SoZ - Sozialistische Zeitung |
Es gibt wieder eine Sozialismusdebatte. Nicht erst seit Hugo Chávez
entdeckt hat, dass seine Auseinandersetzung mit den Oligarchien des Landes eine ihre Herrschaft
transzendierende gesellschaftspolitische Vision erforderlich macht die er wieder Sozialismus nannte.
Chávez hat den Begriff erneut ins Massenbewusstsein gerückt. Doch das Terrain war vorbereitet:
Der politisch-intellektuelle Nährboden, auf dem seine Doppelmachtstrategien entwickelt wurden, ist die
globalisierungskritische Bewegung, die auf dem lateinamerikanischen Kontinent in den 90er Jahren ihren
Ausgang nahm.
Als Ernest Mandel 1991 zu einem Vortrag nach Berlin eingeladen war, saß ich im Foyer des Forum-
Hotels zufällig mit dem damaligen Wissenschaftssenator Manfred Ehrhardt an einem Tisch. Er machte mich
sofort als eine Anhängerin Mandels aus und bemerkte im Ton der Zufriedenheit: Der Sozialismus ist in
der Krise. Ich antwortete: Der Kapitalismus ist auch in der Krise. Er schaute mich mit großen Augen an
und wurde still. Damals konterten wir die Prophezeiungen über das Ende der Geschichte mit der
Gewissheit: Der durch den Niedergang des bürokratischen "Sozialismus" entfesselte
Kapitalismus schafft Zustände, die für die Mehrzahl der Menschen unerträglich werden. Sie
wollen von einem System wie dem "realen Sozialismus" zu Recht nichts wissen. Aber sie werden nach
Alternativen suchen. Und irgendwann nennen sie sie auch wieder Sozialismus.
Die globalisierungskritische Bewegung
organisiert seit 2001 alljährlich auf verschiedenen Ebenen Sozialforen, in deren Mittelpunkt sehr
schnell die Suche nach Alternativen gerückt ist. Die breite Schicht von Intellektuellen, Aktiven und
Künstlern, die hier regelmäßig jenseits von parteipolitischer Zugehörigkeit ihre Ideen
austauschen, vermeidet den Begriff Sozialismus eher. Zu unterschiedlich sind die Bewertungen des
gescheiterten Experiments und zu unausgegoren noch Alternativmodelle, die die alten Fehler nicht
wiederholen. Das Sozialforum ist eine gigantische, weltweite Suchbewegung nach einem neuen
Sozialismusmodell. Allein deshalb ist es eine solche Erfolgsstory geworden. Ein bisschen von dieser Debatte
schwappt auch zu uns nach Deutschland über.
Erhard Crome hat glaube ich alle
Weltsozialforen und Europäischen Sozialforen besucht, die es bisher gegeben hat, sowie verschiedene
landesweite Sozialforen; die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die ihm die Gelegenheit dazu verschaffte, begleitet
diesen Prozess intellektuell seit Anbeginn und gehört zu den aktivsten politischen Kräften auf
diesem Feld.
Was seine Essaysammlung über den
Sozialismus des 21.Jahrhunderts lesenswert macht, ist die Tatsache, dass sich der gelernte DDR-Bürger,
Mitglied der SED und der PDS, trotz der Niederlage des "realen Sozialismus" von der neuen
Suchbewegung hat anstecken lassen und offensiv versucht, die Erfahrungen des gescheiterten
Sozialismusmodells darin einzubringen.
Das Unterfangen ist in der
Sozialforumsbewegung nicht selbstverständlich. Eher herrscht die Tendenz vor, dieses Kapitel der
Geschichte als erledigt zu betrachten. Die Sozialforumsbewegung ist dominiert vom Nord-Süd-
Verhältnis und von der Fragestellung, wie die räuberische Herrschaft der Multis weltweit
abgeschüttelt werden kann. Die zu einem neuen Anlauf ansetzen, sehen in 1989 meist nur den Sieg des
Feindes, nicht die Fehler, die ihn ermöglichten.
Cromes Essays stellen eine Kombination aus
Reflexionen über die Ursachen des Scheiterns und die Suche nach neuen Antworten dar. Das ist, es sei
wiederholt, etwas Neues, vor allem in der Tradition, aus der er kommt.
An grundlegender Kritik am gescheiterten
Sozialismusmodell seitens ehemaliger Mitglieder Kommunistischer Parteien hat es in der Geschichte des
20.Jahrhunderts nicht gefehlt; die meisten von ihnen sind letzten Endes entweder bei der Auffassung
gelandet, dass der Kapitalismus doch die bessere Alternative sei oder dass seine Überwindung objektiv
noch nicht auf der Tagesordnung stehe. Nur wenige haben den Weg zur linken Opposition gefunden, die die
Aktualität des Sozialismus verbindet mit der Überzeugung, dass nur ein ganz anderes Modell diesen
Namen wert sein kann.
Cromes Essays haben manchmal etwas von den
Debatten, die an die der Eurokommunisten erinnern: aus seiner Sicht unterscheiden sich kommunistische
Bewegung und alte Sozialdemokratie vor allem in der Betonung der Mittel Demokratie vs. Revolution
(die Geschichte mit der Auflösung der Konstituierenden Versammlung 1918); der zur Parteidoktrin
geronnene Marxismus ist bei Marx selber schon angelegt im Glauben an den Endkampf zwischen Bourgeoisie und
Proletariat; die Kommunisten setzen auf den Staat und außerökonomische Mittel, die Produktion
anders zu organisieren, "nämlich über eine Zuteilung von Ressourcen, die Verteilung der
Arbeiter auf die Produktionszweige, die Kontrolle und Verordnung der Preise usw." "Sozialismus
(hingegen) ist die systematische Entwicklung der Idee des Kapitals, des Eigentums, der Familie, der
Gesellschaft und des Staates unter der Herrschaft der Arbeit" (Lorenz von Stein); der Markt ist in
seiner Innovationsfunktion ständige Steigerung der Arbeitsproduktivität, Anpassung der
Produktion an die Bedürfnisse durch nichts zu ersetzen, das Wertgesetz nicht außer Kraft
zu setzen; "die Marktinstitutionen müssen nicht abgeschafft, sondern in ihrer Wirkungsweise
verändert werden".
Dabei bleibt er jedoch nicht mehr stehen.
Denn, wie er in der Vorbemerkung ausführt: "Der Sozialismus steht wieder auf der Tagesordnung als
Lösung für die Probleme, mit denen die Mühseligen und Beladenen heute zu ringen haben, und
sie können am Ende sicher sein: es wird eine andere Welt geben, eine, die Freiheit und ein
auskömmliches Dasein, Solidarität und Selbstbestimmung ... möglich macht."
Die Essays sind eine Einladung, daran
mitzuwirken: "Du kannst gleich mittun an einer anderen Zukunft, oder auch später. Es ist deine
Entscheidung. Die anderen werden nicht auf dich warten. Aber du bist eingeladen. Zugleich sei versichert,
niemand wird dir einen fertigen Plan aufdrängen wollen. Es gibt keinen. Er geht aus den Kämpfen
um Zukunft selbst hervor..."
Demokratie, Teilhabe jedes und jeder Einzelnen, Freisetzung von Kreativität stehen im Mittelpunkt
von Cromes Suche nach einem alternativen Sozialismusmodell. Hier kann er sich auf die praktischen
Erfahrungen mit partizipativer Demokratie in Brasilien stützen, auf die Traditionen der
Wirtschaftsdemokratie usw.
Intellektuell ist das der leichtere Teil
der Übung, wiewohl politische Positionen, die das Individuum radikal in den Mittelpunkt der
ökonomischen und politischen Entscheidungsprozesse stellen, in den Organisationen der Linken und der
Arbeiterbewegung immer noch äußerst randständig sind und skeptisch beäugt werden.
Dabei hält Crome sich nicht mehr daran
auf, das Subjekt der Umwälzung zu suchen; er sagt einfach: "Es kristallisiert sich in der
Entwicklung von selbst heraus." In einer Weltwirtschaft, die inzwischen vollständig unter die
Akkumulationsgesetze des Kapitals subsumiert ist und in der die übergroße Mehrheit der Menschen
vom Verkauf ihrer Arbeitskraft abhängt, ihr Schicksal häufig von einer Handvoll Konzernen
entschieden wird, stimmt das auch.
Da ist die Debatte eher die, wie die
Spaltungslinien innerhalb dieser großen Masse von Proletarisierten verlaufen und wie sie
überwunden werden können.
Die Erkenntnis, dass die Geschichte ein
offener Prozess ist, ist eine weltanschauliche Annahme, die uns radikal vom 19.Jahrhundert trennt. Doch
dass die Menschen ihre eigene Geschichte machen, macht die Frage nach dem Ziel, das wir anstreben und
für das wir streiten müssen, nicht überflüssig.
Davor scheut Crome zurück, in der
Beziehung hält er es mit Bernstein: Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts: "Die
Durchsetzung eines vorab bestimmten Richtigen setzt stets die Diktatur voraus." Klassenkampf endet im
Terror. Die Ironie der Geschichte will es, dass auch diese Sichtweise irgendwie bahnt sich der
gesellschaftliche Fortschritt schon seinen Weg auf eben dem gesetzmäßigen
Fortschrittsglauben aufsetzt, den Crome zuvor scharfsinnig gegeißelt und den das 20.Jahrhundert
vielfach widerlegt hat.
In seinem Modell verschwindet die Klassengesellschaft hinter dem Individuum, die Arbeiterklasse ist
keine theoretische und politische Bezugsgröße mehr. "Ein politisches Angebot von links zu
machen heißt, es an alle zu adressieren und davon auszugehen, dass die Linke eines Tages eine sichere
Mehrheit haben wird." Das wird sie nicht, wenn sie nicht den Gesetzen des Marktes und der Konkurrenz
Gesetze der solidarischen Ökonomie und das Prinzip entgegensetzt, dass die Köchin die
Staatsgeschäfte führen können muss. Da ist immer noch ein großes konzeptionelles
Vakuum.
In Anlehnung an Schumpeter skizziert Crome
die bekannten Grundzüge einer "gemischten Wirtschaft", mit weitgehend verstaatlichten
Sektoren, einem starken genossenschaftlichen Anteil und eben auch Marktwirtschaft (vor allem im Bereich der
kleinen Warenproduktion). Wer der Freiheit und nicht einer bürokratischen Planwirtschaft das Wort
redet, kann dagegen kaum etwas einwenden.
Aber dem Grundproblem, das zu lösen
ist, sind wir damit keinen Schritt näher gekommen: Der grundlegende Zusammenhang einer
kapitalistischen Gesellschaft stellt sich über den Markt her; Menschen treten in den wesentlichen
Handlungen, die ihrer Existenzsicherung dienen, als Käufer und Verkäufer von Waren auf.
Erst auf dieser Grundlage kann sich das
Gesetz der allgemeinen Konkurrenz und der privaten Aneignung von Mehrwert überhaupt zum
übermächtigen gesellschaftsbestimmenden Gesetz entwickeln. Wenn wir dies aber nicht mehr wollen,
wenn nicht private Konzerne, sondern eine demokratische Öffentlichkeit Entscheidungen über die
Einführung bestimmter Technologien, die Zulassung oder nicht von bestimmten Produkten und
Produktionsverfahren, die Aufstellung gesellschaftlicher Prioritäten der Bedürfnisbefriedigung
entscheiden soll, was mehr und mehr nicht nur ökologisch notwendig, sondern auch demokratisch
wünschenswert ist, dann ist ein anderer Regulierungsmechanismus als der Markt erforderlich.
Dann reden wir über Planung
nicht in der Form, dass eine kleine Clique entscheidet, die das Monopol der politischen Macht an sich
gerissen hat, sondern in der Form einer breiten demokratischen Willensbildung über die große
gesellschaftliche Investitionen und die Setzung von Rahmenbedingungen. Und wir reden auch über den
materiellen und zeitlichen Spielraum für das Individuum, Neues zu entwickeln und anzubieten, auch wenn
es am Mainstream völlig vorbeigeht. Demokratie ist eine Herausforderung im Hinblick auf die Formen
kollektiver Willensbildung, nicht im Hinblick auf das atomisierte Agieren auf dem Markt.
Sozialismus ist dann, wenn wir
tatsächlich demokratische Planung haben. Wenn die wichtigen Entscheidungen bewusst und vorab
gefällt werden, nicht hinter dem Rücken der Akteure, determiniert durch die Marktmacht Einzelner.
Dafür brauchen wir Zeit Zeit für alle, an den politischen Entscheidungen teilzunehmen, und
daher radikale Verkürzung der Zeit für die Herstellung von Waren und Dienstleistungen.
Wir brauchen geeignete, durchaus
unterschiedliche, Formen der Willensbildung und der Öffentlichkeit und die Abschaffung des
Berufspolitikertums; wir brauchen die materielle Absicherung für jeden (Grundsicherung); wir brauchen
eine hohe Qualifikation aller und eine radikale "Demokratisierung" der Wissenschaften; und wir
brauchen die besten und umweltverträglichsten technologischen Verfahren.
Man darf das Kind nicht mit dem Bade
ausschütten: Die bürokratische Planwirtschaft in der DDR ist ja nicht einfach daran gescheitert,
dass das Gesetz von Angebot und Nachfrage nicht respektiert wurde. Die Monopolisierung der politischen
Macht hat verhindert, dass eine effizientere und demokratischere Form der Bedürfnisermittlung
geschaffen wurde als die über den Markt und die private Aneignung des Mehrprodukts. Die über den
Markt ist aber gerade dabei, die natürlichen und gesellschaftlichen Grundlagen unseres Lebens zu
zerstören. Es ist also höchste Eisenbahn, über den Kapitalismus hinauszugehen.
Angela Klein
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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