SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2006, Seite 20

David Peace: 1977,

liebeskind 2006, 396 S., 22 Euro

"John Shark: Haben Sie das gelesen, Bob? In die Feierlichkeiten hat sich ein feindlicher Unterton eingeschlichen, der von exrem linken Gruppierungen stammt, die damit beschäftigt sind, antimonarchistische Aufkleber zu drucken und Artikel zu schreiben, in denen das Thronjubiläum als schockierende Beleidigung der Arbeiterklasse bezeichnet wird. — Anrufer: Das ist doch völliger Blödsinn, John, nichts anderes. Arbeiterklasse? Diese Leute sind doch nicht die Arbeiterklasse. Das ist nur ein Haufen beschissener Studenten. Die Arbeiterklasse steht voll hinter dem Jubiläum. — John Stark: Glauben Sie? — Anrufer: Na klar, zwei Tage frei und eine tolle Ausrede, um sich gepflegt volllaufen zu lassen, oder nicht?" (The John Shark Show, Radio Leeds, 7.Juni 1977.)
1977 geht es mit der letzten Old-Labour-Regierung langsam zu Ende, die National Front erhält Zulauf, der rassistische Diskurs weitet sich von den Straßen der sterbenden Industriestädte auf die lokalen Radioshows aus. Nichtweiße Bürger Großbritanniens zusammenzuschlagen und zu foltern gehört nicht nur zur Freizeitbeschäftigung von Skins, sondern erweist sich als zentrale Ermittlungsmethode der Polizei in Yorkshire. Hier siedelt David Peace seine vier Romane um den Yorkshire Ripper an, die zeitlich von 1974 bis in die 80er Jahre des Thatcherregimes reichen. Der zweite Teil des Zyklus, 1977, erzählt die verzweifelte Suche des Polizeisergeanten Robert Fraser nach einen Prostituiertenmörder: Im Vorlauf der heraufziehenden Jubiläumsfeierlichkeiten für die Queen werden verarmte Frauen, viele von ihnen junge Mütter, bestialisch umgebracht. Auch der heruntergekommene Reporter der Evening Post, Jack Whitehead, erhält von seinem Chef den Auftrag, Ermittlungen anzustellen. Es ist allerdings nicht nur ihr berufliches Engagement, das sie antreibt, sondern ihre Suche nach Sex und vorenthaltenen Gefühlen. Und dabei stoßen sie nicht nur auf aktenbekannte Zuhälter und auf Polizisten, die mehr wollen, als eine kostenlose Nummer zu schieben, und die die Frauen zwingen, für sich zu arbeiten. Sie stoßen auf ihre eigenen dunklen Seiten und ihre Hilflosigkeit, sich in den Normen und Riten der kriselnden Gesellschaft zurechtzufinden. James Ellroys Analyse der kalifornischen Gesellschaft findet in David Peace sein britisches Pendant: Die Knappheit der Sprache, die Betonung — auch innerer — Dialoge, die Integration dokumentarischer Elemente und vor allem die Düsternis, die selbst im selten warmen englischen Sommer die Stimmung ohne Kontrast bestimmt, die Verschlungenheit der Protagonisten, denen man kein Fünkchen Sympathie entgegen bringen mag, mit all diesen Elementen verweist Peace auf sein US-amerikanisches Vorbild. Und er toppt ihn so, wie Rock ‘n‘ Roll erst durch den Kontakt mit der britischen Arbeiterjungend seine Dynamik und Härte entfallten konnte: In Peaces 1977 gibt es keine Auflösung, Erzählstränge versickern, vieles bleibt im Angedeuteten und verweist vielleicht auf eine Erklärung und Aufklärung im nächsten Band. Und doch ahnt man: So leicht wird es einem nicht gemacht.
David Peaces Vierteiler ist extrem harte Kost und man muss sich schon einbilden, daß es sich um eine gnadenlose Gesellschaftsanalyse handelt und nicht auf eine Einladung zum Voyeurismus, um die Geschichten ertragen zu können.

Udo Bonn

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