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SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2006, Seite 17

Brasilien

Mit knirschenden Zähnen

Der frühere Chef von Brasiliens größter Entwicklungsbank äußerte, dass die Regierung Lula "die brutalste Politik der Konzentration von Reichtum und Einkommen auf diesem Planeten praktiziert".
Seine Wiederwahl bei den Präsidentschaftswahlen vom 29.Oktober ist für Lula ein hochgradig befriedigendes Resultat, steckte er doch vor einem Jahr noch in einer tiefen politischen Krise. Seine Arbeiterpartei (PT) wurde nicht nur beschuldigt, einen illegalen Schmiergelderfonds zu unterhalten, der zum größten Teil von Bestechungsgeldern privater Unternehmen für die Gewährung öffentlicher Aufträge gespeist wurde, sondern auch die Stimmen von Kongressabgeordneten gekauft zu haben.
Weit davon entfernt, das notorisch korrupte politische System zu säubern, wie er es während seiner Wahlkampagne von 2002 versprochen hatte, zuckte Lula nur mit den Schultern und bemerkte, dass Politik ein schmutziges Spiel sei und die PT dagegen nicht allzuviel machen könne.
Wenige Brasilianer auf der Linken werden besonders glücklich darüber sein, dass Lula eine weitere Amtszeit erhält. Ich verfolge Brasiliens politische Bühne seit über drei Jahrzehnten und habe seitdem das Land nicht so deprimiert und matt gesehen wie gegenwärtig. Sogar als ich zum ersten Mal dort war, in den frühen 70er Jahren, als die Generäle an der Macht jede abweichende politische Meinung brutal unterdrückten, war Brasiliens Linke voller Hoffnung. Wiederholt wurde mir gesagt, dass die soziale Ungleichheit im Land so krass und das wirtschaftliche Potenzial des Landes so groß sei, dass die Menschen sich früher oder später erheben und weitreichende Reformen verlangen würden.
Dieser alte Optimismus hat sich in Luft aufgelöst. Der vielleicht schwerwiegendste Vorwurf der heutigen Linken gegenüber Lula ist, dass er die sozialen Bewegungen demobilisiert hat. Im Januar 2003 brachte er einige der renommiertesten Führer der Massenbewegungen (besonders aus dem Gewerkschaftsdachverband CUT) in die Regierung und schwächte so die Arbeiterbewegung ernstlich, und er benutzte seine eigene Herkunft aus der Arbeiterklasse schamlos, um sozialen Protest zu entschärfen.
Bei vielen Gelegenheiten appellierte er an die Geduld: "Es hat mehr als 500 Jahre gebraucht, um einen Mann aus der Arbeiterklasse zum Präsidenten zu wählen, also dürft ihr mich jetzt nicht schwächen. Ich bin arm wie ihr. Ich habe erfahren, wie das ist, wenn man am Abend hungrig ins Bett geht. Gebt mir Zeit und ich werde eure Probleme lösen."
Es ist wahr, dass Lula einige wirkliche Verbesserungen für die ganz Armen zuwege gebracht hat. Sein soziales Wohlfahrtsprogramm Bolsa Familia hat 9 Millionen Familien eine kleine monatliche Zahlung eingebracht, wenn sie sich verpflichten, ihre Kinder in die Schule zu schicken. 37% der Bevölkerung können heute mehr für ihre Ernährung ausgeben als noch im Jahr 2002. Es sind diese sehr armen Familien, die den Grundstock von Lulas Anhängerschaft bilden. Für sie ist wichtig, dass sich ihr Leben verbessert hat.
Aber neben dieser maßvollen Initiative zur Abschaffung der absoluten Armut hat die PT eine orthodox-neoliberale Wirtschaftspolitik betrieben, die in die entgegengesetzte Richtung geht. Eine Clique rechter, an den USA orientierter Bankiers kontrolliert das Finanzministerium und würgt jede Opposition ab. Diese Bankiers haben Lula davon überzeugt, dass er eine extreme Antiinflationspolitik benötigt, um das "Vertrauen des Auslands" in die Wirtschaft zu bewahren. Als Resultat hat Brasilien die weltweit höchsten Zinsraten im Inland — enorme 17—18%. Da Brasiliens öffentliche Verschuldung sich auf gewaltige 1 Billion Reais (360 Milliarden Euro) beläuft, versucht die Regierung ständig öffentliche Anleihen herauszugeben, um Geld für die Zahlung der Zinsen hereinzubekommen. Dies nährt seinerseits die Verschuldung.
Das ganze Verfahren ist zu einem perversen Mechanismus für die Verschärfung der sozialen Ungleichheit geworden. Gerade mal 20000 brasilianische Familien können sich den Erwerb der Anleihen leisten und von dieser empörenden Gelegenheit, Geld zu machen, profitieren. Laut Carlos Lessa, bis zu seiner Entlassung durch Lula Präsident von BNDES, der größten Entwicklungsbank des Landes, bedeutet dies, "dass öffentliche Gelder von 100 Milliarden Reais an diese winzige Gruppe sehr reicher Leute gehen, verglichen mit den 7 Milliarden Reais, die [durch Bolsa Familia] die Armen erhalten. Somit praktiziert die Regierung die brutalste Politik der Konzentration von Reichtum und Einkommen auf dem Planeten. Dies ist die größte Niederträchtigkeit, die man sich vorstellen kann, und mit der Zeit wird es nur noch schlimmer."
Die PT war in den 80er Jahren von Hunderttausenden idealistischer Gewerkschafter und Basisaktivisten gegründet worden, die Brasilien verändern wollten. Viele von ihnen sind über das, was mit ihrer Partei geschehen ist, zutiefst schockiert. Im Jahr 2003 wurden die Senatorin Heloisa Helena und einige Kongressabgeordnete aus der PT ausgeschlossen, nachdem sie gegen die neoliberale Politik der Regierung gestimmt hatten. Sie bildeten schließlich eine neue sozialistische Partei, die PSOL. Anfang 2006 versuchte eine linke Fraktion innerhalb der PT bei internen Wahlen die Kontrolle über die Partei zu erringen. Sie scheiterte, was dazu führte, dass eine große Anzahl von Aktiven die Partei verließ.
Doch Brasiliens Linke ist nicht tot. Eine der Überraschungen des ersten Wahlgangs der Präsidentschaftswahl am 15.Oktober war das beachtliche Abschneiden von Heloisa Helena, die als Kandidatin der Linken Front, eines Bündnisses, an dem u.a. die PSOL beteiligt ist, 6,8 Millionen Stimmen erhalten hatte.
Beim zweiten Wahlgang stimmten die meisten linken Aktivisten für Lula, wenn auch mit knirschenden Zähnen, um zu verhindern, dass mit Gerardo Alckmin die Rechte wieder an die Macht gelangt. Lulas Wiederwahl wird auch von der Mehrheit der aktiven Linken in Lateinamerika weitgehend begrüßt. Trotz all seiner Mängel hat Lula eine solide politische Unterstützung für Hugo Chávez in Venezuela und Evo Morales in Bolivien geleistet. Mit Lula im Präsidentenpalast von Brasília wird es den Neocons im Weißen Haus schwerer fallen, der lateinamerikanischen "Achse des Guten" (Kuba, Venezuela, Bolivien) die gewünschten Schläge zu versetzen.

Sue Branford/d.Red.

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