SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2006, Seite 04

Planwirtschaft und Demokratie

von JAKOB MONETA

Liebe Geburtstagsgäste,

in meiner Schrift Aufstieg und Niedergang des Stalinismus, einem Kommentar zur Geschichte der KPdSU(B). Kurzer Lehrgang, erschienen 1953 in Köln und neu aufgelegt in den 70ern bei ISP, komme ich zu der Auffassung, dass die Ausbeuterrolle der Bürokratie, im Gegensatz zu der des Kapitals, nicht anonym ist. Ihre Antreiberrolle, ihre widerrechtliche Aneignung eines großen Teils des Volksvermögens, ihre beständigen Diebstähle und ihre Korruption - eine Folge des Mangels an demokratischer Kontrolle - lassen sich nicht verbergen. Sie sind allgemein bekannt. Nirgends wird es so sonnenklar wie in der Sowjetunion und in den Satellitenstaaten, dass Sozialismus ohne die unabhängige Aktivität der Massen, ohne das Aufblühen der menschlichen Persönlichkeit unmöglich ist. Der Stalinismus zertritt sowohl das eine als auch das andere. Ein offener Konflikt zwischen dem Volk und dem neuen Despotismus ist deshalb unvermeidlich. Stalins Regime ist zum Untergang verurteilt. Nicht die kapitalistische Restauration, sondern die sozialistische Erneuerung wird den Untergang des Stalinismus herbeiführen.
Trotzki hatte 1936 in seinem Buch Verratene Revolution allerdings auch eine andere Möglichkeit genannt, als er schrieb: "Ein Zusammenbruch des Sowjetregimes würde unweigerlich einen Zusammenbruch der Planwirtschaft und damit die Abschaffung des staatlichen Eigentums nach sich ziehen." Der Sturz der bürokratischen Diktatur wäre also, wenn keine neue sozialistische Macht diese ersetzt, gleichbedeutend mit einer Rückkehr zu kapitalistischen Verhältnissen bei katastrophalem Rückgang von Wirtschaft und Kultur.
Bei oberflächlicher Betrachtung, schrieb ich 1953, scheint der Stalinismus stärker denn je. Der Sieg im Zweiten Weltkrieg, der gewaltige Gebietszuwachs der Sowjetunion, die "Revolutionen" von oben auf dem Balkan, im Baltikum, in Polen und Ostdeutschland, der Sieg der chinesischen Revolution, all dies erscheint als das gewaltige Kraftpotenzial Stalins. Trotzdem, schrieb ich, reifen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Sowjetunion die Bedingungen heran, die den Sturz des Stalinismus unvermeidlich machen. Und ich zählte die gewaltigen Veränderungen auf, die überall stattfanden, wo sich der "demokratische Sozialismus" in sozialer Entschlossenheit nicht von den "Kommunisten" überflügeln ließ. An dieser Stelle machte ich auch den entscheidenden Fehler zu behaupten, dass die unbestreitbaren Erfolge der "Sozialistischen Internationale" sowie das Vordringen der sozialen Befreiungsbewegungen in den Ländern Asiens und Europas unter der Fahne eines zielstrebigen demokratischen Sozialismus "dem Stalinismus allen Wind aus den Segeln genommen" hätten.
Die sozialen Erfolge dieser Parteien waren damals unbestreitbar, denkt man nur an den kostenlosen Gesundheitsdienst des britischen Labour-Minister Bevan. Nur hat damit die Sozialistische, sprich: sozialdemokratische Internationale nirgendwo den entscheidenden Schritt zur Ablösung des Kapitalismus getan — ganz im Gegenteil.
Und der Stalinismus? In meinem kleinen Werk schrieb ich, Stalin "wollte die Wirtschaft regieren wie eine Parteisäuberung". Vom grünen Tisch aus wurden Pläne über Pläne ausgearbeitet, die nicht den geringsten Ansatzpunkt in der Wirtschaft fanden. Es gab nicht die mindeste Verbindung zwischen den Planern und den Geplanten, d.h. den Fabriken, die diese fantastischen Planziffern erfüllen sollten, und v.a. den Arbeitern, die in diesen Sog hineingezogen werden sollten und auf diese Aufgabe völlig unvorbereitet waren. Die Jahre von 1924 bis 1929 waren sinnlos vergeudet worden im Kampf gegen die Vorschläge der Linken Opposition, die eine organische planmäßige Entwicklung vorgeschlagen hatte, bei der die Teilpläne miteinander in Übereinstimmung gebracht und v.a. auf die demokratische Kontrolle der Arbeitenden gesetzt werden sollte. Stattdessen wurden Pläne vom Tisch des Bürokraten aus lustig drauflos entworfen und entsprechend ausgeführt.
Kein geringerer als Ilja Ehrenburg hat in seinem köstlichen Buch Lasik Rotschwanz die tragische Geschichte eines Plans verewigt. Der arbeitslos gewordene Schneider Lasik Rotschwanz erhält eine Anstellung in einer Gouvernementsabteilung für Tierzucht, die den Auftrag hat, die Vermehrung von Rassekaninchen im gesamten Gouvernement Tula zu beobachten. Er fragte seinen Vorgesetzten Petrow, wo denn die zu beobachtenden Kaninchen seien. Dieser sagte, er solle im Schrank unter den Papieren herumkramen. Lasik entdeckt, dass sein Vorgänger den Empfang der Rasseladung bestätigte, dass sich aber im Transportkasten nur tote Zuchtexemplare befanden. Die Kaninchen waren wahrscheinlich bei einem Fluchtversuch von herrenlosen Hunden getötet worden. Lasik zermartert sich das Gehirn, wie er diese grausame Kaninchenerinnerung zum Fortpflanzen bringen kann. Er wendet sich an seinen Vorgesetzten Petrow, kommt aber schlecht bei ihm an: "Arbeiten Genosse, Arbeiten, Fortpflanzen! Hervorbringen! Intensivieren! Haben Sie begriffen? Sehen Sie diese vergleichende Tabelle? Erstens Fleisch, zweitens Fell, drittens geringe Unkosten, viertens Zeitersparnis." "Verzeihung, Genosse Petrow", fragt Lasik Rotschwanz, "aber woher wird dieses prächtige Fell oder gar das Fleisch hervorwachsen, wenn ihre stummen Vorfahren von unorganisierten Hunden zerrissen worden sind? Ich kann lediglich diesen im Zirkular verewigten Kummer fortpflanzen. Aber davon werden wir keinerlei schöne Tabelle erhalten, weil sie doch, verzeihen Sie, wie zum Trotz krepiert sind."
Auf solche Ketzereien lässt sich Petrow aber gar nicht ein. Man werde wohl schon aus Moskau neue Rassekaninchen schicken. Aber die Zentrale sendet einen Fragebogen mit 17 Fragen, die Lasik Rotschwanz beantworten soll: Welchen Einfluss die Entwicklung von Rassekaninchenzucht auf die wirtschaftliche Lage der Landbevölkerung, auf ihr kulturelles Leben, auf ihre Familienbeziehungen habe? Ob im Zusammenhang damit eine Erhöhung der Geburtenziffer zu beobachten gewesen sei, und was in runden Zahlen das Verhältnis zwischen der Anzahl der Kaninchen und dem Verbrauch von Seife je Bauernhof sei, wollte man in Moskau wissen.
Lasik beschließt, die Fragen wahrheitsmäß zu beantworten. Auf die erste Frage, wie groß im Gouvernement Tula die Kopfzahl der Kaninchen am Tage der Ausfüllung des Fragebogens sei, antwortet er standhaft: "Ein Grabmal in Gestalt eines mein Herz zerreißenden Zirkulars." Bei den 16 übrigen Fragen setzt er einen wahrhaft tragisch wirkenden Strich. Nach Geplänkeln mit seinem Vorgesetzten schreibt er: "Da das verstorbene Pärchen am 18.11.1924 nach Tula geschickt worden ist, kann man die Kaninchenbevölkerung des Gouvernements am heutigen Tage mit 11726,5 Köpfen ansetzen." Aus Moskau wird eine Kommission geschickt, die zunächst Lasik gratuliert, weil in seinem Gouvernement die Zahl der Kaninchen größer als in der gesamten Sowjetunion ist. Die Kommission spricht die Vermutung aus, er habe eine besonders günstige Futternahrung gefunden, worauf Lasik bescheiden antwortet, er habe die Kaninchen ausschließlich mit der im Dienst vorgegebenen Fantasie gefüttert.

Bei dem Text handelt es sich um einen schriftlichen Geburtstagsbrief, den Jakob Moneta am 11.11. bei einer Feier der IG Metall zu seinen Ehren verteilte

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