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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2006, Seite 17

Israel

Im Griff der Militärs

Interview mit Tanya Reinhart

Tanya Reinhart lehrt Linguistik und Medienwissenschaft an der Universität Tel Aviv und ab Januar 2007 an der Universität New York. Kürzlich erschien ihr Buch The Road Map to Nowhere. Israel/Palestine Since 2003 (London: Verso, 2006). Das folgende, hier stark gekürzte Interview mit Tanya Reinhart führte Eric Hazan für das Magazin Counterpunch . (Übersetzung: Hans-Günter Mull.)

Ihr Buch The Road Map to Nowhere behandelt die Geschichte der israelischen Besetzung Palästinas in den letzten drei Jahren, ein von Ariel Sharons Führung dominierter Zeitraum. Sie argumentieren, dass es in dieser Zeit offensichtlich wurde, dass in Israel die Entscheidungen vom Militär und nicht von den politischen Ebenen getroffen werden.

Die militärischen und politischen Systeme waren in Israel stets eng miteinander verflochten, mit Generälen, die direkt von der Armee in die Regierung eintraten, aber der politische Status der Armee wurde während Sharons Aufstieg weiter gefestigt. Höhere Offiziere instruieren die Presse (sie nehmen mindestens die Hälfte des Raums für Nachrichten in den israelischen Medien in Beschlag) und sie formen die Auffassungen der ausländischen Diplomaten. Sie gehen ins Ausland in diplomatischer Mission, entwerfen politische Pläne für die Regierung und äußern bei jeder Gelegenheit ihre politischen Ansichten.
Im Gegensatz zur militärischen Stabilität befindet sich das israelische politische System in einem graduellen Prozess des Verfalls. Laut einem Bericht der Weltbank vom April 2005 ist Israels politisches System eines der korruptesten und am wenigsten effizienten der Welt. Sharon war persönlich, zusammen mit seinen Söhnen, schweren Bestechungsvorwürfen ausgesetzt, die aber nie vor Gericht gelangten.
Die von Sharon gegründete neue Partei Kadima, die nun mit Sharons Nachfolger Olmert die Regierung führt, ist eine hierarchische Zusammenballung von Individuen ohne Parteistrukturen oder Ortsgruppen. Ihre Leitlinien vom November 2005 ermöglichen ihren Führern alle normalen demokratischen Verfahren zu umgehen und die Kandidaten der Partei für das Parlament ohne eine Abstimmung oder die Zustimmung seitens eines Parteigremiums zu ernennen.
Die Arbeitspartei war nicht in der Lage eine Alternative zu bieten. Bei den letzten beiden israelischen Wahlen nominierte die Partei als Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten jeweils einen Vertreter aus dem Lager der "Tauben": Amram Mitzna 2003 und Amir Peretz 2006. Beide trafen anfänglich auf große Begeisterung, aber sie wurden sofort von ihrer Partei, den Wahlkampfberatern und durch Selbstzensur zum Schweigen gebracht, damit sie sich "in der Mitte der politischen Landkarte" positionieren. Ihr Programm war bald von Sharons Programm nicht zu unterscheiden. Peretz erklärte sogar, dass er in "Außen- und Sicherheitsfragen" genauso handeln werde wie Sharon.
Somit halfen diese Kandidaten, die israelischen Wähler davon zu überzeugen, dass Sharons Weg der richtige Weg sei. In den letzten Jahren hat es nie eine substanzielle linke Opposition gegen Sharon und die Generäle gegeben — nach den Wahlen trat die Arbeitspartei stets der Regierung bei und lieferte das Image der Tauben, das die Generäle für die internationale Bühne benötigen.
Mit dem Zusammenbruch des politischen Systems bleibt die Armee das Organ, das die Politik Israels formt und durchführt. Während der jüngsten israelischen Angriffe auf den Libanon wurde es zu einem Gemeinplatz in Israel, dass das Militär die Regierung führt: Peretz — mittlerweile Verteidigungsminister — erschien oftmals im Fernsehen als eine Marionette der ihn umgebenden Generäle.

Sharon wird im israelischen und westlichen Diskurs nun weitgehend als Führer dargestellt, der eine Entwicklung von einer Philosophie des ewigen Krieges zu Mäßigung und Zugeständnissen durchgemacht hat.

Wie konnte es geschehen, dass Sharon, der brutalste, zynischste, rassistischste Führer, den Israel je hatte, seine politische Karriere als ein legendärer Friedensheld beendet? Die Antwort ist, dass sich Sharon nie geändert hat. Vielmehr widerspiegelt das Entstehen des Sharon-Mythos die gegenwärtige Allmacht des Propagandasystems bei der Fabrikation von Bewusstsein.
Während seiner vier Jahre im Amt vereitelte Sharon jede Chance auf Verhandlungen mit den Palästinensern. 2003, während der Phase der "Road Map", akzeptierten die Palästinenser den Plan und erklärten einen Waffenstillstand, aber während die westliche Welt eine neue Ära des Friedens feierte, intensivierte die israelische Armee unter Sharon ihre Politik der gezielten Tötungen, hielt die alltäglichen Schikanen gegen die Palästinenser aufrecht und erklärte schließlich einen totalen Krieg gegen die Hamas, wobei sie ihre obersten militärischen und politischen Führer tötete.
Später, als die westliche Welt wieder den Atem anhielt, während eines anderthalb Jahre währenden Wartens auf den geplanten Rückzug aus dem Gazastreifen, tat Sharon alles, um den im Januar 2005 gewählten Palästinenserpräsidenten Abbas zu schwächen. Sharon erklärte, dass Abbas kein adäquater Partner sei (weil er den Terror nicht bekämpfte), und schlug alle Angebote für erneute Verhandlungen aus.
Die tägliche Realität der Palästinenser in den besetzten Gebieten sah nie düsterer aus als in der Ära Sharon. Im Westjordanland begann Sharon ein massives Projekt ethnischer Säuberungen in den an Israel grenzenden Gebieten. Sein Mauerprojekt beraubt das Land der palästinensischen Dörfer in diesen Gebieten, nimmt ganze Städte gefangen, und lässt ihren Bewohnern keine Mittel für ihren Unterhalt. Wenn das Projekt weitergeht, werden viele der 400000 davon betroffenen Palästinenser gehen müssen und ihr Auskommen am Rand der Städte im Zentrum des Westjordanlands suchen. Die israelischen Siedlungen wurden aus dem Gazastreifen evakuiert, aber der Streifen bleibt ein großes Gefängnis, vollständig von der Außenwelt abgeschlossen, dem Verhungern nahe und vom Land, vom Meer und aus der Luft von der israelischen Armee terrorisiert.
Sharons Erbe ist ewiger Krieg, nicht nur mit den Palästinensern, sondern mit dem, was die israelische Armee als ihr potenzielles Unterstützungsnetzwerk betrachtet, sei es heute der Libanon oder morgen der Iran und Syrien. Gleichzeitig hat Sharons Erbe zur Perfektion gebracht, dass man Krieg immer ebenso vermarkten kann wie das unermüdliche Streben nach Frieden. Sharon bewies, dass Israel die Palästinenser gefangennehmen, sie aus der Luft bombardieren, ihr Land stehlen und jede Chance auf Frieden vereiteln kann und doch von der westlichen Welt als die friedliche Seite im israelisch-palästinensischen Konflikt bejubelt werden kann.
Eine in kritischen Kreisen vorherrschende Sicht ist, dass Sharon beschloss, die Siedlungen im Gazastreifen zu räumen, weil ihre Aufrechterhaltung zu kostspielig war und er sich auf das zentrale Ziel konzentrieren wollte: das Westjordanland zu behalten und die Siedlungen dort auszuweiten. Es gibt keinen Zweifel darüber, dass Sharon offen den Rückzugsplan benutzte, um Israels Griff um das Westjordanland zu stärken. Aber ich glaube, dass es kein Anzeichen dafür gibt, dass er beschloss, Gaza aufzugeben, weil es zu kostspielig sei.
Natürlich war die Besetzung von Gaza stets kostspielig und selbst aus der Sicht der entschiedensten Vertreter israelischer Expansionsbestrebungen benötigt Israel dieses Stück Land nicht, das eines der am dichtesten besiedelten Gebiete in der Welt ist und über keinerlei natürliche Ressourcen verfügt. Das Problem ist, dass man nicht Gaza freigeben kann, wenn man das Westjordanland behalten will. Ein Drittel der besetzten Palästinenser lebt im Gazastreifen. Wenn ihnen die Freiheit gegeben wird, würden sie zum Zentrum des palästinensischen Befreiungskampfs, mit freiem Zugang zur westlichen und zur arabischen Welt. Um das Westjordanland zu kontrollieren, muss Israel an Gaza festhalten.
Sharon hat die Siedlungen im Gazastreifen nicht aus freien Stücken geräumt, sondern war dazu gezwungen. Sharon fabrizierte seinen Abzugsplan als ein Mittel, um Zeit zu gewinnen, auf dem Höhepunkt internationalen Drucks, der auf Israels Sabotage der "Road Map" und der Errichtung der Mauer folgte. Es gibt sogar einige Anzeichen dafür, dass er sich aus aus dieser Verpflichtung herumdrücken wollte, wie er es zuvor stets getan hatte. Doch diesmal war er von der Bush-Regierung gezwungen worden, seinen Plan durchzusetzen.
Wenngleich der Druck völlig hinter den Kulissen stattfand, war er massiv und schloss auch militärische Sanktionen ein. Der offizielle Vorwand für die Sanktionen waren Israels Waffenverkäufe an China, aber bei früheren Gelegenheiten war die Krise vorbei, sobald Israel bereit war, den Kaufvertrag zu annullieren. Diesmal dauerten die Sanktionen bis zur Unterzeichnung des Grenzübergangsabkommens im November 2005.

Aber gegenwärtig gibt es kein Zeichen irgendeines US-Drucks auf Israel?

Der US-Druck endete direkt mit der Räumung der Siedlungen, und Israel bekam freie Hand, alle im November 2005 unter Aufsicht von Condoleezza Rice feierlich unterzeichneten Abkommen zu verletzen. Seitdem haben die USA Israel volle Rückendeckung gewährt, als es den Gazastreifen in ein Freilichtgefängnis verwandelte und die belagerten Palästinenser auszuhungern und zu bombardieren begann. Man muss betonen, dass Sharon zu keinem Zeitpunkt eine Verpflichtung eingegangen ist, die israelische Kontrolle über den Gazastreifen tatsächlich vollständig aufzugeben. Von Beginn an sah der Rückzugsplan, wie er am 16.April 2004 von den israelischen Medien veröffentlicht wurde, vor, dass Israel von außen die vollständige militärische Kontrolle über den Gazastreifen aufrechterhalten würde.
Aus US-Sicht wurde das Ziel mit der Räumung der Siedlungen erreicht. Solange international Ruhe herrscht, spielt das Leid der Palästinenser keine Rolle im Kalkül der USA. Um während der Vorbereitung der nächsten Schritte im "Krieg gegen den Terror" die Besetzung des Irak aufrechtzuerhalten, war es für die USA wichtig, die Weltmeinung zu beschwichtigen, nach der etwas getan werden muss, um die israelische Besatzung zu beenden. Dieses Ziel wurde vorläufig erreicht.
Seit Ende 2005 scheint die Bush-Regierung zu wollen, dass ihre geplante "Iran- Kampagne" Fahrt aufnimmt, sodass Israels Aktien wieder steigen. Mit seiner Kampagne gegen die internationale Anerkennung der neuen Hamas- Regierung und für die Verhängung scharfer Sanktionen gegen die Palästinenser hat Israel die islamophobe Atmosphäre ausgebeutet, die in den USA aufgekommen ist. Der Westen wurde mit Berichten über die Gefahren zukünftiger Verbindungen von Hamas mit dem Iran und Syrien überschwemmt, die ein beunruhigendes Bild einer globalen islamisch-fundamentalistischen Bedrohung zeichneten.
Israels Linie zur Hamas ist gut angekommen. Die US-Regierung drängte europäische und arabische Länder, die direkte Hilfe für die Palästinensische Autonomiebehörde einzufrieren. Israelische Sicherheitsfunktionäre hatten schon seit einiger Zeit die US-Regierung gedrängt, ihre Operationen im Iran zu verstärken. Seymour Hersh und andere haben während des jüngsten Krieges gegen den Libanon enthüllt, dass die US-Regierung diesen als Vorbereitung und Test für die Option eines Angriffs auf den Iran betrachtet hat.
Die Tatsache, dass die USA zum ersten Mal in der jüngsten Geschichte einen wenngleich begrenzten Druck auf Israel ausgeübt haben, weil es nicht möglich war, die internationale Unzufriedenheit über ihre Politik der blinden Unterstützung Israels zu ignorieren, zeigt, dass ein hartnäckiger Kampf Wirkung zeigen und eine Regierung zum Handeln zwingen kann.
Ein solcher Kampf beginnt mit dem palästinensischem Volk, das jahrelang brutaler Unterdrückung widerstanden hat und dem es gelang, seine Sache am Leben zu erhalten — was nicht allen unterdrückten Nationen gelungen ist. Der Kampf setzt sich international fort mit Solidaritätsbewegungen, die ihre Aktivisten in die besetzten Gebiete schicken oder zu Hause Mahnwachen abhalten, mit Professoren, die Boykottaufrufe unterzeichnen und täglichen Schikanen ausgesetzt sind, mit mutigen Journalisten, die gegen den Druck fügsamer Medien und der Pro-Israel-Lobby die Wahrheit aufdecken.
Oftmals erscheint dieser Kampf um Gerechtigkeit aussichtslos. Doch er ist in das globale Bewusstsein eingedrungen. Die Sache der Palästinenser kann vorübergehend zum Schweigen gebracht werden, wie es jetzt geschieht, aber sie wird wieder zum Vorschein kommen.

Sie sagen, dass sich seit 2003 entlang der Mauer im Westjordanland eine neue Form des Kampfes entwickelt hat?

Es gibt einen zunehmenden gewaltlosen Kampf für die Beendigung oder zumindest Verlangsamung des massiven Zerstörungswerks Israels, das bei Vollendung 400000 Palästinenser von ihrem Land und ihrem Unterhalt trennen wird. Bei der palästinensischen nakba (Katastrophe) von 1948 wurden 730000 Palästinenser aus ihren Dörfern vertrieben. Doch statt darauf zu warten, dass die Geschichtsbücher von der zweiten nakba berichten, kämpfen die Palästinenser entlang der Mauer, um ihr Land zu retten.
Nur mit dem bewundernswerten Mut von Menschen bewaffnet, die von Generation zu Generation ihrem Land treu geblieben sind, stehen sie einer der brutalsten Militärmaschinerien der Welt gegenüber. Eine erstaunliche Entwicklung der letzten drei Jahre ist die Tatsache, dass Israelis am palästinensischen Kampf teilnehmen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Besatzung sind wir Zeugen eines gemeinsamen israelisch-palästinensischen Kampfes.
Seit zwei Jahren ist Zentrum des Kampfes nun das Dorf Bilin, dessen Land an eine israelische Siedlung übereignet wird. Jeden Freitag gibt es eine zentrale Demonstration, die das gesamte Dorf zusammen mit Israelis und internationalen Aktivisten umfasst. Die Armee hat brutale Gewalt angewandt, um den Protest zu stoppen, aber die Demonstrationen gehen weiter. Neben dem Israel der Armee und der Siedler entsteht entlang der Mauer ein neues Israel-Palästina.

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