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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2007, Seite 03

Die Achse der Hoffnung

Tariq Ali über Venezuela und den bolivarianischen Traum

In der muslimischen Welt dominieren militärisch effektive, aber politisch beschränkte religiöse Gruppen den Widerstand gegen das US-amerikanische Empire. Asien ist vernarrt ins Kapital. Europa liegt in tiefgreifender Erstarrung und die linken und sozialen Bewegungen der EU (Italien ist nur das jüngste Beispiel) befinden sich in einem fortgeschrittenen Stadium des Zerfalls. In Südamerika jedoch hat sich eine Achse der Hoffnung gebildet, die die imperiale Herrschaft auf jeder Ebene herausfordert. Die Demokratie, ausgehöhlt und keine Alternative im Norden, wird im Süden benutzt, um die Hoffnung zu erneuern.
Die Wiederwahl von Hugo Chávez Anfang Dezember in Venezuela markiert eine neue Stufe in diesem Prozess. Sein Rivale Manuel Rosales, von der Financial Times am 30.11. als "Mitte-Links"-Kandidat bezeichnet, war tief verwickelt in den niedergeschlagenen Putschversuch gegen Chávez im Jahre 2004. Rosales behauptet: "Ich werde auf niemandes Schoß sitzen", doch es ist kein wirkliches Geheimnis, dass er eng mit dem Weißen Haus verbunden ist.

Revolte gegen den "Washingtoner Konsens"

Die heute auf dem amerikanischen Kontinent ungleichmäßig um sich greifende Welle von Revolten und sozialen Bewegungen ist das unvermeidliche Ergebnis des "Washingtoner Konsenses", der ökonomischen Versklavung der Welt. Lateinamerika war das erste Laboratorium für jene Experimente Hayeks, die schließlich zum Washingtoner Konsens führten. Die vom späten Milton Friedman geführten "Chicago Boys", die Pioniere des Neoliberalismus, benutzten das Chile nach Pinochets Putsch von 1973 als Versuchsfeld. Es war eine für sie gute Situation. Die chilenische Arbeiterklasse und ihre beiden Hauptparteien waren zerschlagen. Ihre führenden Kader getötet oder waren "verschwunden".
Und nach der Machteroberung der Sandinisten in Nikaragua, sechs Jahre später, begannen die von den USA gestützten "Contras" ihre Ende der 80er Jahre erfolgreiche Konterrevolution. Anfang November diesen Jahres gewann der alte sandinistische Führer Daniel Ortega die Präsidentschaftswahlen in seinem Land. Von der Kirche gesegnet und einem früheren "Contra" als Vizepräsident flankiert, noch immer verabscheut vom US-Botschafter, ist Ortega zwar nur noch ein Schatten seines früheren Selbst. Trotzdem spiegelt sein Wahlsieg unzweifelhaft das Bedürfnis der Nikaraguaner nach Veränderungen wider. Wird Managua der radikalen Umverteilungspolitik des antiimperialistischen Caracas folgen oder sich mit Rhetorik begnügen und vom IWF abhängig bleiben?
Noch bessere Nachrichten kommen aus Quito (Ecuador). Hier hat Rafael Correa einen soliden Wahlerfolg eingefahren, ein dynamischer, junger, in den USA ausgebildeter Ökonom und früherer Finanzminister, der während seiner Wahlkampagne versprochen hat, Ecuadors Teilnahme an der von den USA organisierten amerikanischen Freihandelszone zurückzunehmen, die USA zu bitten, ihre Militärbasis in Manta zu räumen und der OPEC und der wachsenden bolivarianischen Bewegung beizutreten, die versucht, Südamerika gegen den Imperialismus zu vereinigen.
Correas Sieg kommt zu einer Zeit, in der sich Lateinamerika wieder auf den Weg macht. Es gab spektakuläre Demonstrationen des Volkswillens in Porto Alegre, Caracas, Buenos Aires, Cochabamba und Cuzco, um nur einige Städte zu nennen.
Dies hat einer Welt neue Hoffnung gegeben, die entweder in tiefer neoliberaler Erstarrung versunken ist (EU, USA, der Ferne Osten) oder unter der militärischen und ökonomischen Verwüstung durch die neue Weltordnung leidet (Irak, Palästina, Libanon, Afghanistan, Südasien). Der Kampf gegen den Washingtoner Konsens, dessen Sperrspitze die Bolivarianische Republik von Venezuela ist, hat die Wut des Weißen Hauses geweckt. Drei Versuche wurden gemacht, Hugo Chávez zu stürzen, inklusive eines von den USA und der EU gestützten Militärputsches.

Chávez‘ Ursprünge

Zum ersten Mal wurde Chávez im Februar 1999 zum Präsidenten gewählt, 10 Jahre nach einem Volksaufstand gegen die IWF- Stukturanpassungspolitik, der von jenem Carlos Andres Pérez blutig niedergeschlagen wurde, dessen Partei einmal der größte Vertreter der (sozialdemokratischen) Sozialistischen Internationale gewesen ist.
In seiner Wahlkampagne hatte Pérez die Ökonomen der Weltbank als "Genozid-Arbeiter im Solde des ökonomischen Totalitarismus" und den IWF als "eine Neutronenbombe, die Menschen tötet, aber Gebäude stehen lässt", beschimpft. Nach der Wahl kapitulierte er vor den Forderungen beider Institutionen, setzte die Verfassung außer Kraft, erklärte den Ausnahmezustand und befahl der Armee, die Protestierenden niederzumähen. Mehr als 2000 arme Menschen wurden von Truppen niedergeschossen. Das war der Gründungsmoment des bolivarianischen Aufstands in Venezuela.
Chávez und andere Offiziere der unteren Ränge organisierten den Protest gegen diesen Missbrauch und die Korruption in der Armee. 1992 organisierten die radikalen Offiziere eine Rebellion gegen jene, die die Schlächterei zu verantworten hatten. Sie scheiterte, weil sie nur kurz nach dem Trauma von 1989 stattfand, aber die Menschen haben sie nicht vergessen.
So kamen die neuen Bolivarianer an die Macht und begannen, langsam und vorsichtig sozialdemokratische Reformen in Gang zu setzen, die an Roosevelts "New Deal" und die Labour-Politik nach 1945 erinnern. Das war inakzeptabel in einer vom Washingtoner Konsens dominierten Welt. Daher auch die Versuche, ihn zu stürzen. Daher auch die Forderung von Pat Robertson, dem Führer der christlichen Rechten in den USA, dass Washington die umgehende Ermordung von Chávez organisieren sollte. Venezuela, bis dahin ein obskures Land in den Augen des Restes der Welt, wurde so plötzlich zum Leuchtfeuer.
Die Mehrheit von Chávez‘ Wählerinnen und Wählern bestand aus ängstlichen und getriebenen Menschen. Seit zehn Jahren fühlten sie sich nicht repräsentiert. Von den traditionellen Parteien verraten, missbilligten sie die betriebene neoliberale Politik, die in einem Angriff auf die armen Leute bestand und dazu diente, die parasitäre Oligarchie und eine korrupte Verwaltungs- und Gewerkschaftsbürokratie zu stützen. Sie missbilligten auch den Missbrauch der Ölreserven des Landes und die Arroganz der venezolanischen Elite, die den Wohlstand und eine hellere Hautfarbe dazu benutzten, sich auf Kosten der dunkelhäutigen und armen Mehrheit zu entfalten. Chávez zu wählen war ihre Rache.
Als klar wurde, dass Chávez moderate Veränderungen an den sozialen Strukturen des Landes vorzunehmen gedachte, schlug Washington Alarm. Nirgendwo wird die aus dieser Ecke kommende verbitterte Doppelmoral offensichtlicher als in ihren Aktionen und ihrer Propaganda gegen Venezuela, mit der Financial Times und dem Economist als Vorhut einer massiven Desinformationskampagne.
Vereint werden sie von ihren Vorurteilen gegen Chávez, dessen Aufstieg zur Macht als eine geisteskranke Verirrung angesehen wurde, weil sie die aus den Ölerträgen finanzierten Reformen — freie Gesundheit, Erziehung und Wohnung für die Armen — als eine Regression zu den schlechten alten Zeiten ansahen, als ersten Schritt auf dem Weg in den Totalitarismus.

Auf dem Weg zur regionalen Einheit?

Chávez hat seine Politik niemals verborgen. Die beiden Simóns des 18. und 19.Jahrhunderts — Bolívar und Rodríguez — hatten ihm eine einfache Lektion erteilt: bediene nicht die Interessen anderer; mach deine eigene politische und ökonomische Revolution; und vereine Südamerika gegen alle Imperien. Dies war der Kern seines Programms, das inakzeptabel ist für Unterstützer des Washingtoner Konsenses.
Der Schlüssel zur ernsthaften Herausforderung der USA liegt im regionalen Zusammenhalt. Das ist entscheidend. Als der Kabelkanal Telesur vor fast zwei Jahren in Caracas eröffnet wurde, entlarvte eines seiner ersten Programme ein schockierendes Ausmaß an Ignoranz unter den Südamerikanern. In fast allen Hauptstädten ergaben Umfragen, dass die Menschen den Namen ihrer eigenen Hauptstadt und den der USA kannten. Nur sehr wenige kannten zwei oder drei Hauptstädte ihres eigenen Kontinents!
So ist die regionale Einheit — die bolivarianische Föderation souveräner Staaten, von der Chávez unablässig spricht — notwendig, um vorwärts zu schreiten. Washington wird alles tun, um dies zu verhindern, weil ihnen ihre eigenen Interessen eher die unilateralen Beziehungen zu Ländern als zu Regionen diktieren (dies trifft selbst auf die EU zu). Eine regionale Einheit in Südamerika könnte einen überraschenden Einfluss auch auf den Norden und überall dort ausüben, wo die spanischsprachige Bevölkerung der USA schnell wächst — zur großen Bestürzung solcher Staatsideologen wie Samuel Huntington.

Tariq Ali

(Übersetzung: Christoph Jünke)
Tariq Alis neues Buch "Piraten der Karibik. Die Achse der Hoffnung" erscheint im Februar 2007 auch auf deutsch.



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