft, zu entwickeln.
Die bündnispolitische Öffnung der Gewerkschaften bei den Großdemonstrationen am 3.4.2004 und die bündnispolitische Botschaft des Perspektivenkongresses vom Mai 2004 in Berlin waren hoffnungsvolle und vielversprechende Ansätze. Sie waren auch deshalb möglich, weil die sozialen Bewegungen — nicht zuletzt in Gestalt von Attac — damals ein vergleichsweise hohes Maß an eigenständiger Mobilisierungsfähigkeit bewiesen hatten. Dass das mittlerweile nachgelassen hat, ist sicher auch ein Grund für die fehlende Bündnisbereitschaft des DGB beim 21.10. Und zu den Faktoren, die zur Schwächung der eigenständigen Bewegungsansätze beigetragen haben, gehört nach meiner Wahrnehmung auch, dass nicht wenige der Aktiven den Schwerpunkt ihres Engagements von der Arbeit an sozialer Bewegung auf die Arbeit an einem neuen Parteiprojekt verlagert haben.
Auch hier bitte keine rückwärts gewandten Debatten. Aber mit Blick nach vorne meine ich: Der Wert eines linken Parteiprojekts erweist sich heute weniger in Wahlkämpfen und Wahlergebnissen als vielmehr darin, was es zwischen den Wahlkämpfen zur Entwicklung eigenständiger sozialer Bewegung beiträgt — und zwar ohne das Projekt Bewegung parteipolitisch prägen zu wollen.

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