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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2006, Seite 15

Neu gelesen: Über den Gesundheitsbereich hinaus

Für eine einheitliche Sozialversicherung

Im Gesundheitsbereich ist in den letzten Jahren eine relativ breite — gegen die herrschenden Strukturen gerichtete — Bewegung entstanden. Sie äußert sich in der Existenz von Gesundheitszentren, Gesundheitsläden, Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen, ambulanten und stationären Alternativmodellen und zahlreichen Bürgerinitiativen, z.B. gegen die zunehmende Pseudo-Krupp-Krankheit bei Kindern. Dazu gehören auch die Aktivitäten fortschrittlicher Ärztinnen, Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, die unter der Losung "es gibt keine medizinische Versorgung im Atomkrieg" gegen Raketen und auch gegen das neue Zivilschutzgesetz demonstrieren. Allein vier bundesweite Gesundheitstage (zuletzt 1987 in Kassel) mit Zehntausenden von Teilnehmerinnen und Teilnehmern bei Hunderten von Veranstaltungen sind deutlicher Ausdruck für eine größer gewordene Sensibilität gegenüber diesem krankmachenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem.
Die Alternative einer demokratisch geplanten, auf Selbstverwaltung beruhenden sozialistischen Gesellschaft würde die Arbeitslosigkeit beseitigen, die Sinnentleerung in Beruf, Freizeit und Alter zurückdrängen und vielen Krankheiten den Boden entziehen. Heute aber stehen die Zeichen auf weiteren Abbau des sozialen Schutzes, auf noch stärkere Ausdehnung der Wolfsgesetze des Kapitalismus. Weder die Auffassung von SPD und Gewerkschaftsvorständen, nach deren Sicht die BRD ein Sozialstaat sei, noch harmonische Umgestaltungskonzepte, die den realen Klassenkonflikt ausblenden, helfen weiter. Jedes Akzeptieren von Konzepten der "Kostenbegrenzung" im sozialen Bereich, egal mit welchen Argumenten, geht nur den Herrschenden auf den Leim. Erfolgreiche Gegenwehr kann nur da ansetzen, wo massenhaft gegen staatlichen und betrieblichen Sozialabbau mobilisiert wird. Anknüpfend an die Mobilisierungen und Betroffeneninitiativen der letzten Jahre muss das Ziel sein, die Einheit der (noch) Beschäftigten mit den Erwerbslosen und Sozialhilfeempfängern herzustellen.
Wie zu Bismarcks Zeiten ist die Sozialversicherung noch heute aufgesplittert. Nebeneinander existieren Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenfinanzierung. Die abhängig Beschäftigten finanzieren sie durch ständig steigende Beiträge, während die Leistungen eingeschränkt werden. Im Interesse der abhängig Beschäftigten ist aber eine einheitliche Sozialversicherung für alle, finanziert ausschließlich durch die Arbeitgeber. Privatversicherungen müssen zugunsten dieser Einheitsversicherung entschädigungslos enteignet werden. Sie machen ihren Profit mit der Angst der Versicherten um eine sorgenfreie Zukunft. Selbstständige sollen nicht privilegiert sein, sondern Eigenbeträge nach einer stark progressiven Beitragsstaffelung zahlen.
Ziel ist eine versichertennahe Versorgung, eine einheitliche Krankenversicherung als Teil der Sozialversicherung, dezentral nach Regionen organisiert und ausschließlich durch die Versicherten selbstverwaltet. Solche tatsächlichen Selbstverwaltungsorgane — Unternehmer, die heute die Hälfte der Sitze einnehmen, haben darin nichts zu suchen — können Gesundheitsgefährdungen in betrieblichem und außerbetrieblichem Alltag gemeinsam mit den gewählten Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben bekämpfen.

Kontrolle durch die Betroffenen

Der gesamte Gesundheitssektor muss unter die Kontrolle der Arbeitenden gestellt werden. Dies bedeutet die Übernahme privater und kirchlicher Krankenhäuser, die entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Geräteindustrie, den Abbau der privaten Arztpraxen bzw. die Beschränkung der Honorare (60000 Mark netto jährlich) zugunsten einer kostenlosen Versorgung in den staatlichen Kliniken. Stadtteil- und betriebsnahe Gesundheitszentren sollen geschaffen und gefördert werden. So können die Ursachen von Berufskrankheiten, Unfällen und Krebs besser erforscht werden. Resultat müsste eine öffentliche Krankheitsstatistik und eine Liste billiger und ungefährlicher Medikamente und Heilmethoden sein.
Konsequente Gesundheitspolitik will nicht an Symptomen des Kapitalismus herumdoktern, sondern zur Verbesserung der Lage der Lohnabhängigen und aller Besitzlosen führen. Der zentrale Ansatz zur Verminderung der Gesundheits- und Umweltgefährdung beruht daher in einschneidenden Veränderungen der Produktion selbst. Der Ausstoß und die Verwendung von gefährlichen Stoffen, der "normale" Verschleiß am Arbeitsplatz, die Leistungssteigerung und Flexibilisierung, die Monotonie, die Überstunden, die Schicht-, Leih- und Akkordarbeit müssen durch Einspruchs- und Kontrollrechte der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretung bekämpft werden. Gerade aus gesundheitspolitischen Gründen muss die Arbeitszeit deutlich verkürzt werden.
In den Gewerkschaften muss die in Betrieben und Betriebsräten weitverbreitete "Zulage-Politik", die gesundheitsschädliche Bedingungen für ein paar Prozent mehr Lohn akzeptiert, in die Minderheit gebracht werden. Dazu gehört der Kampf gegen das Unterlaufen der an sich schon unzureichenden Arbeitsschutzbestimmungen, für die Offenlegung aller im Betrieb verwendeten bzw. entstehenden Stoffe, für das Verbot aller krebserzeugenden und anderen gesundheitsschädigenden Stoffe.

Wen oder was anpassen

Die herrschende Arbeitsmedizin versucht, die Menschen an die Gesundheitsgefährdung anzupassen, anstatt die Produktion selbst zu ändern und sie den Menschen anzupassen. Hierbei ist die "Gen- und Biotechnologie" eine große Gefahr. So sollen z.B. Gentests die Lohnabhängigen herausfiltern, die tatsächlich oder angeblich für Berufskrankheiten anfälliger sind. Deren Arbeitsplatzverlust wäre die beabsichtigte Konsequenz bei der Bildung "olympiareifer" Belegschaften.
Bereits 1982 hatte die IG Metall einen Lohnrahmentarifvertragsentwurf für Südwürttemberg-Hohenzollern vorgelegt, worin sie von dem Grundsatz ausgeht, dass die "menschengerechte Gestaltung der Arbeit anderen Betriebszielen nicht unterzuordnen ist". Die IG Metall stellte damals folgende Forderungen auf:
allen Beschäftigten werden stündlich mindestens sechs Minuten Erholungspausen, bei der Arbeit zwischen 19 und 6 Uhr 12 Minuten gewährt;
keine Arbeitsverrichtung darf bei Fließband- und Taktarbeit kürzer als 2,5 Minuten sein;
"bestehen technisch-organisatorische Alternativen des Arbeitsablaufs zu Fließband und Taktarbeit, so sind diese zu verwirklichen."
Außerdem werden konkrete Forderungen gegen die Ausweitung von Schichtarbeit und gegen unmenschliche Lohnfindungssysteme wie MTM erhoben. Ein Reklamations- und Vorschlagsrecht der Beschäftigten und des Betriebsrats soll für menschengerechte Gestaltung des Arbeitsablaufs sorgen.
An diese Vorschläge gilt es erneut anzuknüpfen. In den Betrieben ist die Aufstellung betrieblicher Aktionsprogramme "Arbeit und Gesundheit" erforderlich, auf Grundlage einer konkreten Untersuchungsarbeit im Rahmen des Vertrauenskörpers, der Mitgliedschaft und der Belegschaft. Fragebogenaktionen können zur Bestandsaufnahme wie zur Mobilisierung der Beschäftigten dienen, auf Grundlage der Auswertung können Forderungen entwickelt werden.
Zur konsequenten Nutzung bestehender Rechte gehört die kritische Kontrolle der Betriebsärzte durch die Betriebsräte. Eine der Hauptaufgaben ist es heute, gegen krankheitsbedingte Kündigungen energischer vorzugehen.
Über die betriebliche Ebene hinaus kämpfen wir gegen
eine unmenschliche Kosten-Nutzen-Rechnung zum Nachteil aller Menschen, chronisch und psychisch Kranker und anderer "teurer" Patienten;
jede Selbstverschuldungstheorie, Individualisierung und Diskriminierung von sogenannten Risikogruppen;
die häufig nur Symptome behandelnde Gesundheitsversorgung;
falsche und überflüssige Behandlung, so wie etwa gesundheitsschädliche Hightechdiagnostik;
die Entmündigung der Patienten in Krankenhäusern und psychiatrischen Anstalten.
Entscheidend ist die Prävention, also Vorsorge, von uns in erster Linie gesellschaftlich verstanden als
Bekämpfung aller gesundheitsgefährdenden Ursachen in Betrieb und Gesellschaft, wie Arbeitshetze und Erwerbslosigkeit;
Entgiftung der Böden und anderer Lebensgrundlagen wie Wasser und Luft — nach dem Verursacherprinzip;
Engagement für Verhältnisse, in denen die Menschen gut und deshalb gesund leben.
Notwendig ist die drastische Beschränkung des Arzneimittelangebots zugunsten therapeutisch nützlicher, unschädlicher und preisgünstiger Arzneien. Die mangelnde Verzahnung von ambulanter und stationärer Behandlung muss verbessert werden. "Selbstbeteiligungen", die nur verschleiern helfen, dass wir uns den größten "Kostenfaktor", den medizinisch-industriellen Komplex, nicht leisten können, müssen weg.
Der Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung muss der kassenärztlichen Vereinigung aus der Hand genommen werden. Allein durch eine konsequente Verordnung entsprechend der Preisvergleichsliste — die bislang nur einen geringen Teil der Medikamente enthält — könnte jährlich allein eine Milliarde Mark gesellschaftlich nützlicher eingesetzt werden.
Die krankmachende Politik und die entsprechende reaktionäre Offensive beinhaltet nicht zuletzt verstärkte Angriffe auf die Rechte der Frauen, so mit dem geplanten "Beratungsgesetz" zum §218; so wenn das Nachtarbeitsverbot, anstatt auf alle Beschäftigten ausgedehnt zu werden, auch für Frauen nicht mehr gelten soll.
Nur die Solidarisierung mit den am meisten Angegriffenen und Schutzlosesten kann die Gegenwehr erfolgreich machen und eine Gesellschaft vorbereiten, in der die menschliche Gesundheit und die menschlichen Bedürfnisse den ersten Rang einnehmen.

Michael Schmidt

Erschienen in SoZ 17/87 am 10.9.1987


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