SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2006, Seite 10

Krankenkassen außer Kontrolle

Die Selbstverwaltung wird zur Marktreife abgewickelt

Vor zehn Jahren fiel der Startschuss. Die Politiker von SPD und CDU gaben uns die "Freiheit", die Krankenkasse zu wechseln. Fast die Hälfte der Versicherten meldete sich seitdem bereits mindestens einmal bei einer neuen Krankenkasse. Ausschlaggebend bei dieser Entscheidung war fast immer ein aktuell niedrigerer Beitragssatz. Eine Studie der AOK berichtet: "Am höchsten ist die Wechselbereitschaft bei freiwillig versicherten Männern unter 40 Jahren, ohne mitversicherter Ehefrau und Kindern. Hier interessierten sich aktuell 28,6% für einen Wechsel ihrer Krankenkasse." Diese Sorte Freiheit wird offenbar von den gut Betuchten genutzt.
Die erzwungene Konkurrenz zwischen den Kassen beschert uns anderen zwar nicht die versprochenen billigen Tarife. Doch sie hat die Bindung der "Kunden" an ihre Kasse weitgehend aufgebrochen. Darum läuten nach 120 Jahren die Totenglocken für die Selbstverwaltung. Wir begeistern uns kaum für die Machenschaften unserer derzeitigen Telefonanbieter; wir begeistern uns genauso wenig für die Versorgungspläne von AOK, Barmer und DAK. Unsere Versicherungen sind uns fremd geworden. Kunden suchen sich ihre Anbieter mühsam aus und verfluchen dabei den unübersichtlichen Markt. Sie wollen den Dschungel nicht noch selbst verwalten müssen.
Die schwarz-rote Regierung in Berlin nutzt diese Schwäche und entmachtet in diesen Tagen die Krankenkassen. Die Beitragshöhe, der Beitragseinzug, die Verwaltung und die Versorgung — all das wird stückweise den Kassen entzogen und in die Hände von Behörden übergeben. Die Koalition aus verkommenen Sozialpartnern und offenen Unternehmerinteressen vergreift sich dabei an einer der ältesten Errungenschaften der deutschen Arbeiterbewegung. Es waren ja gerade die Kumpel aus dem Bergbau und die Hüttenknechte, die sich gegenseitig gegen die Folgen von Unfällen und Krankheiten absicherten. Ihre Solidarkassen drohten zu Keimzellen einer Gegengesellschaft zu werden.
Gegen ihren wütenden Protest griff darum Reichkanzler Bismarck nach ihren Kassen. Er erzwang vor 120 Jahren den Zutritt der Arbeitgeber und wird in unseren Schulbüchern als "Erfinder" der Sozialversicherungen gefeiert. Wo bleibt heute der Protest, wenn diese Kassen so völlig umgekrempelt werden? Wo stehen jetzt die Gewerkschaftsführer der Knappen? Sie stehen nicht einmal in der zweiten Reihe, sondern sind bereits beim Überlaufen ins feindliche Lager.
Als erste Krankenkasse will die Knappschaft künftig Protestaktionen der anderen Kassen gegen die Gesundheitsreform nicht mehr unterstützen. Die 1,4 Millionen Mitglieder zählende Knappschaft nennt als Grund in einem Rundschreiben die "direkten Einflussmöglichkeiten des Ministeriums auf unser Haus und mittelbar disziplinarisch auf die Geschäftsführung". Zwar werde die Knappschaft die übrigen Kassen im Streit um die Pläne von Ministerin Schmidt (SPD) weiter fachlich beraten. Doch müsse sie bei allen Veröffentlichungen künftig "ungenannt bleiben".

Tobias Michel

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