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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2006, Seite 04

Böcke zu Gärtnern

Kommentar von THIES GLEISS

Die deutsche Bourgeoisie, wie auch die meisten ihrer Klassenbrüder in anderen Teilen der Welt, hat noch eine Rechnung offen. Nachdem sie das überraschende Geschenk des Untergangs des nichtkapitalistischen Deutschlandsmodells in der DDR, das sie zwar seit Anbeginn mit allen Mitteln bekämpft hatte, das aber letztlich dann doch an der inneren Auszehrung und lähmenden Bürokratisierung von selbst den Bach runter ging, weitgehend erfolgreich dafür nutzen konnte, die Schmach der 68er-Aufbruchsbewegung zu überwinden und das ideologische Loch, das durch den verlorenen Zweiten Weltkrieg gegraben wurde und in dem die 68er-Generation herumstocherte, wieder abzudecken und seitdem von einer neuen deutschen Großmacht zu träumen, bleibt noch ein anderer sozialer und ideologischer Flurschaden ihrer Herrschaft zu bereinigen.
In dem Jahrzehnt von 1976 bis 1986 hat eine breite Massenbewegung, an der wie bei allen fortschrittlichen Bewegungen vor allem die Jugend beteiligt war, einen der zentralen Stützpfeiler der bürgerlichen Herrschaft angegriffen und zeitweilig sogar durchtrennt: die Hegemonie des kapitalistischen Fortschrittsbegriffs.
Dank der Umwelt- und darin vor allem der Anti-Atomkraft-Bewegung, die in diesem Jahrzehnt Hunderttausende Menschen erfasste, wurde das Selbstverständnis der bürgerlichen Klasse, dass ihr Fortschritt, ihr kapitalistisches Wachstum gleichzeitig auch Fortschritt für die Menschheit bedeutet, in den Grundfesten erschüttert. Ein neues, viertes Jahrhundertthema neben der Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit, dem Bedürfnis nach Frieden und Gewaltlosigkeit und dem Wunsch nach individueller, kultureller, politischer und sexueller Freiheit, wurde aufgemacht: die Forderung nach Schutz und Regeneration der natürlichen Lebensgrundlagen.
Die Endlichkeit der Ressourcen und die Vergeudung von Rohstoffen und Energie durch eine Wirtschaftsordnung, deren Grundwiderspruch darin besteht, erst nach der Produktion der Güter, einen anonymen Markt darüber entscheiden zu lassen, ob die Güter überhaupt gebraucht werden, was zu regelmäßiger Überproduktion, struktureller Verschwendung und buchstäblichen Überfluss führt, wurden plötzlich offenkundig und damit mehr oder weniger auch die Endlichkeit der bürgerlichen Herrschaft und die Überflüssigkeit der Bourgeoisie als herrschender Klasse. Dies galt es zu reparieren.
Was die Bedrohung der sozialen Herrschaft anging, reichte eine spezielle Variante des Sozialdemokratismus in Form der Grünen, um mit relativ wenig Aufwand — die entscheidenden Strukturen dafür waren im Parlamentarismus schon vorhanden — der Bewegung die Militanz und soziale Sprengkraft zu nehmen. Neben der zeitlich beschränkten Anfütterung der neuen Gemeinde von Parlamentarismusjunkies, nach ein paar Jahren begann die Suchtwirkung des "Mit-Machens ohne an der Macht zu sein" von allein zu wirken, war dafür allerdings ein schmerzhafterer Preis zu zahlen: das Eingeständnis, in der Ideologie, aber vor allem auch in der praktischen Geschäftstätigkeit, das nicht alles, was machbar ist, auch gemacht werden sollte, weil der ökologische Preis dafür zu hoch wäre.
Insbesondere im Ausbau der sog. friedlichen Nutzung der Atomenergie mussten empfindliche Zugeständnisse gemacht werden. Nachdem jetzt die Heimholung der politischen Führungsschicht der Ökologiebewegung in das Reich der Demokraten erfolgreich abgeschlossen wurde, wundert es nicht, dass mit aller Macht die Rückzahlung des Versprechens gefordert wird: der angebliche Atomausstieg soll beerdigt und die Nutzung der Atomanlagen ebenso wieder unbeschränkt möglich, wie Forschung und Bau neuer Reaktorgenerationen sichergestellt werden.
Just am 9.Oktober, dem Tag, wo das Global Footprint Network der Welt verkündete, die Menschheit hätte jetzt, ein Vierteljahr zu früh und wieder früher als in den Vorjahren, den Punkt überschritten, wo so viel an Ressourcen verbraucht wurde, wie in einem ganzen Jahr regeneriert werden könne, meldet sich die deutsche Atomlobby einmal mehr als deutlich zu Wort, um von ihren Regierungsrepräsentanten ein deutliches Signal zum Ende des Atomausstieges zu erhalten. Gleichzeitig fordert das Unternehmerinstitut der deutschen Wirtschaft lautstark ein Ende der sozialdemokratischen "Nachhaltigkeit" und die Öffnung aller Schleusen zu einer "angebotsorientierten Umweltpolitik".
Trotz des Gehampels des Umweltministers Gabriel wird dieses Signal kommen, wenn nicht eine neue, autonome und sich selbst organisierende Umweltbewegung die herrschende Klasse wieder zum Einhalten zwingt.

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