SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur
SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2006, Seite 09

Dokumentiert

Thesen zur gewerkschaftlichen Erneuerung

Der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital hat sich nicht aufgelöst, sondern eher verschärft. Die Widersprüche haben ihr Gesicht verändert, sind jedoch geblieben. Die Neustrukturierung der Arbeitswelt, das Umsichgreifen prekärer Arbeitsformen, der Druck auf die Reallöhne und die anhaltende Massenarbeitslosigkeit, nicht zuletzt die fortschreitende Polarisierung von Arm und Reich, haben Unsicherheit und Existenzängste enorm verbreitert. Aber auch die Konflikte, Auseinandersetzungen und Arbeitskämpfe nehmen wieder zu. Hat sich die politische Kaste vorbehaltlos in den Dienst der Wettbewerbslogik des Kapitals gestellt, scheint die Gewerkschaftsbewegung zwischen Co-Management und Opposition gefangen. Tarifpolitische Niederlagen, Mitgliederverluste und Organisationskrisen lassen die Diskussion um eine Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung wieder stärker werden. Nicht wenige fordern, dass Gewerkschaftsorganisationen wieder zu "Sammelpunkten des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals" (Marx) werden sollten. Da diese Diskussion jenseits der deutschen Grenzen bereits um einiges weiter gediehen ist, haben sich über zwei Dutzend engagierte junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Umkreis der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung zusammengetan, um die entsprechende Literatur zur internationalen Gewerkschaftsforschung der letzten Jahre zu sichten und mit deutschem Blick kommentierend vorzustellen. In den sieben Kapiteln ihres soeben erschienenen Werks Union Renewal — Gewerkschaften in Veränderung (Hg.Juri Hälker/Claudius Vellay), Edition Hans-Böckler-Stiftung, 275 Seiten, 17,90 Euro, werden gewerkschaftliche Krisentendenzen ebenso wie internationale Herausforderungen behandelt, die Sozialpartnerschaftsmodelle wie die Fusionen und Neugründungen einzelner Gewerkschaften, die Rolle von Frauen, Jugendlichen und Migranten ebenso wie neue Formen gewerkschaftlicher Organisierung und das programmatische Schlagwort von der Bewegungsgewerkschaft ("social movement unionism"). Das politisch interessierten und engagierten Menschen zu empfehlende Buch schließt mit zusammenfassenden Thesen zur weiteren Diskussion, die wir hier dokumentieren. Die Autorinnen und Autoren haben zudem auf www.union-renewal.de ein Diskussionsforum geschaffen, auf dem die Debatte ("Wie kommen die Gewerkschaften von der Defensive wieder in die Offensive? Wie muss die Union Renewal, die gewerkschaftliche Erneuerung, aussehen?") fortgesetzt werden soll.

1Auf eine systematische Organisationsentwicklung und Mitgliedergewinnung, unter Berücksichtigung von erprobten Organizingkonzepten, kann in Zukunft nicht mehr verzichtet werden. Dies gilt sowohl für die Verteidigung der traditionellen Hochburgen gewerkschaftlichen Einflusses als auch für die zunehmenden Gewerkschaftswüsten.

2Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund (jeder fünfte Einwohner in Deutschland) und Jugendliche bilden ein oft noch ungenutztes Organisationspotenzial. Sie bilden schon heute die größte neu zu erschließende Mitgliederressource. Die gewerkschaftliche Performance verbleibt hier massiv hinter ihren Möglichkeiten zurück. Mit einer überlegten und zielgerichteten Organisationspolitik, die die besonderen Bedürfnisse dieser Personengruppen berücksichtigt, sind deutliche Mitgliederzuwächse zu erzielen und neue Aktive zu gewinnen.

3Die vordringliche Einbeziehung von prekär Beschäftigten (Teilzeit, Niedriglohnsektoren) und Arbeitslosen in die Gewerkschaften als solidarische Kampfgemeinschaften aller Lohnabhängigen ist eine unabdingbare Aufgabe, aber auch eine zentrale Erneuerungsquelle.
Eine Beschränkung auf die gut organisierten Kernbereiche verweist die Gewerkschaften auf eine tendenziell schwindende Nischenexistenz innerhalb einer zunehmend von prekärer Beschäftigung geprägten Arbeitswelt. Eine so kontinuierlich abschmelzende Gewerkschaftsbewegung wäre auch politisch weitestgehend bedeutungslos.

4Die Gewerkschaften müssen deutlicher die Mitgliedernähe suchen. Interventionsfähige Gewerkschaften brauchen ein verstärktes ehrenamtliches Engagement, welches sich nur in demokratisierten Strukturen nachhaltig entwickeln kann. Eine zunehmende Bürokratisierung steht dem ebenso entgegen wie die vornehmliche Zurichtung der Gewerkschaften zum bloßen Servicelieferanten à la ADAC.

5Die Gewerkschaften müssen sich selbst und ihre Mitglieder wieder stärker politisieren. Dazu gehört sowohl die Perspektive eines eigenständigen Projektes gesellschaftlicher Emanzipation und ihrer Verankerung über aktive Bildungsarbeit als auch die möglichst breite Einbeziehung der Mitglieder auf allen Ebenen. Bildungsarbeit darf dabei keine Dienstleistung, sondern muss eine Kernaufgabe sein, welche Aufklärung, Alternativdebatten und Mobilisierungen befördert. Beschlüsse, Kampagnen oder Tarifabschlüsse dürfen nicht mehr "vom Himmel fallen". Eine Orientierung auf Aktionen und aktive Konfliktbearbeitung, auch außerhalb von Tarifrunden, ist für die gewerkschaftliche Identifikation und die Politisierung der Mitglieder eine unabdingbare Voraussetzung.

6Im real existierenden Kapitalismus müssen die Gewerkschaften immer auch kooperations- und kompromissfähig sein. Verhandlungsmacht setzt jedoch die Generierung von autonomer Gegenmacht zum Kapital voraus. Ohne diese bleibt den Gewerkschaften nur die Rolle eines wenig erfolgreichen "kollektiven Bettlers". Überkommenen sozialpartnerschaftlichen Strategien fehlt zunehmend der kooperationswillige Partner auf der Kapitalseite. Wo diese Vorstellung ohne realistische Grundlage weiter aufrechterhalten wird, erweist sie sich im Konfliktfall nicht selten als Illusion. Die auf den Konfrontationskurs des Kapitals unvorbereiteten Beschäftigten und ihre Interessenvertreter reagieren nicht selten hilflos und passiv. Die Schwächung der gewerkschaftlichen Interventionsfähigkeit ist die Folge. Die Bedeutung von Gegenmacht droht durch die Orientierung an betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten auch bei Gewerkschaftern und Betriebsräten verdrängt zu werden. Hier müssen die Gewerkschaften aktiv gegen wirken.

7Der zunehmenden gesellschaftlichen Aufspaltung und Ausgrenzung entsprechend der kapitalistischen Konkurrenzlogik müssen die Gewerkschaften den Anspruch auf ein solidarisches Leben miteinander entgegensetzen. Dies bedeutet auch, sich dem Ausspielen gegeneinander von Belegschaften, Standorten, Hoch- und Niedriglohnsektoren, Beschäftigten im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft etc. zu widersetzen. Beispielsweise muss die vorherrschende Tendenz der entsolidarisierenden Verbetrieblichung der Arbeitsbeziehungen, welche die Gewerkschaften letztlich in ihrem Bestand gefährdet, durch die Durchsetzung von überbetrieblichen, überörtlichen und branchen- bzw. berufsübergreifenden Standards bekämpft werden. Die Überwindung der zunehmenden Spaltung in Kern- und Randbelegschaften muss, schon um der eigenen gewerkschaftlichen Handlungsfähigkeit willen, ein prioritäres Thema sein.

8Den in Deutschland vollzogenen gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen droht eine zunehmende Fragmentierung durch Separierungen einzelner Berufs- und Interessengruppen zu folgen. In der Konsequenz käme es zu Abspaltungen bzw. Neugründungen von korporativen Verbänden. Den diesen Bestrebungen zugrunde liegenden Konzepten exklusiver Solidarität innerhalb relativ gut qualifizierter und materiell privilegierter Beschäftigtengruppen dürfen die Gewerkschaften nicht entgegenkommen, wollen sie sich nicht schrittweise selbst zerlegen. Dem entgegengesetzt muss eine solidarische Vernetzung von Tarifauseinandersetzungen und Arbeitskämpfen gewollt und organisiert werden.

9Eine stärkere wissenschaftliche Grundierung von gewerkschaftlichen Strategieansätzen ist notwendig und muss die immer komplexeren Strukturen in Ökonomie und Politik bearbeiten. Die nachlassende gewerkschaftliche Verankerung unter Wissenschaftlern muss wieder gestärkt werden.

10Die Gewerkschaften müssen verstärkt mit anderen sozialen Bewegungen national und international zusammenarbeiten, wie bei den Sozialforen und der Lidl-Kampagne beispielgebend geschehen. Dies setzt voraus, sich gegenseitig als gleichberechtigte Partner ernst zu nehmen. Gefordert ist die Bereitschaft, voneinander zu lernen. Eine solche Zusammenarbeit wird die Durchsetzungsfähigkeit verbessern, aber auch auf Politik und Kultur der Gewerkschaften einen erneuernden und belebenden Einfluss haben.
Über die sozialen Bewegungen vermitteln sich den Gewerkschaften dabei nicht zuletzt auch neue Durchsetzungsstrategien (z.B. Kampagnentechniken), auf die diese zunehmend als Ergänzung zu herkömmlichen Kampfmitteln angewiesen sind.

11Das Verhältnis zu Staat und Parteien wird in der Regel kein privilegiertes mehr sein. Nach der Aufkündigung der historischen Partnerschaft durch die Sozialdemokratie, müssen die Gewerkschaften sich offen, flexibel und aktiv gegenüber den politischen Kräften bewegen. Punktuelle Bündnisse sind nach Maßgabe der Stärkung des Gegenmachtpotenzials zum Kapital zu schließen.

12Der europäische Integrationsprozess stellt eine Chance für die gewerkschaftliche Erneuerung dar. Voraussetzung ist eine Orientierung gegen die vorherrschende neoliberale Ideologie. Es gilt, für einen alternativen Entwicklungspfad, die Reregulierung und die Harmonisierung von sozialen Standards auf dem höchsten europäischen Niveau zu mobilisieren. Besonders anschlussfähig scheint uns der Kampf gegen die fortschreitende Flexibilisierung der sozialen Sicherung, wie sie sich hinter den Konzepten der Flexicurity verbergen sowie für eine Steigerung öffentlicher Ausgaben im Sozialsektor. Die Einführung eines Systems europaweiter, armutsfester Mindestlöhne ist zu diskutieren. Zentral muss eine europaweite Kampagne gegen die Enteignung von Lebensarbeitsleistung durch Rentenkürzungen und Lebensarbeitszeitverlängerungen stehen. Die Verteidigung der öffentlichen Rentensicherungssysteme gegen den Zugriff der Kapitalmärkte kann ein hohes Mobilisierungspotenzial erschließen und die Gewerkschaften gesellschaftspolitisch auf europäischer Ebene interventionsfähig werden lassen.

13Die Gewerkschaften müssen sich sehr viel stärker internationalisieren. Es reicht nicht festzustellen, dass die internationalen Strukturen und Vernetzungen völlig unzureichend ausgebildet sind: Sie sind oft in geradezu grotesker Weise nicht vorhanden. Der "globalisierten" Realität tragen die Gewerkschaften mit ihren weitgehend defensiven Reaktionsmustern und dem Verharren auf der nationalen Ebene kaum Rechnung. Direkter Austausch, über die Koordination von Euro- und Weltbetriebsräten hinaus bis hin zur Ebene der aktiven Mitglieder, ist machbar und sinnvoll. Nötig sind zudem international vernetzte Kampagnen und Arbeitskämpfe, wie sie mittlerweile im Transportsektor erfolgreich geführt werden (Hafenarbeiter). Ganz zentral steht für die ehren- und hauptamtlichen Funktionäre die Erlangung von Sprachkompetenz. Sie ist die Grundvoraussetzung für die notwendige internationale gewerkschaftliche Kooperation in einer "globalisierten" Welt.

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang