SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2006, Seite 19

Sozialismus im 21.Jahrhundert

Von der Suchbewegung zur Zielsetzung

Erhard Crome: Sozialismus im 21.Jahrhundert. Zwölf Essays über die Zukunft, Berlin: Dietz Verlag, 2006 (Rosa-Luxemburg-Stiftung, Texte 17)



Es gibt wieder eine Sozialismusdebatte. Nicht erst seit Hugo Chávez entdeckt hat, dass seine Auseinandersetzung mit den Oligarchien des Landes eine ihre Herrschaft transzendierende gesellschaftspolitische Vision erforderlich macht — die er wieder Sozialismus nannte. Chávez hat den Begriff erneut ins Massenbewusstsein gerückt. Doch das Terrain war vorbereitet: Der politisch-intellektuelle Nährboden, auf dem seine Doppelmachtstrategien entwickelt wurden, ist die globalisierungskritische Bewegung, die auf dem lateinamerikanischen Kontinent in den 90er Jahren ihren Ausgang nahm.

Als Ernest Mandel 1991 zu einem Vortrag nach Berlin eingeladen war, saß ich im Foyer des Forum- Hotels zufällig mit dem damaligen Wissenschaftssenator Manfred Ehrhardt an einem Tisch. Er machte mich sofort als eine Anhängerin Mandels aus und bemerkte im Ton der Zufriedenheit: Der Sozialismus ist in der Krise. Ich antwortete: Der Kapitalismus ist auch in der Krise. Er schaute mich mit großen Augen an und wurde still. Damals konterten wir die Prophezeiungen über das Ende der Geschichte mit der Gewissheit: Der durch den Niedergang des bürokratischen "Sozialismus" entfesselte Kapitalismus schafft Zustände, die für die Mehrzahl der Menschen unerträglich werden. Sie wollen von einem System wie dem "realen Sozialismus" zu Recht nichts wissen. Aber sie werden nach Alternativen suchen. Und irgendwann nennen sie sie auch wieder Sozialismus.
Die globalisierungskritische Bewegung organisiert seit 2001 alljährlich auf verschiedenen Ebenen Sozialforen, in deren Mittelpunkt sehr schnell die Suche nach Alternativen gerückt ist. Die breite Schicht von Intellektuellen, Aktiven und Künstlern, die hier regelmäßig jenseits von parteipolitischer Zugehörigkeit ihre Ideen austauschen, vermeidet den Begriff Sozialismus eher. Zu unterschiedlich sind die Bewertungen des gescheiterten Experiments und zu unausgegoren noch Alternativmodelle, die die alten Fehler nicht wiederholen. Das Sozialforum ist eine gigantische, weltweite Suchbewegung nach einem neuen Sozialismusmodell. Allein deshalb ist es eine solche Erfolgsstory geworden. Ein bisschen von dieser Debatte schwappt auch zu uns nach Deutschland über.
Erhard Crome hat glaube ich alle Weltsozialforen und Europäischen Sozialforen besucht, die es bisher gegeben hat, sowie verschiedene landesweite Sozialforen; die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die ihm die Gelegenheit dazu verschaffte, begleitet diesen Prozess intellektuell seit Anbeginn und gehört zu den aktivsten politischen Kräften auf diesem Feld.
Was seine Essaysammlung über den Sozialismus des 21.Jahrhunderts lesenswert macht, ist die Tatsache, dass sich der gelernte DDR-Bürger, Mitglied der SED und der PDS, trotz der Niederlage des "realen Sozialismus" von der neuen Suchbewegung hat anstecken lassen und offensiv versucht, die Erfahrungen des gescheiterten Sozialismusmodells darin einzubringen.
Das Unterfangen ist in der Sozialforumsbewegung nicht selbstverständlich. Eher herrscht die Tendenz vor, dieses Kapitel der Geschichte als erledigt zu betrachten. Die Sozialforumsbewegung ist dominiert vom Nord-Süd- Verhältnis und von der Fragestellung, wie die räuberische Herrschaft der Multis weltweit abgeschüttelt werden kann. Die zu einem neuen Anlauf ansetzen, sehen in 1989 meist nur den Sieg des Feindes, nicht die Fehler, die ihn ermöglichten.
Cromes Essays stellen eine Kombination aus Reflexionen über die Ursachen des Scheiterns und die Suche nach neuen Antworten dar. Das ist, es sei wiederholt, etwas Neues, vor allem in der Tradition, aus der er kommt.
An grundlegender Kritik am gescheiterten Sozialismusmodell seitens ehemaliger Mitglieder Kommunistischer Parteien hat es in der Geschichte des 20.Jahrhunderts nicht gefehlt; die meisten von ihnen sind letzten Endes entweder bei der Auffassung gelandet, dass der Kapitalismus doch die bessere Alternative sei oder dass seine Überwindung objektiv noch nicht auf der Tagesordnung stehe. Nur wenige haben den Weg zur linken Opposition gefunden, die die Aktualität des Sozialismus verbindet mit der Überzeugung, dass nur ein ganz anderes Modell diesen Namen wert sein kann.
Cromes Essays haben manchmal etwas von den Debatten, die an die der Eurokommunisten erinnern: aus seiner Sicht unterscheiden sich kommunistische Bewegung und alte Sozialdemokratie vor allem in der Betonung der Mittel — Demokratie vs. Revolution (die Geschichte mit der Auflösung der Konstituierenden Versammlung 1918); der zur Parteidoktrin geronnene Marxismus ist bei Marx selber schon angelegt im Glauben an den Endkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat; die Kommunisten setzen auf den Staat und außerökonomische Mittel, die Produktion anders zu organisieren, "nämlich über eine Zuteilung von Ressourcen, die Verteilung der Arbeiter auf die Produktionszweige, die Kontrolle und Verordnung der Preise usw." "Sozialismus (hingegen) ist die systematische Entwicklung der Idee des Kapitals, des Eigentums, der Familie, der Gesellschaft und des Staates unter der Herrschaft der Arbeit" (Lorenz von Stein); der Markt ist in seiner Innovationsfunktion — ständige Steigerung der Arbeitsproduktivität, Anpassung der Produktion an die Bedürfnisse — durch nichts zu ersetzen, das Wertgesetz nicht außer Kraft zu setzen; "die Marktinstitutionen müssen nicht abgeschafft, sondern in ihrer Wirkungsweise verändert werden".
Dabei bleibt er jedoch nicht mehr stehen. Denn, wie er in der Vorbemerkung ausführt: "Der Sozialismus steht wieder auf der Tagesordnung als Lösung für die Probleme, mit denen die Mühseligen und Beladenen heute zu ringen haben, und sie können am Ende sicher sein: es wird eine andere Welt geben, eine, die Freiheit und ein auskömmliches Dasein, Solidarität und Selbstbestimmung ... möglich macht."
Die Essays sind eine Einladung, daran mitzuwirken: "Du kannst gleich mittun an einer anderen Zukunft, oder auch später. Es ist deine Entscheidung. Die anderen werden nicht auf dich warten. Aber du bist eingeladen. Zugleich sei versichert, niemand wird dir einen fertigen Plan aufdrängen wollen. Es gibt keinen. Er geht aus den Kämpfen um Zukunft selbst hervor..."

Wonach suchen wir denn?

Demokratie, Teilhabe jedes und jeder Einzelnen, Freisetzung von Kreativität stehen im Mittelpunkt von Cromes Suche nach einem alternativen Sozialismusmodell. Hier kann er sich auf die praktischen Erfahrungen mit partizipativer Demokratie in Brasilien stützen, auf die Traditionen der Wirtschaftsdemokratie usw.
Intellektuell ist das der leichtere Teil der Übung, wiewohl politische Positionen, die das Individuum radikal in den Mittelpunkt der ökonomischen und politischen Entscheidungsprozesse stellen, in den Organisationen der Linken und der Arbeiterbewegung immer noch äußerst randständig sind und skeptisch beäugt werden.
Dabei hält Crome sich nicht mehr daran auf, das Subjekt der Umwälzung zu suchen; er sagt einfach: "Es kristallisiert sich in der Entwicklung von selbst heraus." In einer Weltwirtschaft, die inzwischen vollständig unter die Akkumulationsgesetze des Kapitals subsumiert ist und in der die übergroße Mehrheit der Menschen vom Verkauf ihrer Arbeitskraft abhängt, ihr Schicksal häufig von einer Handvoll Konzernen entschieden wird, stimmt das auch.
Da ist die Debatte eher die, wie die Spaltungslinien innerhalb dieser großen Masse von Proletarisierten verlaufen und wie sie überwunden werden können.
Die Erkenntnis, dass die Geschichte ein offener Prozess ist, ist eine weltanschauliche Annahme, die uns radikal vom 19.Jahrhundert trennt. Doch dass die Menschen ihre eigene Geschichte machen, macht die Frage nach dem Ziel, das wir anstreben und für das wir streiten müssen, nicht überflüssig.
Davor scheut Crome zurück, in der Beziehung hält er es mit Bernstein: Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts: "Die Durchsetzung eines vorab bestimmten Richtigen setzt stets die Diktatur voraus." Klassenkampf endet im Terror. Die Ironie der Geschichte will es, dass auch diese Sichtweise — irgendwie bahnt sich der gesellschaftliche Fortschritt schon seinen Weg — auf eben dem gesetzmäßigen Fortschrittsglauben aufsetzt, den Crome zuvor scharfsinnig gegeißelt — und den das 20.Jahrhundert vielfach widerlegt hat.

Gemischte Wirtschaft

In seinem Modell verschwindet die Klassengesellschaft hinter dem Individuum, die Arbeiterklasse ist keine theoretische und politische Bezugsgröße mehr. "Ein politisches Angebot von links zu machen heißt, es an alle zu adressieren und davon auszugehen, dass die Linke eines Tages eine sichere Mehrheit haben wird." Das wird sie nicht, wenn sie nicht den Gesetzen des Marktes und der Konkurrenz Gesetze der solidarischen Ökonomie und das Prinzip entgegensetzt, dass die Köchin die Staatsgeschäfte führen können muss. Da ist immer noch ein großes konzeptionelles Vakuum.
In Anlehnung an Schumpeter skizziert Crome die bekannten Grundzüge einer "gemischten Wirtschaft", mit weitgehend verstaatlichten Sektoren, einem starken genossenschaftlichen Anteil und eben auch Marktwirtschaft (vor allem im Bereich der kleinen Warenproduktion). Wer der Freiheit und nicht einer bürokratischen Planwirtschaft das Wort redet, kann dagegen kaum etwas einwenden.
Aber dem Grundproblem, das zu lösen ist, sind wir damit keinen Schritt näher gekommen: Der grundlegende Zusammenhang einer kapitalistischen Gesellschaft stellt sich über den Markt her; Menschen treten in den wesentlichen Handlungen, die ihrer Existenzsicherung dienen, als Käufer und Verkäufer von Waren auf.
Erst auf dieser Grundlage kann sich das Gesetz der allgemeinen Konkurrenz und der privaten Aneignung von Mehrwert überhaupt zum übermächtigen gesellschaftsbestimmenden Gesetz entwickeln. Wenn wir dies aber nicht mehr wollen, wenn nicht private Konzerne, sondern eine demokratische Öffentlichkeit Entscheidungen über die Einführung bestimmter Technologien, die Zulassung oder nicht von bestimmten Produkten und Produktionsverfahren, die Aufstellung gesellschaftlicher Prioritäten der Bedürfnisbefriedigung entscheiden soll, was mehr und mehr nicht nur ökologisch notwendig, sondern auch demokratisch wünschenswert ist, dann ist ein anderer Regulierungsmechanismus als der Markt erforderlich.
Dann reden wir über Planung — nicht in der Form, dass eine kleine Clique entscheidet, die das Monopol der politischen Macht an sich gerissen hat, sondern in der Form einer breiten demokratischen Willensbildung über die große gesellschaftliche Investitionen und die Setzung von Rahmenbedingungen. Und wir reden auch über den materiellen und zeitlichen Spielraum für das Individuum, Neues zu entwickeln und anzubieten, auch wenn es am Mainstream völlig vorbeigeht. Demokratie ist eine Herausforderung im Hinblick auf die Formen kollektiver Willensbildung, nicht im Hinblick auf das atomisierte Agieren auf dem Markt.
Sozialismus ist dann, wenn wir tatsächlich demokratische Planung haben. Wenn die wichtigen Entscheidungen bewusst und vorab gefällt werden, nicht hinter dem Rücken der Akteure, determiniert durch die Marktmacht Einzelner. Dafür brauchen wir Zeit — Zeit für alle, an den politischen Entscheidungen teilzunehmen, und daher radikale Verkürzung der Zeit für die Herstellung von Waren und Dienstleistungen.
Wir brauchen geeignete, durchaus unterschiedliche, Formen der Willensbildung und der Öffentlichkeit und die Abschaffung des Berufspolitikertums; wir brauchen die materielle Absicherung für jeden (Grundsicherung); wir brauchen eine hohe Qualifikation aller und eine radikale "Demokratisierung" der Wissenschaften; und wir brauchen die besten und umweltverträglichsten technologischen Verfahren.
Man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten: Die bürokratische Planwirtschaft in der DDR ist ja nicht einfach daran gescheitert, dass das Gesetz von Angebot und Nachfrage nicht respektiert wurde. Die Monopolisierung der politischen Macht hat verhindert, dass eine effizientere und demokratischere Form der Bedürfnisermittlung geschaffen wurde als die über den Markt und die private Aneignung des Mehrprodukts. Die über den Markt ist aber gerade dabei, die natürlichen und gesellschaftlichen Grundlagen unseres Lebens zu zerstören. Es ist also höchste Eisenbahn, über den Kapitalismus hinauszugehen.

Angela Klein

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